Peters | Abschied | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Peters Abschied

Erzählung
3. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8353-0689-9
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection

Erzählung

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-8353-0689-9
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection



Es gibt wohl kaum intensivere Beziehungsgeflechte, als Familien dies sind. Krankheit und Tod eines Elternteils lassen die Macht und Wirksamkeit emotionaler Bindungen und Verbindungen ein letztes Mal in vollem Umfang zutage treten. Sabine Peters gibt dieser Erfahrung ihre sensible Sprache.

»Alle glücklichen Familien gleichen einander. Nur die unglücklichen sind jeweils auf ihre eigene Weise unglücklich.« Mit diesem Satz beginnt Tolstois Roman »Anna Karenina«.
Sabine Peters Erzählung variiert gewissermaßen dieses Thema: Wir alle verlieren eines Tages Vater und Mutter. Wir alle erleben diesen Abschied im Beziehungsgeflecht der Familie, aus der wir kommen. Aber den Schmerz des Verlusts erlebt jeder auf seine eigene Weise.
Sabine Peters erzählt das letzte Lebensjahr, Krankheit und Tod des sprachmächtig dominanten Vaters »Doktor Phil«. Seine Frau und die vier Töchter, von denen er immer nur als Eins, Zwei, Drei und Vier spricht, durchleben diese Zeit, mal näher, mal distanzierter. Immer aber ist es das gemeinsame Leben in der Familie, auf das der Blick fällt. Es sind die immergleichen quälenden Fragen, die allen Familienmitgliedern bis zum Überdruß bekannt sind. Und doch sind es diese Fragen, die noch am Lebensende gestellt werden.
Sabine Peters gelingt es in ihrer Erzählung, einer Familie Sprache zu geben. Überhaupt ist die Gefühlswelt dieser bürgerlichen Kleinfamilie eine Sprachwelt, die nach eigenen Regeln und Gewohnheiten funktioniert und die von der Autorin behutsam und genau nachgezeichnet wird.

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Abschied (S. 5)

Und er heißt Doktor Phil und schreit Mama, Mama. Langer langer Flur, in der neuen Wohnung der Eltern, Marie und die Mutter stehen in dicken Mänteln im Eingang der Wohnung. Mama, Mamska.

Hohes Rufen von hinten, vom Ende des Flurs, die Tür am Ende des Flurs zum Bad ist weit offen. Die Mutter läuft dorthin. Im Laufen wirft sie ihren Mantel ab, den Marie auffängt. Marie schüttelt Schneeregentropfen von Mutters Mantel. Die Badezimmertür schließt sich hinter den Eltern.

Mutters Stimme, nicht schlimm, ist zu verstehen, diesmal nicht schlimm. Das Rauschen von Wasser. Es fließt aus einem der Hähne, fließt, fließt, du packst schon aus, hat die Mutter im Laufen der Tochter gesagt. Käse in den Kühlschrank.

Gemüse in den Korb auf dem Balkon. Den Stollen für Weihnachten? Wahrscheinlich auch auf den Balkon. Nicht vergessen, den eigenen Mantel auszuziehen, aufzuhängen. Marie zupft die beiden Mäntel auf ihren Bügeln zurecht. Sonst tut es die Mutter. Warten, Lauschen. Und jetzt ist es ja wieder gut und jetzt gehst du ins Wohnzimmer und erholst dich vom Schreck in der Morgenstunde und bald gibt es Mittagessen, Papilio. Der Vater wankt durch den Flur.

Er trägt ein blütenweißes Oberhemd, darüber eine weinrote Weste, Kaschmir, die Hosen haben Bügelfalten. Er trägt graue Socken, schwarze Schuhe. So ist mein Junge anständig. Properes Kerlchen. Die Mutter redete sonst manchmal so. Früher. Neuerdings, jetzt im Winter, spricht sie wenig.

Sie hat sich aufs Horchen verlegt. Mutters Ohren. Mutters Ohren sind Federn, sind Flügel, die Mutter ist ein Vogel, fliegt auf, fliegt hoch, um ihren Jungen zu finden, ihren Mann. Sie findet den Vater überall.

Es sind nicht mehr viele Punkte verblieben, zu denen die Mutter fliegt in diesem Winter, im Dezember 2001. Alle Punkte heißen Rheinstraße. In der Rheinstraße heißen die Punkte Wohnzimmer, Eßzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad.

Der Vater liegt im Wohnzimmer auf seinem Sofa. Seine Augen sind geschlossen. Die Mutter rührt in der Küche in einem Topf. Marie deckt den Tisch. Es hat sich ergeben, daß die Mutter bei Tisch das Wort übernimmt. Tischvorsitz.

Der Vater krümmt sich auf seinem Stuhl. Seine Nase hängt fast im Teller. Das Hemd ist blütenweiß. An seiner Nase hängt ein Tropfen. Es ist alles anders. Neben dir, das Taschentuch! Der Ausruf der Mutter fliegt über den Tisch. Der Vater fährt zusammen.

Er greift nach dem Tuch. Marie nimmt noch mal Salat. Salat ist naß, er rutscht leicht. Alle drei stochern im Essen. Die Mutter strengt sich an, sie sagt, in der Stadt vorhin.

Der verrückte Bäcker am Markt. Der hat gehört, sie wollen den Luisenplatz aufreißen. Die Busse sollen wieder am Luisenplatz die Haltestelle haben. Der Vater legt den Kopf in die rechte Schulter zurück und sieht zu ihr auf.

Er zwinkert ihr zu. Eher ist es ein Blinzeln. Als hätte er Mühe, alles richtig zu sehen. Ja, sagt die Mutter, die Stadtverwaltung, sie lächelt den Vater an und schüttelt den Kopf.

Bekloppte Fußgängerzone. Auch Marie macht mit. In ihrer Schulzeit sind die Busse alle abgefahren ab Luisenplatz, anfangs, und irgendwann, vielleicht zu Abiturzeiten, ist es geändert worden.

Verrückter Städtebau. Eben, sagt die Mutter, hüh, hott. Fußgängerzone, Busse, mal so, mal so. Die wissen auch nicht, was sie wollen. Mit dem Luisenplatz. Sie beugt sich über den Tisch, nimmt Vaters Gabel.

Der Vater macht den Mund auf. Zwei Gabeln Bohnen, das schaffst du. Die Mutter fragt die Tochter, ob sie auf dem Markt am Obststand vorhin die dicke Alte an Krücken gesehn hat. Frau Müller. Deren Tochter ging mit Maries Schwester zur Schule. Wie hieß die Müllertochter. Marie und die Mutter besinnen sich.

Kein Name will kommen. Egal. Marie zerdrückt die letzte Kartoffel in Soße. Soße ist naß. Die Müllertochter jedenfalls. Die bei dem Vater das Abitur gemacht hat, die Mutter lächelt den Vater an, die Müllertochter sitzt inzwischen in der FDP, schreibt Reden. Oder war es die CDU? Pressereferentin in Berlin. Noch eine Gabel, bittet die Mutter den Vater, dann kannst du dich hinlegen.


Peters, Sabine
Sabine Peters, geb. 1961, studierte Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie in Hamburg. Nach einigen Jahren im Rheiderland lebt sie seit 2004 wieder in Hamburg. Neben Romanen, Erzählungen, Hörspielen schreibt Sabine Peters auch Essays und Kritiken. Sie wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, dem Clemens-Brentano-Preis, dem Evangelischen Buchpreis und dem Georg-K.-Glaser-Preis. 2016 erhielt sie den Italo-Svevo-Preis.



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