E-Book, Deutsch, Band 2, 300 Seiten
Reihe: Tin Gypsys
Perry Riven Knight
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96782-011-9
Verlag: Sieben-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 300 Seiten
Reihe: Tin Gypsys
ISBN: 978-3-96782-011-9
Verlag: Sieben-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
So hatte sich Genevieve Daylee ihren siebenundzwanzigsten Geburtstag nicht vorgestellt. Allerdings kann sie seit dem Tod ihrer Mutter und deren Verbindung zu einem ehemaligen Motorradclub, kaum noch etwas schockieren. Nun steht sie vor einem Standesbeamten und neben ihr der Mann, der sie gerettet hat. Obwohl er ihr eher wie ein Raubritter vorkommt, als ein strahlender Prinz auf dem berühmten weißen Pferd. Isaiah Reynolds hat seine Gefängnisstrafe abgesessen und in Clifton Forge nicht nur einen Job, sondern auch ein Zuhause gefunden. Tief im Innersten glaubt er aber, dass er weder die Freiheit noch eine Frau wie Genevieve verdient hat. Dann ist es ja auch gut, dass ihre Ehe nur vorgetäuscht ist und nicht von Dauer. Doch die Liebe hat ihre eigenen Regeln und vielleicht sogar die Macht, zwei zerbrochene Seelen zu heilen.
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Kapitel 1
Genevieve
„Ich bin enttäuscht.“ Lieber hätte ich eine Ohrfeige kassiert. Gerade heute war es ganz besonders schwer und schmerzvoll, so etwas von Mr. Reggie Barker zu hören. Einem Mann, den ich als meinen Mentor und beruflichen Helden betrachtet hatte. „Es tut mir leid, Reggie.“ Mein Chef, oder besser ehemaliger Chef, seufzte am anderen Ende der Leitung. „So wie du uns verlassen hast, bin ich leider nicht in der Lage, dir ein Zeugnis auszustellen.“ Ich zuckte zusammen. „Oh. Okay.“ Reggie war der Meinung, dass eine Woche Kündigungsfrist, statt zwei, eine Frechheit sei. Da spielte es auch keine Rolle, dass ich fast vier Jahre bei ihm als Anwaltsgehilfin gearbeitet hatte. Dass ich morgens immer die Erste und abends immer die Letzte war. Es spielte keine Rolle, dass ich für den Eignungstest zum Jurastudium immer nur in meiner Freizeit gebüffelt hatte, während meine Kollegen und Kolleginnen das während der Arbeitszeit erledigten. Dass ich meine gesamte Arbeitszeit dafür verwendet hatte, Reggie zu assistieren. Ich hatte den Eignungstest viermal verschoben, denn Reggie betonte immer, ich müsste wirklich bereit dafür sein. Als hätte er nicht geglaubt, dass ich es schon war. Ich hatte ihm vertraut. Ich hatte seine Meinung mehr als die von allen anderen in der Firma geschätzt. Ich hatte alles gegeben, aber offenbar war das nicht genug. Ich war auch enttäuscht. Eigentlich hatte ihn heute nur angerufen, weil ich vergessen hatte, meinen Büroschlüssel abzugeben. Ich wünschte, ich hätte ihn per Post zurückgeschickt. „Alles Gute, Genevieve.“ Bevor ich mich bedanken konnte, legte er auf. Siebenundzwanzig zu sein war jetzt schon ein Desaster. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Genevieve. Ich legte das Handy zur Seite und sah aus dem Auto-fenster auf den Laden vor mir. Ich stand vor einer kleinen Klamottenboutique auf der Central Avenue. Es war der einzige Laden, der in Clifton Forge, Montana, Frauenmode führte, abgesehen von denen, die Farm- und Ranch-Zubehör verkauften. Clifton Forge. Meine Mutter war hier zur Schule gegangen. Meine Großeltern, Menschen, die ich nie kennengelernt hatte, waren hier bei einem Autounfall ums Leben gekommen und begraben. Vor sechs Wochen noch war Clifton Forge nichts weiter als eine Fußnote in meiner Familiengeschichte. Dann war Mutter hier bestialisch abgeschlachtet worden. In einem Motel. Jetzt war Clifton Forge nicht mehr nur ein schwarzer Fleck in der Vergangenheit, sondern für die absehbare Zukunft auch mein Zuhause. Ich sehnte mich nach meiner Wohnung in Denver. Nach den bekannten Straßen und Plätzen. Der Highway rief geradezu nach mir. Auf meiner Fahrt von Colorado hier her, war ich mehr als einmal versucht gewesen, umzudrehen und nie mehr zurückzuschauen. Abzuhauen und mich zu verstecken. Allerdings hatte ich einem vollkommen Fremden ein Versprechen gegeben. Einem Mann, den ich nur ein paar Stunden gekannt hatte. Und ich würde mein Wort nicht brechen. Nicht nach dem, was Isaiah für mich getan hatte. Hier war ich also, in Clifton Forge. Für Monate. Jahre. Jahrzehnte. So lange, wie es sein musste. Ich schuldete Isaiah diese Zeit. Das flaue Gefühl, das mich seit Tagen begleitete, wallte wieder auf und mir wurde übel. Ich schluckte dagegen an und wollte nicht darüber nachdenken, dass ich dazu verdammt war, mein Leben in Montana zu verbringen. Ich hatte nicht die Zeit gehabt, über Möglichkeiten und Konsequenzen von dem, was geschehen war, nachzudenken. Ich sollte Isaiah um zwölf Uhr treffen, was mir zwei Stunden Zeit verschaffte, mich bereitzumachen. Also drückte ich den Rücken durch, schob meine Nervosität beiseite und stieg aus dem Auto. Ich ging shoppen, weil ich mich weigerte, heute Jeans zu tragen. Letzte Woche hatte ich alles in meiner Wohnung in Denver zusammengepackt. Genau wie ich im Haus meiner Mutter getan hatte. Nur, dass es diesmal nicht so sehr in der Seele wehgetan hatte. Und doch hatte es geschmerzt und ich hatte geweint, wenn ich einen weiteren Karton schloss. Diese vielen Veränderungen und Verluste. Ich ertrank darin. Das meiste meiner größeren Habseligkeiten war in ein Lager gewandert. Ein paar Sachen befanden sich per Spedition auf dem Weg hier her. Den Rest hatte ich in meinen grauen Toyota Camry gestopft, mit dem ich gestern aus Colorado hergefahren war. Mental zu erschöpft, in dem Versuch, alles zu packen und meine letzte Arbeitswoche hinter mich zu bringen, hatte ich nicht daran gedacht, ein Kleid mitzunehmen. Vielleicht protestierte auch mein Unterbewusstsein gegen meine heutige Hochzeit. Aber ob ich es mochte oder nicht, diese Hochzeit würde stattfinden und ich würde keine Jeans tragen. Ganz besonders nicht an meinem Geburtstag. Ich hatte mir heute Morgen extra Mühe mit meinem Make-up gegeben. Hatte mir mein braunes Haar gewaschen und mit dem teuren Lockenstab, den mir meine Mutter letztes Jahr geschenkt hatte, zurechtgemacht. Es war ihr letztes Geburtstagsgeschenk an mich gewesen. Mein Gott, sie fehlte mir. Sie würde heute nicht an meiner Seite sein, wenn ich wohl den größten Fehler meines Lebens beging. Sie würde an keinem meiner zukünftigen Geburtstage mehr hier sein, denn ein abscheuliches und niederträchtiges menschliches Wesen hatte ihr das Leben genommen. Es war nicht fair. Meine Mutter war ermordet worden. Sieben Mal hatte man auf sie eingestochen und sie allein in einem Motel verbluten lassen. Sie hinterließ einen Rattenschwanz an unbeantworteten Fragen und Lügen, die ihr wunderschönes Andenken beschmutzten. Warum? Ich wollte es in den Himmel hinaus schreien, bis er mir eine Antwort gab. Warum? Ich war so wütend auf sie. Ich war unfassbar sauer darüber, dass sie mir ihre Geheimnisse nicht anvertraut hatte. Dass sie mir nicht von meinem Vater erzählt hatte. Dass ich jetzt, aufgrund ihrer falschen Entscheidungen, in diesem beschissenen kleinen Kaff war. Aber verflucht, ich vermisste sie. Heute mehr denn je wollte ich meine Mom haben. Tränen traten mir hinter der Sonnenbrille in die Augen und ich blinzelte sie fort, bevor ich die Modeboutique betrat. Ich setzte ein künstliches Lächeln auf, so wie ich es seit Wochen tat. „Guten Morgen“, begrüßte mich die Angestellte, als das Glöckchen an der Tür über meinem Kopf bimmelte. „Sehen Sie sich gern um, oder haben Sie einen Wunsch?“ „Tatsächlich ja, ich brauche ein Kleid und hohe Schuhe.“ Solche Schuhe würden schmerzen, denn meine Fußsohlen waren noch nicht verheilt von meiner barfüßigen Flucht durch die Berge. Aber das würde ich heute ertragen. „Oh, da habe ich vielleicht genau das Richtige.“ Sie trat vom Verkaufstresen weg, an dem sie einen Pullover zusammengelegt hatte. „Wir haben dieses wunderschöne dunkelgrüne Kleid gerade reinbekommen. Ich bin ganz vernarrt darin und es würde unheimlich gut zu Ihren Haaren passen.“ „Perfekt.“ Solange es nicht weiß war. Dreißig Minuten später war ich zu Hause. Ein Ausdruck, den ich nur locker dafür verwendete, denn meine vorübergehende Wohnung war ein beschissenes kleines Apartment über einer beschissenen Autowerkstatt, in einer beschissenen Kleinstadt, und es war ganz bestimmt kein Zuhause. Ich zog das neue ärmellose grüne Wickelkleid an und zupfte den V-Ausschnitt zurecht, sodass nicht zu viel vom Dekolleté zu sehen war. Dann musste ich mich im Bad auf die Zehenspitzen stellen, um mich im Spiegel sehen zu können. Wer auch immer diese vier Wände hier eingerichtet hatte, war offensichtlich völlig egal gewesen, wie er von der Taille abwärts aussah. Ich zog die nudefarbenen hohen Schuhe an und wünschte, ich hätte Zeit für eine Pediküre. Gab es überhaupt ein Nagelstudio in Clifton Forge? Ich wühlte in meiner Handtasche nach dem grellpinken Nagellack, den ich vor Wochen für Notfälle hineingeworfen hatte. Ich trug eine neue Schicht auf und ließ sie trocknen. Ich hatte jetzt so viele Lagen Nagellack auf den Fußnägeln, dass es einen Presslufthammer brauchen würde, sie wieder zu entfernen. Ich fuhr mir durchs Haar und trug Lippenstift auf. Aus der Werkstatt hörte ich Geräusche. Das Klimpern von Metall auf Metall. Das Brummen eines Kompressors. Gedämpfte Stimmen der Männer, die dort unten arbeiteten. Ich ging zu dem einzigen Fenster im Apartment und sah hinaus auf den Parkplatz. Dort stand fein säuberlich nebeneinander eine Reihe von glänzenden Motorrädern an der Seite des Grundstücks vor dem Maschendrahtzaun. Eins davon gehörte meinem Halbbruder. Und ein anderes meinem Vater. Er war Moms größtes Geheimnis. Eins, von dem ich nur erfuhr, weil sie gestorben war. Hätte sie mir irgendwann von ihm erzählt? Das spielte jetzt wohl kaum noch eine Rolle. Bis auf ein paar Mal als Kind und als frecher Teenager, hatte ich mich nie nach ihm erkundigt. Ich brauchte keinen Vater, denn ich hatte sie als...