E-Book, Deutsch, Band 4, 480 Seiten
Reihe: Lars M. Johansson
Persson Eine andere Zeit, ein anderes Leben -
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-10647-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 4, 480 Seiten
Reihe: Lars M. Johansson
ISBN: 978-3-641-10647-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stockholm 1989, an einem Novemberabend: Ein Mann wird erstochen in einem Apartment aufgefunden. Das Opfer war ein Eigenbrötler, nicht besonders beliebt, ein kleiner Beamter in einer staatlichen Behörde. Die Ermittlungen laufen zunächst ins Leere - bis Kriminaldirektor Lars M. Johansson Hinweise findet, die in eine andere Zeit und in ein anderes Leben führen ...
Ausgezeichnet mit dem Schwedischen Krimipreis.
Leif GW Persson gilt als Großmeister der skandinavischen Kriminalliteratur. Persson, der lange Zeit als Profiler im Polizeidienst tätig war, ist Professor der Kriminologie, Medienexperte und seit mittlerweile 30 Jahren einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Er wurde mehrfach mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, daneben erhielt er den Dänischen und den Finnischen Krimipreis. Seine Romane stehen regelmäßig auf Platz 1 der Bestsellerliste und verzeichnen Millionenauflagen.
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I
Am Donnerstag, dem 24. April 1975, kam der Tod zur Bürozeit und hatte ungewöhnlicherweise die Gestalt von Frau und Mann gleichermaßen angenommen. Obwohl die Männer auch dieses Mal die überwiegende Mehrheit stellten. Der Tod war adrett und ordentlich gekleidet und verhielt sich zunächst höflich und zuvorkommend. Es war auch kein Zufall, dass sich der Botschafter an seinem Arbeitsplatz aufhielt, was sonst durchaus nicht immer der Fall war. Im Gegenteil, es war das Ergebnis sorgfältiger Planung und ein überaus wichtiger Teil der ganzen Unternehmung.
Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Schweden liegt in der Stockholmer Innenstadt auf Djurgården, und zwar seit Beginn der sechziger Jahre. In der Nordostecke des Gebietes, das allgemein als Diplomatenstadt bezeichnet wird, mit dem Rundfunk- und Fernsehgebäude und der norwegischen Botschaft als nächsten Nachbarn, und feiner kann es wohl kaum werden, wenn von Stockholmer Adressen die Rede ist. Das Botschaftsgebäude an sich ist nicht weiter der Rede wert. Der übliche triste Betonkasten im Stil der sechziger Jahre, drei Stockwerke und an die zweitausend Quadratmeter Bürobereich, der Eingang liegt auf der Nordseite im Erdgeschoss. Diese Botschaft gehört durchaus nicht zu den ehrenvollsten Auslandsposten, die das Bundesaußenministerium zu vergeben hat.
Auch das Wetter bot an dem Tag, an dem der Tod zu Besuch kam, keinen Grund zum Jubeln. Es war ein typisch schwedischer Frühlingstag mit scharfem Wind und rastlosen Wolken an einem zinngrauen Himmel, an dem die Verheißung besserer und wärmerer Zeiten wirklich nur zu erahnen war. Für den Tod aber waren es ideale Verhältnisse, und das Beste waren die fast nicht vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen in der Botschaft. Das Gebäude war leicht einzunehmen und zu verteidigen, es war jedoch schwer zu stürmen, und das Wetter konnten die Widersacher jedenfalls nicht als Gegenargument anführen, als es Zeit wurde, dieses Haus zu verlassen. Noch besser aber: ein einsamer und ziemlich erschöpfter Hausmeister in einer Rezeption, in der die Glastüren der Sicherheitsschleuse notfalls auch von Hand geöffnet werden konnten.
Irgendwann zwischen Viertel nach elf und halb zwölf Uhr morgens setzten die Geschehnisse ein, und dass sich kein genauerer Zeitpunkt feststellen ließ, liegt eben an den mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen. Egal. Innerhalb weniger Minuten betraten sechs Besucher in drei Gruppen von jeweils zwei Personen das Gebäude, junge Menschen zwischen zwanzig und dreißig, allesamt natürlich Staatsbürger der BRD, und alle brauchten in unterschiedlichen Angelegenheiten Hilfe.
In ihrem Heimatland waren sie allgemein bekannt. Ihr Steckbrief war auf tausenden von Fahndungsplakaten in der gesamten Bundesrepublik zu sehen. In Flughäfen, in Bahnhöfen und an Bushaltestellen, in Banken, Postämtern und so ungefähr an jedem öffentlichen Ort, wo an der Wand ein wenig Platz war, hingen ihre Gesichter. Sie hatten ihren Weg sogar in die Stockholmer Botschaft gefunden, unter anderem in einen Ordner, der in einer Schreibtischschublade in der Rezeption lag, was auch immer er dort zu suchen hatte, aber als sie nun auftauchten, wurden sie von niemandem erkannt, und die Namen, die zwei von ihnen nannten, waren nicht ihre eigenen.
Zuerst fanden sich zwei junge Männer ein, die Rat in einer Erbschaftsangelegenheit brauchten, bei der sowohl schwedische als auch bundesdeutsche Verhältnisse eine Rolle spielten, und dass es sich nicht um eine einfache Angelegenheit handelte, verriet ein Blick auf die voll gestopfte Aktentasche, die der eine mit sich herumschleppte. Der Pförtner teilte ihnen mit, wo der zuständige Botschaftsangestellte zu finden war, und ließ sie eintreten.
Gleich darauf erschien ein junges Paar, das seine Pässe verlängern wollte. Eine typische Routineangelegenheit, eine der allerüblichsten in der Botschaft, und die junge Frau lächelte den Pförtner freundlich an, als er für sie und ihren Begleiter die Tür öffnete.
Aber dann wurde die Sache komplizierter, denn jetzt tauchten zwei junge Männer auf, die eine Arbeitsgenehmigung für Schweden brauchten. Der Pförtner erklärte ihnen, dafür sei nicht die Botschaft zuständig, das sei eine Angelegenheit der schwedischen Behörden, doch statt auf ihn zu hören, beharrten sie auf ihrem Anliegen. Einer wurde sogar ziemlich laut, als der Pförtner die beiden nicht einlassen wollte, aber während sie noch dastanden und argumentierten, erschien ein Botschaftsangehöriger, der in der Stadt zu Mittag essen wollte, und passierte die Glastüren, und die beiden jungen Männer nutzten die Gelegenheit, um hineinzuschlüpfen und auf der Treppe zu den oberen Stockwerken zu verschwinden. Ohne darauf zu achten, dass der Pförtner hinter ihnen herrief und sie aufforderte, sofort zurückzukommen.
Jetzt ging alles sehr schnell. Die sechs Besucher sammelten sich auf dem Treppenabsatz vor der Konsulatsabteilung, vermummten sich und zogen Pistolen, Maschinenpistolen und Handgranaten hervor. Dann wurden die Räumlichkeiten von überflüssigen Besuchern und Personal befreit; einige einleitende Schusssalven an die Decke reichten aus, um diese Leute Hals über Kopf auf die Straße fliehen zu lassen, und die zwölf verbliebenen Angestellten wurden in die Bibliothek im obersten Stock getrieben. Mit militärischer Präzision und ohne irgendwelche Zeit mit Höflichkeiten zu vergeuden.
Um elf Uhr siebenundvierzig lief der erste Alarm mit der Meldung »Schusswechsel in der Botschaft der BRD« bei der Stockholmer Polizeizentrale ein und führte zu einem Großeinsatz. Ordnungspolizei, Kriminalpolizei, Streife, Gewaltsektion und Sicherheitspolizei, alle, die sich überhaupt auftreiben ließen, wurden herbeibefohlen, mit Blaulicht, Sirenen und kreischenden Reifen jagten sie zur Botschaft der BRD auf Djurgården, und der Alarm, der gegeben worden war, hatte eine klare Aussage. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland ist von Terroristen besetzt worden. Sie sind bewaffnet und gefährlich. Alle Polizisten werden zur größtmöglichen Vorsicht aufgefordert.
Eine Funkstreife aus dem Wachdistrikt Östermalm traf als Erstes vor Ort ein, und dass sie laut eingereichtem Bericht bereits um elf Uhr sechsundvierzig dort war, lag nicht daran, dass der Streifenführer Hellseher wäre, sondern einfach daran, dass seine Armbanduhr zwei Minuten nachging, als er die Zeit notierte, und wenn wir bedenken, was dann weiter geschah, ist das nun wirklich ein Irrtum, mit dem es sich leben lässt.
Schon um halb eins, nach etwa vierzig Minuten, hatte die Polizei die Botschaft umstellt, den Keller und die unteren Stockwerke gesichert, die Gegend um die Botschaft herum abgesperrt, um die rasch anwachsende Schar von Presseleuten und Gaffern zurückzudrängen, eine provisorische Einsatzzentrale eingerichtet und Ordnung in Funk- und Telefonverbindungen zu Polizeigebäude, Botschaft und Regierungskanzlei gebracht. Der Chef der Gewaltsektion, der den Einsatz leiten sollte, war eingetroffen, und er und seine Kollegen waren bereit zur Tat.
Die sechs jungen Leute in der Botschaft hatten auch nicht die Hände in den Schoß gelegt. Die zwölf Geiseln, zu denen der Botschafter gehörte, waren aus der Bibliothek in den Dienstraum des Botschafters in der Südostecke des Obergeschosses geführt worden, so weit fort vom Eingang wie überhaupt nur möglich. Einige der weiblichen Angestellten hatten helfen müssen, die Abfalleimer mit Wasser zu füllen und Waschbecken und Toiletten mit Papierhandtüchern zu verstopfen, um einen Gasangriff über das Leitungssystem zu verhindern. Zwei Terroristen brachten an strategischen Stellen im Obergeschoss Sprengladungen an, während die übrigen die Geiseln und die Tür zum Treppenhaus bewachten. Und mit all diesen Vorbereitungen waren sie ungefähr zu demselben Zeitpunkt fertig wie ihre Gegner.
Dann eröffneten die Terroristen die Partie mit einer schlichten und unmissverständlichen Forderung. Wenn die Polizei nicht sofort das Botschaftsgebäude verließe, würden sie eine Geisel erschießen. Der Chef der Gewaltsektion war keiner, der sich unnötig aufregte, und sein Selbstvertrauen war groß, um nicht zu sagen, grenzenlos. Außerdem war er anderthalb Jahre zuvor beim Norrmalmstorgdrama zugegen gewesen und hatte gelernt, dass sich, wenn der Geiselnehmer nur die Zeit hat, seine Geisel kennen zu lernen, die seltsamsten Gemeinschaftsgefühle entwickeln können, was zugleich das Risiko der Gewaltanwendung beträchtlich verringert. Diese interessante menschliche Mechanik hatte inzwischen sogar einen eigenen Namen erhalten, das »Stockholmsyndrom«, und im allgemeinen psychologischen Wirrwarr hatte niemand die Zeit gefunden, dem Umfang des empirischen Materials auch nur einen Gedanken zu widmen.
Der Chef der Gewalt glaubte deshalb, die Wissenschaft hinter sich zu haben, als er mitteilen ließ, er sei bereit, über die Angelegenheit zu reden. Nun aber zeigte sich, dass die Gegenseite mit anderer und härterer Münze zahlte, denn schon nach zwei Minuten hallten im Obergeschoss der Botschaft Schüsse wider. Dann wurde oben im Treppenhaus die Tür geöffnet, und der blutige und leblose Körper des Militärattachés wurde auf die Treppe geworfen, wo er auf dem mittleren Absatz liegen blieb. Als das geschehen war, nahmen die Terroristen abermals Kontakt auf.
Sie blieben bei ihrer Forderung. Wolle man die Leiche holen, dann sei das kein Problem, vorausgesetzt, diese Aufgabe werde höchstens zwei Polizisten übertragen, die nur mit Unterhose bekleidet waren. Was für ungewöhnlich unangenehme Menschen, dachte der Chef der Gewalt, der zugleich seinen ersten operativen Beschluss in einer Extremsituation fasste. Natürlich würden sie das Gebäude räumen. Natürlich würden sie den Leichnam...