E-Book, Deutsch, Band 1, 168 Seiten
Reihe: Schutz-Los
Peter / Autorengemeinschaft Schutz-Los
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-9819837-2-2
Verlag: Cartagena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Literatur aus der JVA Tegel
E-Book, Deutsch, Band 1, 168 Seiten
Reihe: Schutz-Los
ISBN: 978-3-9819837-2-2
Verlag: Cartagena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Justizvollzugsanstalt Tegel dürfte zu den bekanntesten Gefängnissen der Republik gehören. Das ist vor allem der Größe geschuldet. Früher galt diese Aussage für die Anzahl der Gefangenen und die flächenmäßige Ausdehnung der Anstalt, heute nur noch für die Fläche.
Wofür sie allerdings gar nicht bekannt ist, sind ihre literarischen – sowohl schreibenden wie auch beschriebenen – Insassen. Das soll sich ändern!
Der Erlös des Buchs wird von den Autoren an Hilfsorganisationen gespendet. Wir bedanken uns für Ihr Interesse an diesem Projekt.
Zielgruppe
Für alle Leser, die sich dafür interessieren, was hinter den Gefängnismauern passiert. SCHUTZ-LOS – Literatur aus der JVA Tegel: Das sind Geschichten über Eindrücke und Empfindungen, die Inhaftierte zu Papier gebracht haben. Mal sind die Beiträge sehr emotional, geprägt von Wut und Resignation, ein andermal kommen sie rational als fiktive Geschichte oder Satire daher. Es sind Gedanken, die es dem Leser gestatten, in eine Welt abzutauchen, mit der er noch nie zu tun hatte. Der Eindruck, dies sei alles übertrieben, täuscht über die Realität hinweg. Sie ist viel schlimmer. Wer noch nie hier war, wird nicht glauben können, wie schutzlos die Menschen jenem System ausgeliefert sind, das sich doch die Rechtsstaatlichkeit auf die Fahne geschrieben hat. Der Verkaufserlös von SCHUTZ-LOS – Literatur aus der JVA Tegel wird von den Autoren an Hilfsorganisationen gespendet. Wir bedanken uns für Ihr Interesse an diesem Buch.
Weitere Infos & Material
Der Tankstellenüberfall
Er blickte in eine riesige, mit einem Ölfilm überzogene Pfütze. Kleine, ineinander übergehende Wellen bildeten ihre Kreise am Einschlagort der Regentropfen. Seit Tagen schon lag die Stadt, in der der Herbst Einzug gehalten hatte, im Nieselregen. Prüfend schaute er auf die beiden Armbanduhren an seinem Handgelenk. Viertel vor neun – eine halbe Stunde musste er noch an diesem Imbiss stehen bleiben. In der Dunkelheit besaß er von hier aus den besten Einblick in das Innere der Tankstelle. Der Imbiss würde um neun Uhr, pünktlich wie jeden Abend, geschlossen werden. Bereits jetzt stand der Verkaufswagen mit ihm als letzten Kunden wie vergessen da. Die Bedienung war mit dem Aufräumen und Putzen beschäftigt und somit abgelenkt. Dennoch bestellte er noch einen Becher schwarzen, süßen Kaffee. Als er seine Geldbörse aus der Innentasche seiner Lederjacke zog, spürte er die Waffe deutlich im Holster. Am Morgen zuvor hatte er die Walter PPK gründlich gereinigt, geölt, überprüft und durchgeladen gesichert in das von ihm getragene Lederholster gesteckt. Die Pistole verlieh seinem Wesen Sicherheit. Ein dunkelblauer BMW mit getönten Scheiben rollte die Auffahrt der Tankstelle empor und hielt an deren hinterem Ende auf einem Kundenparkplatz, wo zuvor schon eine junge Frau ihren olivgrünen VW Bus abgestellt hatte. Ein älterer Mann mit Koffer und Regenschirm verließ das Fahrzeug und lief vom Tankstellengelände. Die Imbissfrau klappte mit einem netten Abendgruß die Luken des Verkaufswagens herunter, und leichter Sprühregen fand von nun an seinen Weg auf den Kaffeetrinker. Nachdem die Bedienung ebenfalls das Tankstellengelände verlassen hatte, befanden sich dort nur noch der Tankwart und ein gerade bezahlender Opel-Kadett-Fahrer im Verkaufsraum. Der Mann zog seine Wollmütze tiefer ins Gesicht und entsicherte seine Waffe. Dann sah er auf die beiden Armbanduhren. Es war drei Minuten nach voll geworden. Weitere 12 Mal eine volle Umrundung des Sekundenzeigers warten zu müssen, veranlasste ihn erwartungsgemäß dazu, sich noch flott eine Zigarette anzustecken. Die Nerven lagen schon blank genug, um noch schmachten zu können. Im Schein der Feuerzeugflamme leuchtete kurz sein Gesicht auf. Plötzlich fiel dem Mann etwas über seine Schulzeit ein. Eigentlich hatte alles mit einer Zigarette begonnen! Heute rauchte er zwar noch dieselbe Marke, aber es handelte sich um andere Bargeldbeträge, als die der damaligen Klassenfahrtkasse. Ein Geräusch ließ ihn erschrocken aufhorchen und mit weit aufgerissenen Augen in den nasskalten Abend starren. Was war das gerade gewesen? Ein knackender Ast vielleicht oder doch eine Autotür?! Der Mann sah hochkonzentriert auf das vor ihm liegende Objekt. War da irgendwas oder hatte er doch einen Planungsfehler gemacht? Nein, da war nichts, entschied er schließlich, während er seine Zigarette unter seinem linken Stiefel begrub. Noch wenige Minuten und es galt: Der Tod des Tankwarts war unbedingt zu vermeiden. Sein Adrenalin stieg in die Höhe und er spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. Endlich schritt er zur Tat. Er betrat das Innere der Tankstelle, aus der kurz zuvor der Opelfahrer herausgekommen war. Der freundlich lächelnde Tankwart erstarrte, als der Mann die Waffe aus der Jacke zog, direkt auf ihn richtete und ihn aufforderte: "Keine Faxen. Das Ding ist so echt wie ich, und nun ab in den Tresorraum!" Unwillkürlich dachte der Tankwart an seine dreijährige Tochter und seinen siebenjährigen Sohn. Er folgte geschockt den Anweisungen der ihm gegenüberstehenden bedrohlichen Person, und während in ihm zum ersten Mal das Gefühl von Todesangst aufstieg, begriff er seine Situation ganz deutlich. Erst vor drei Wochen war er auf einem Fortbildungsseminar gewesen. Seine Mutter hatte ihn dort angemeldet. Sie war auch der Meinung, Verhaltensregelstudium bei Überfällen würde ein Vorkommnis wie bewaffneten Raub ausschließen. Darin hatte sie sich geirrt, doch nun wurden diese Verhaltensregeln wichtig. Der erste Seminarpunkt des Überfalltrainings lautete: Ruhe bewahren! Die Seminarleiterin hatte ihm damals allerdings keine Waffenmündung ins Gesicht gehalten und nur los, mach schnell! gehaucht. Irgendwie erschien dem Tankwart, der in die Opferrolle eingewiesen worden war, all das hier unwirklich und paradox. Während es im Tankstellenraum neonlichthell beleuchtet war, befanden sich im Büro daneben nur eine nicht allzu grelle Tischlampe und der Aufzeichnungsmonitor der Videokamera. Der Tankwart schloss den im Büro untergebrachten Tresor der Marke Trumpf auf – ein älteres Modell, ein Stahlkoloss ohne besonderen Zeitverzögerungs- oder Zahlenklimbim, einfach nur ein Stahlschrank mit Schloss. Nasser, kalter Schweiß lief dem Mann den Rücken herab, als er die schwere Tür aufzog. Dort lagen sie, säuberlich gestapelt, fast liebevoll sortiert, nach Größe und Farbe geordnet. Er selbst hatte regelmäßig nach Feierabend die Scheine dort hineingelegt. Es waren genau 93.000 DM. Der zweite Seminarpunkt war: Zuversicht bewahren! Der Täter musste direkt hinter ihm stehen und dennoch wagte der Tankstellenwart nicht, sich umzuschauen, sondern blickte starr auf die Geldscheine. Seine Angst wuchs. Ungläubig starrte auch der Mann mit der abgerollten Wollmütze über dem Gesicht und der Pistole in der Hand. Allerdings war sein Blick weder auf den vor ihm knienden Tankwart noch auf den Tresor gerichtet. Die Wirklichkeit der vor ihm aufgetauchten neuen Situation nahm ihn voll in Anspruch. Er war Profi im Erkennen von Gefahren verschiedenster Situationen und weilte deshalb immer noch unter den Lebenden. Jetzt musste er eine Entscheidung fällen. Sofort! Es blieb keine Zeit und es galt, den eigenen Tod zu vermeiden. Er drückte dem Tankwart die Pistole fest an den Hinterkopf, griff einige Bündel des Hundertmarkscheinstapels und ließ sie in der Jacke verschwinden. Dann zog er den Tankwart energisch hoch, stieß ihn zu einer anderen Tür und dahinter die Treppe hinunter. Als er die Tür zum Keller schloss, fiel sein Blick noch einmal auf den Monitor. Er sah, wie die SEK-Beamten aus dem grünen VW-Bus sprangen und sich, bis an die Zähne bewaffnet, an der Außenmauer des Tankstellengebäudes postierten. Im Dunkeln schob er den Tankwart die Kellerstufen hinab. Dieser war noch bei Punkt zwei des Seminars, während er die nächste Kellertür öffnete. Ein kurzer Blick reichte aus, dem Räuber den Weg zu zeigen. Er schloss die Stahlfeuerschutztür mit dem Schlüssel, der gerade noch auf der Eingangsseite gesteckt hatte, von innen zu. Dann schlug er im Dunkeln die Silhouette des Tankwarts mit einem wuchtigen Schlag nieder. Der Mann ging k.o. zu Boden. Scheiße, dachte sich der Räuber, während er auf ein Kellerfenster zustürmte und dabei über einen alten, ausgemusterten Haufen rotweißer Absperrkegel und einige Stapel Altreifen musste. Er öffnete das Kellerfenster in dem Augenblick, als die ersten SEK-Männer oben in der Tankstelle den Zugriff einleiteten. Nur noch ein alter, verrosteter Fensterschachtsteigrost versperrte dem Räuber den Weg. Er atmete tief durch. Scheiße, Scheiße, Scheiße, die Qualmerei und überhaupt das Lotterleben standen ihm vor Augen. Dennoch war er fit und hatte Ausdauer. Wenn jemand behauptet hatte, bumsen macht die Beine schlapp, hatte er immer nur gelächelt, mitleidvoll geschaut und gesagt: "Tja, musste halt mal deinen Schwanz benutzen!" Aber das war jetzt unwichtig. Hinter sich hörte er Geräusche. Es klang wie eine kleine, dumpfe Explosion. Waren die Bullen schon hier oder kam das vom niedergeschlagenen Tankwart? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Leise drückte er von unten gegen das letzte Hindernis, den Fensterlichtrost. Er legte all seine Kraft hinein. Das zur Sicherheit bereits vor langer Zeit angebrachte Vorhängeschloss war total verrostet. Glück, Fügung, Schicksal? Das spielte jetzt keine Rolle, denn das Schloss gab geräuschlos nach. Er schob das Gitter beiseite und konnte die Längswand der Tankstelle überschauen. Seiner Meinung nach befand sich die Polizei auf der anderen Seite. Er sah nur den Imbiss, der ihm seit einigen Wochen als Beobachtungs- und Ideengeber gedient hatte. Und genau dort lief nun ein vermummter Beamter. Es war der erste, den er real und nicht nur auf dem Monitor sah. Der Beamte lief in Richtung der Tanksäulen. Mehr instinktiv rollte sich der Räuber aus seiner Deckung und fing an, in die andere Richtung, vom Imbiss weg, zu rennen. Knapp zehn Meter entfernt standen Mülltonnen, über die er auf eine Mauer und von dort aus in den Hinterhof eines Getränkemarkts gelangte. Er rannte durch eine schmale Gasse, während die ersten Einsatzkräfte ebenfalls aus dem Kellerschacht auftauchten. Die Leuchtkegel ihrer Lampen strahlten in die Dunkelheit. Als bereits die erste Hilfe für das Opfer anlief, rannte der Räuber weiter, von Furcht getrieben und gehetzt wie ein Tier. Gedankenlos und ohne auch nur einen Blick hinter sich zu werfen, rannte er in eine Straße hinein und bog in andere ab. Karree für Karree. Allee für Allee. Er...