E-Book, Deutsch, Band 7, 480 Seiten
Reihe: Ein Fall für Gamache
Penny Bei Sonnenaufgang
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70214-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der siebte Fall für Gamache
E-Book, Deutsch, Band 7, 480 Seiten
Reihe: Ein Fall für Gamache
ISBN: 978-3-311-70214-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Louise Penny, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde 2005 weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten in zahlreichen Ländern. Louise Penny lebt in Sutton bei Que?bec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.
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1
, dachte Clara Morrow, als sie auf die geschlossenen Türen zuging.
Sie sah schemenhafte Schatten, die hinter den Milchglasscheiben wie Gespenster hin und her huschten, hin und her. Auftauchten und verschwanden. Verzerrt und dennoch menschlich.
Schon den ganzen Tag waren ihr diese Worte durch den Kopf gegangen, tauchten sie auf und verschwanden. Ein halb erinnertes Gedicht. Worte trieben an die Oberfläche, gingen wieder unter. Der Rest des Gedichts wollte ihr partout nicht einfallen.
Wie lautete das ganze Gedicht?
Es schien wichtig zu sein.
Die verschwommenen Gestalten am anderen Ende des langen Flurs schienen aus etwas Flüssigem zu bestehen oder aus Rauch. Sie waren da und auch wieder nicht. Flüchtig. Fliehend.
Sie wäre auch gerne geflohen.
Das war’s. Das Ende der Reise. Nicht nur der Reise, die sie und ihr Mann Peter an diesem Tag unternommen hatten, als sie von ihrem kleinen Dorf in Québec nach Montréal zum Musée d’art contemporain aufgebrochen waren, das ihnen so vertraut war. Wie oft waren sie ins MAC gegangen und hatten sich mit großen Augen eine Ausstellung angesehen. Weil sie sich einem Freund, einem Künstlerkollegen, verpflichtet fühlten. Oder um sich still in das elegante Museum zu setzen, an einem Wochentag, wenn der Rest der Stadt zur Arbeit gehen musste.
Ihre Arbeit war die Kunst. Aber es war mehr als das. Sie konnten nicht anders. Warum sonst sollten sie die langen Jahre der Einsamkeit auf sich nehmen? Die Misserfolge? Das Schweigen einer irritierten oder sogar ablehnenden Kunstwelt?
Tag für Tag hatten sie und Peter in ihren kleinen Ateliers gearbeitet, in dem kleinen Dörfchen, in dem sie ihr kleines Leben führten. Zufrieden und dennoch mit dem Wunsch nach mehr.
Clara ging ein paar Schritte weiter den langen weißen Marmorflur hinunter.
Dort war das »Mehr«. Hinter diesen Türen. Endlich. Das Ziel von allem, auf das sie hingearbeitet hatte, auf das sie ihr ganzes Leben lang zugegangen war.
Am anderen Ende dieses nüchternen weißen Flurs lag ihr erster Kindheitstraum, ihr letzter Traum an diesem Morgen, beinahe fünfzig Jahre später.
Beide hatten sie erwartet, dass Peter als Erster durch diese Türen treten würde. Mit seinen exquisiten naturalistischen Studien war er der sehr viel erfolgreichere Künstler. Er ging so nah an einen Ausschnitt heran und arbeitete ihn so detailliert aus, dass die natürliche Welt verfälscht und abstrakt wirkte. Nicht wiedererkennbar. Peter nahm etwas Natürliches und ließ es unnatürlich erscheinen.
Die Leute stürzten sich darauf. Gott sei Dank. Dadurch hatten sie beide etwas zu essen auf dem Tisch, und die Wölfe, die ständig um ihr kleines Haus in Three Pines kreisten, ließen sich von der Tür fernhalten. Dank Peter und seiner Kunst.
Claras Blick fiel auf ihn. Er ging mit einem Lächeln auf dem attraktiven Gesicht einen Schritt vor ihr. Wer die beiden nicht kannte, würde kaum glauben, dass sie verheiratet waren. Vielmehr würde man eine superschlanke leitende Angestellte mit einem Weißweinglas in der eleganten Hand an seiner Seite vermuten. Ein Beispiel für natürliche Auslese. Dafür, dass sich Gleiches zu Gleichem gesellte.
Der angesehene Künstler mit dem vollen grauen Haar und den edlen Zügen konnte unmöglich diese Frau mit dem Bier in den Wurstfingern auserwählt haben. Mit in dem krausen Haarschopf. Und mit dem Atelier voller Gemälde von geflügelten Kohlköpfen und Skulpturen aus alten Traktorteilen.
Nein. Peter Morrow konnte sie nicht auserwählt haben. Das wäre wider die Natur.
Und doch hatte er es getan.
Und sie hatte ihn auserwählt.
Clara hätte gelächelt, hätte sie nicht das Gefühl gehabt, sich gleich übergeben zu müssen.
, dachte sie wieder, während sie zusah, wie Peter entschieden auf die geschlossenen Türen und die Kunstgespenster zusteuerte, die nur darauf warteten, endlich ihr Urteil zu verkünden. Über sie.
Claras Hände wurden kalt und taub, während sie langsam weiterging, angetrieben von einer unleugbaren Kraft, einer kruden Mischung aus Aufgeregtheit und Angst. Beinahe wäre sie zu den Türen gerannt, hätte sie aufgerissen und gebrüllt: »Da bin ich!«
Noch stärker aber war der Drang, sich umzudrehen und zu fliehen, sich zu verstecken.
Den langen Flur voller Licht und Kunst und Marmor zurückzustolpern. Einzugestehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die falsche Antwort gegeben hatte, als man sie fragte, ob sie eine Einzelausstellung haben wolle. Im Musée. Als man sie fragte, ob sie all ihre Träume Wirklichkeit werden lassen wolle.
Sie hatte die falsche Antwort gegeben. Sie hatte Ja gesagt. Und damit hatte sie sich das hier eingebrockt.
Jemand hatte gelogen. Oder ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt. In ihrem Traum, den sie seit ihrer Kindheit immer wieder im Geist durchgespielt hatte, hatte sie eine Einzelausstellung im Musée d’art contemporain. Sie ging den Flur hinunter. Aufrecht und gelassen. Schön und schlank. Geistreich, umworben.
In die ausgestreckten Arme einer bezauberten Welt.
In dem Traum gab es keine Angst. Keine Übelkeit. Keine Gestalten, die durch Milchglasscheiben starrten und darauf warteten, ihr an die Kehle zu gehen. Sie zu zerfetzen. Sie und ihr Werk zu vernichten.
Jemand hatte gelogen. Hatte nicht gesagt, dass etwas anderes auf sie warten könnte.
Misserfolg.
, dachte Clara.
Wie lautete der Rest des Gedichts? Warum fiel er ihr nicht ein?
Sie war nur noch ein paar Schritte vom Ziel ihrer Reise entfernt, und alles, was sie wollte, war, nach Three Pines zu fliehen. Das Gartentürchen zu öffnen. Den Weg zwischen den blühenden Apfelbäumen entlangzulaufen. Die Haustür hinter sich zuzuwerfen. Sich dagegenzulehnen. Sie zu verriegeln. Sich mit dem Körper dagegenzustemmen und die Welt draußen zu halten.
Jetzt, wo es zu spät war, wurde ihr klar, wer sie belogen hatte.
Sie selbst.
Claras Herz klopfte heftig gegen ihre Rippen, als wäre es dahinter eingesperrt und als versuchte es verschreckt und verzweifelt zu entkommen. Sie merkte, dass sie den Atem anhielt, und fragte sich, wie lange schon. Hektisch holte sie Luft.
Peter sagte etwas, aber seine Stimme klang gedämpft, wie aus weiter Ferne. Sie wurde übertönt von dem Kreischen in ihrem Kopf und dem Hämmern in ihrer Brust.
Und den Geräuschen, die hinter den Türen immer lauter wurden. Während sie sich ihnen näherten.
»Du wirst es genießen«, sagte Peter mit einem beruhigenden Lächeln.
Claras Hand öffnete sich, und sie ließ ihre Handtasche fallen. Leise traf sie auf dem Boden auf. Außer einem Pfefferminzbonbon und dem winzigen Pinsel aus dem Malen-nach-Zahlen-Set, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte, war nichts darin.
Clara kniete sich hin und tat so, als würde sie unsichtbare Sachen aufsammeln und in die Handtasche stopfen. Mit gesenktem Kopf versuchte sie, ihren Atem zu beruhigen, und fragte sich, ob sie ohnmächtig werden würde.
»Tief einatmen«, hörte sie eine Stimme. »Tief ausatmen.«
Clara sah von der auf dem glänzenden Marmorboden liegenden Tasche hoch zu dem Mann, der sich über sie beugte.
Es war nicht Peter.
Es war Olivier Brulé, ihr Freund und Nachbar aus Three Pines. Er kniete sich neben sie und sah sie mit freundlichen Augen an, ein Blick wie ein Rettungsring, der einer Ertrinkenden zugeworfen wurde. Sie hielt sich daran fest.
»Tief einatmen«, flüsterte er. Seine Stimme war ruhig. Das hier war ihre gemeinsame Krise. Aus der sie sich gemeinsam retten würden.
Sie atmete tief ein.
»Ich schaff das nicht.« Clara beugte sich vor, sie fühlte sich schwach. Die Wände kamen näher, und sie starrte auf Peters blank polierte schwarze Lederschuhe vor ihr auf dem Boden. Als er endlich bemerkt hatte, dass seine Frau zurückgeblieben war und auf dem Boden kniete, war er stehen geblieben.
»Ich weiß«, flüsterte Olivier. »Aber ich kenne dich. Du wirst es durch diese Tür schaffen, ob auf Knien oder aufrecht.« Er deutete mit dem Kopf zum Ende des Flurs, ohne die Augen von ihr abzuwenden. »Warum also nicht aufrecht?«
»Aber es ist noch nicht zu spät.« Clara sah ihn erwartungsvoll an. Sah seine seidigen blonden Haare und die Falten, die man nur aus der Nähe erkannte. Mehr Falten, als ein achtunddreißigjähriger Mann haben sollte. »Noch könnte ich umdrehen und nach Hause gehen.«
Oliviers freundliches Gesicht verschwand, und wieder sah sie ihren Garten vor sich, so wie sie ihn an diesem Morgen gesehen hatte, als die Sonne den Nebel noch nicht ganz aufgelöst hatte. Unter ihren Gummistiefeln der Tau. Die frühen Rosen und späten Pfingstrosen feucht und duftend. Sie hatte sich auf die Holzbank hinter dem Haus gesetzt, in der Hand einen Becher Kaffee, und an den vor ihr liegenden Tag gedacht.
Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass sie vor Angst zusammenbrechen könnte. Am liebsten weglaufen würde. Zurück in ihren Garten.
Aber Olivier hatte recht. Sie würde nicht weglaufen. Noch nicht.
. Sie musste durch diese Tür gehen. Nur durch sie kam sie jetzt noch nach Hause.
»Tief ausatmen«, flüsterte Olivier und lächelte sie an.
Clara lachte und atmete aus. »Du würdest eine gute Hebamme abgeben.«
»Was treibt ihr denn da unten?«, fragte Gabri und betrachtete Clara und seinen Lebensgefährten. »Was Olivier in dieser...