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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 4, 464 Seiten

Reihe: Ein Fall für Gamache

Penny Lange Schatten

Der vierte Fall für Gamache
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70127-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der vierte Fall für Gamache

E-Book, Deutsch, Band 4, 464 Seiten

Reihe: Ein Fall für Gamache

ISBN: 978-3-311-70127-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anlässlich ihres 35. Hochzeitstages wollte Chief Inspector Armand Gamache von der Sûreté du Québec mit seiner Frau Reine-Marie ein paar ruhige Tage in dem fast schon überirdisch schönen Manoir Bellechasse verbringen, einem Hotel am See inmitten der kanadischen Wildnis. Doch dann reisen die zerstrittenen Finneys an, um zu Ehren des kürzlich verstorbenen Familienpatriarchen eine Statue zu errichten, die allerdings nach der Zeremonie umkippt und eine der Töchter unter sich begräbt. Der Drahtzieher hinter dem Anschlag muss im abgelegenen Manoir Bellechasse wohnen. Gamache blickt hinter die Kulissen des Hotels und beginnt Fragen zu stellen. Nicht alle Angestellten haben eine weiße Weste, und auch den Mitgliedern der Familie Finney mangelt es nicht an Motiven: Das tote Familienoberhaupt hatte einige dunkle Geheimnisse, und zwischen den Hinterbliebenen herrschen Eifersucht und Neid.

Louise Penny, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde 2005 weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten in zahlreichen Ländern. Louise Penny lebt in Sutton bei Que?bec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.
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1


Zu Beginn des Sommers fielen die Gäste in dem einsamen Haus am See ein, herbeizitiert von identischen Einladungen auf edlem Papier in Umschlägen, die von der allzu bekannten krakeligen Handschrift wie von einem Spinnennetz überzogen waren. Das schwere Bütten war durch die Briefschlitze herrschaftlicher Häuser in Vancouver und Toronto und eines bescheidenen kleinen Cottages in Three Pines geworfen worden und mit einem Plumps auf den Dielen gelandet.

Der Briefträger hatte sich Zeit gelassen, als er den Brief in seiner Tasche durch das kleine Dorf in Québec getragen hatte. Er sagte sich, dass es keinen Sinn hatte, sich bei dieser Hitze zu verausgaben, und er blieb stehen und nahm den Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Gewerkschaftsvorschrift. Aber der eigentliche Grund für seine Langsamkeit war nicht die stechende Sonne, es war etwas ganz Persönliches. In Three Pines trödelte er immer. Er spazierte langsam an den Staudenbeeten mit den Rosen, den Lilien und dem Fingerhut vorbei, der sich stolz in die Höhe reckte. Mit den Kindern suchte er den Teich auf dem Dorfanger nach Fröschen ab. Er setzte sich auf warme Natursteinmauern und sah dem Treiben in dem alten Dorf zu. Das verlängerte seinen Arbeitstag um Stunden, und er war stets der letzte Austräger, der zurück auf das Hauptpostamt kam. Die Kollegen machten sich deswegen über ihn lustig, und wahrscheinlich war das auch der Grund, dachte er, warum man ihn bislang noch nicht befördert hatte. Seit mehr als zwanzig Jahren ließ er sich nun Zeit. Statt sich zu beeilen, schlenderte er durch Three Pines und redete mit den Leuten, die ihre Hunde spazieren führten, oder er gesellte sich auf eine Limonade oder einen Eistee vor dem Bistro zu ihnen. Oder, im Winter, auf einen Milchkaffee vor dem knisternden Feuer im Kamin. Manchmal kamen die Dorfbewohner vorbei, wenn er im Bistro zu Mittag aß, holten sich ihre Post bei ihm ab und plauderten kurz mit ihm. Er brachte Neuigkeiten aus den anderen Dörfern, die auf seiner Route lagen, so wie ein fahrender Sänger im Mittelalter Neuigkeiten über Pest, Kriege oder Sturmfluten aus fernen Gefilden gebracht hatte. So etwas gab es hier, in diesem kleinen friedlichen Dorf, nie. In seiner Vorstellung war Three Pines, in ein Tal geschmiegt und von dichten Wäldern umgeben, von der Außenwelt abgeschnitten. Diesen Eindruck machte es jedenfalls. Es verschaffte einem eine Atempause.

So kam es, dass er sich immer Zeit ließ, wie auch an diesem Tag, an dem er einen Packen Umschläge in seiner schweißnassen Hand hielt und hoffte, dass er das schöne dicke Papier des zuoberst liegenden Briefs nicht ruinierte. Dann fiel sein Blick auf die Handschrift, und er ging noch ein wenig langsamer. Nach so vielen Jahren als Briefträger wusste er, dass er nicht nur Briefe überbrachte. Seine Route war gesäumt von Bomben, die er in Briefkästen und durch Briefschlitze geworfen hatte. Wundervolle Nachrichten: die Geburt eines Kindes, ein Lottogewinn, der Tod einer entfernten Erbtante. Aber da er ein guter und feinfühliger Mann war, wusste er, dass er auch schlechte Nachrichten überbrachte. Der Gedanke an den Schmerz, den er manchmal verursachte, brach ihm das Herz, besonders wenn es dieses Dorf betraf.

Er wusste, dass er etwas in der Hand hielt, das genau dazu und zu noch Schlimmerem führen konnte. Seine Gewissheit hatte wahrscheinlich nicht nur mit seinen telepathischen Kräften zu tun, sondern auch mit einer ihm nicht bewussten Begabung, Handschriften entziffern zu können. Sowohl die Worte als auch das, was ihnen zugrunde lag. Die schlichte, völlig normale dreizeilige Adresse auf dem Umschlag verriet ihm mehr als nur den Ort, an dem er den Brief abzugeben hatte. Die Hand war alt, dachte er, und sie hatte gezittert. Nicht nur wegen des Alters, sondern auch vor Wut. Von diesem Brief war nichts Gutes zu erwarten. Auf einmal wollte er ihn so schnell wie möglich loswerden.

Eigentlich hatte er vorgehabt, im Bistro vorbeizuschauen, ein kaltes Bier und ein Sandwich zu bestellen, mit Olivier, dem Besitzer, zu plaudern und, weil er heute ein wenig faul war, darauf zu warten, ob nicht jemand kam, um sich seine Post bei ihm abzuholen. Aber auf einmal war die Faulheit vergessen. Die erstaunten Dorfbewohner waren mit einem ungewohnten Anblick konfrontiert: ihrem Postboten, der es eilig hatte. Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt und ging mit entschlossenen Schritten weg vom Bistro, zu einem rostigen Briefkasten vor einem Cottage, das am Dorfanger stand. Die Klappe des Briefkastens quietschte erbärmlich, als er sie öffnete. Das verstand er gut. Er warf den Brief ein und ließ die Klappe schnell wieder zufallen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Briefkasten gewürgt und das verfluchte Ding wieder ausgespien hätte. Die Briefe waren für ihn zu Lebewesen geworden und die Briefkästen so etwas wie Haustiere. Und diesem Briefkasten hier hatte er eben etwas Schreckliches angetan. Genau wie den Leuten, denen er gehörte.

Selbst wenn Armand Gamache mit Blindheit geschlagen gewesen wäre, hätte er genau gewusst, wo er sich befand. Es war der Geruch. Die Kombination von Holzfeuer, alten Büchern und Geißblatt.

» und es ist mir eine Freude.«

Clementine Dubois watschelte um den Empfangstisch des Manoir Bellechasse, die Haut hing wie Flügel an ihren ausgebreiteten Armen herunter und zitterte, was sie wie einen Vogel oder einen lädierten Engel aussehen ließ, als sie zielstrebig auf sie zukam. Auch Reine-Marie Gamache streckte die Arme aus, nicht dass sie die dicke Frau ganz hätte umfassen können. Sie umarmten sich und küssten sich auf die Wangen. Nachdem auch Gamache Küsschen mit Madame Dubois ausgetauscht hatte, trat diese einen Schritt zurück und musterte das Paar. Vor ihr stand Reine-Marie, eine Frau in mittleren Jahren, klein, weder allzu beleibt noch allzu schlank, die Haare ergraut und ein Gesicht, in dem ein erfülltes Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Sie war attraktiv, ohne eigentlich hübsch zu sein. Ebendas, was man auf Französisch nannte. Sie trug einen gut sitzenden dunkelblauen Rock, der ihr bis zur Wade reichte, und eine frisch gebügelte weiße Bluse. Schlicht, elegant, klassisch.

Der Mann, Mitte fünfzig, war groß und kräftig. Er war zwar nicht dick, aber man sah ihm an, dass er gute Bücher, eine ausgezeichnete Küche und müßige Spaziergänge zu schätzen wusste. Er sah wie ein Professor aus, aber Clementine Dubois wusste, dass er das nicht war. Sein einstmals welliges dunkles Haar begann sich oben zu lichten und grau zu werden, besonders an den Schläfen und den Löckchen an den Seiten, die fast bis zum Kragen reichten. Bis auf den gepflegten Schnurrbart war er glatt rasiert. Er trug ein marineblaues Jackett, kakifarbene Hose und ein hellblaues Hemd mit Krawatte. Wie immer war er korrekt gekleidet, selbst in der zunehmenden Hitze an diesem Tag Ende Juni. Das Bemerkenswerteste an ihm waren allerdings seine Augen. Ein tiefes, warmes Braun. Ruhe und Gelassenheit umgaben ihn wie andere Männer eine Rasierwasserwolke.

»Sie sehen erschöpft aus.«

Die meisten Hotelbesitzer hätten gerufen: »Sie sehen fabelhaft aus.« » Sie haben sich kein bisschen verändert.« Oder sogar: »Sie sehen jünger aus denn je«, wohl wissend, dass alte Ohren niemals müde werden, das zu hören.

Aber auch wenn Gamaches Ohren noch nicht für alt gelten konnten, müde waren sie. Es war ein langes Jahr gewesen, und sie hatten mehr vernehmen müssen, als sie wollten. Wie immer waren die Gamaches ins Manoir Bellechasse gekommen, um all das hinter sich zu lassen. Während der Großteil der Menschheit das neue Jahr Anfang Januar feierte, begingen die Gamaches es im Sommer, wenn sie diesen von der Welt abgeschiedenen Ort aufsuchten und neu begannen.

»Wir sind tatsächlich etwas erschöpft«, gab Reine-Marie zu und ließ sich dankbar in den bequemen Sessel neben dem Empfangstisch sinken.

»Darum werden wir uns schon kümmern.« Madame Dubois kehrte mit ein, zwei schnellen Schritten zu ihrem Tisch zurück und ließ sich mit einer eleganten Drehung auf ihrem Armlehnstuhl nieder. Sie zog das Meldebuch zu sich heran und setzte ihre Lesebrille auf. »So, in welches Zimmer haben wir Sie denn dieses Jahr gesteckt?«

Armand Gamache setzte sich neben seine Frau, und sie wechselten einen Blick. Würden sie in diesem Buch zurückblättern, dann fänden sie Jahr für Jahr ihre Unterschriften, bis zu einem Juni vor dreißig Jahren, als der junge Armand genug Geld gespart und Reine-Marie hierhergebracht hatte. Für eine Nacht. In das allerkleinste, nach hinten gelegene Zimmer des eleganten, ehrwürdigen Manoir. Ohne Blick auf die Berge oder den See oder den Garten mit den üppigen Pfingstrosen und den früh blühenden Rosen. Er hatte monatelang gespart, weil er wollte, dass dieser Besuch etwas Besonderes wurde. Weil er wollte, dass Reine-Marie wusste, wie sehr er sie liebte, wie viel sie ihm bedeutete.

Hier hatten sie ihre erste gemeinsame Nacht verbracht, der süße Geruch des Waldes, des Thymians und Flieders war in so dichten Wolken durch das Fenster ins Zimmer geströmt, dass man glaubte, ihn greifen zu können. Den betörendsten Duft aber hatte sie verströmt, frisch und warm in seinen starken Armen. In dieser Nacht hatte er ihr einen Liebesbrief geschrieben. Er hatte sie vorsichtig mit dem glatten weißen Laken zugedeckt, dann hatte er sich in den Schaukelstuhl gesetzt, natürlich ohne zu schaukeln, weil er fürchtete, dass er gegen die Wand hinter ihm oder mit den Schienbeinen an das Bettgestell vor ihm stoßen und Reine-Marie stören könnte, und ihren ruhigen Atemzügen gelauscht. Dann hatte er auf dem Briefpapier des...


Penny, Louise
Louise Penny, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde 2005 weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten in zahlreichen Ländern. Louise Penny lebt in Sutton bei Que´bec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.



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