E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Reihe: Edition Blau
Pellegrino Atlas Hotel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-85869-721-9
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Reihe: Edition Blau
ISBN: 978-3-85869-721-9
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Als Twentysomething muss man heute die Welt sehen. Ein Einsatz bei einer Hilfsorganisation führt den Erzähler in die Hauptstadt von Madagaskar. Dort erwartet ihn ein Leben abgeschottet in the middle of nowhere, ohne Freundin, ohne Facebook, und im Büro wird er bestenfalls zum Kopieren abgestellt. Schockiert von der Armut und dem Chaos im Land stellt er sich bald die Frage, was er eigentlich in Madagaskar verloren hat. Bruno Pellegrino schickt seine Protagonisten ans andere Ende der Welt. Auch die Reise Moskau - Peking - Tokio, diesmal in Zweisamkeit, wird kein reiner Abenteuertrip. Die tagelange Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn vermag noch in Trance zu versetzen, die asiatischen Metropolen aber erweisen sich als Monster, die das Paar überfordern, schließlich sogar zerreißen. - Ein rückhaltloser, welthaltiger erster Roman!
Bruno Pellegrino ist 1988 geboren und lebt in Lausanne. Studium der Literaturwissenschaften, längere Aufenthalte in den USA, in Berlin und Venedig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. Für seine Novelle L'idiot du village (2011) wurde er mit dem Prix du jeune écrivain ausgezeichnet. Pellegrino ist Mitbegründer von AJAR, einer Gruppe junger Autorinnen und Autoren in der Romandie. Atlas Hotel ist sein erster Roman. Lydia Dimitrow, geboren 1989, lebt als Songschreiberin, freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. 2012 ist ihre Übersetzung von Isabelle Flükigers Bestseller im Rotpunktverlag erschienen.
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Eins der ersten Dinge, die Madame Andrissa ihm eingebläut hatte, war: Sei auf der Hut, ganz besonders vor den Frauen, du bist jung, sie werden versuchen, dich zu verführen, hier will jeder gerettet werden. Einen Monat ist das her; das weiß er, weil er die Tage zählt und weil sein Visum bald abläuft. Um es zu verlängern und sich die Zeit bescheinigen zu lassen, die er aus freien Stücken dieser Erfahrung widmet, muss er in die Stadt. Madame Andrissa ist weiterhin dagegen, dass er den Bus nimmt, und schlägt vor, dass ihn ein Freund von ihr zum Ministerium fährt. Dieser wartet am verabredeten Morgen pünktlich hinter dem Gittertor neben einem Motorroller. Er ist stämmig, auf dem massigen Hals sitzt ein rasierter, terrakottafarbener Schädel mit orientalischen Zügen, er lächelt, aber seine kräftigen Arme lassen darauf schließen, dass man sich nicht mit ihm anlegen sollte. Er schwingt sich auf seine Maschine und rückt seinen Helm zurecht; ganz offensichtlich gibt es keinen für den Mitfahrer. Sie fahren los. Und wo der Jeep von Madame Andrissa eine Schneise schlug und das Verkehrsgetümmel seinen Gesetzen unterwarf, haben sie auf dem Roller das Nachsehen, sie fügen sich ein in den dichten Strom aus alten Autos, überfüllten Minibussen, angeschirrten Zebus mit ihren unter dem Joch gesenkten Köpfen, aus all den Vehikeln, die von überall gleichzeitig auftauchen und sie zu einem wilden Slalom zwingen. Während sie sich so durch die winzigen Lücken zwischen Handkarren und gigantischen Schlaglöchern schlängeln, klammert er sich fest, um nicht beim nächsten Ausweichmanöver, an einer steilen Steigung oder in einer verwinkelten Straße vom Sitz zu rutschen, er presst die Beine zusammen, damit er nicht mit dem Knie an einer Stoßstange hängen bleibt. Plötzlich gibt es wieder Luft im Gedränge: Sie sind am Fuße des Hangs angekommen, an einem Kreisverkehr, wo der Verkehr sich neu verteilt und flüssiger wird. Sie biegen auf eine gerade, zweispurige Straße ab, die über einen spiegelglatten See führt, sie haben freie Fahrt, der Roller beschleunigt, überholt rechts und links, und er hinten starrt auf die Leitplanke und denkt, dass das Metall bei dieser Geschwindigkeit wohl keine Gnade kennt. Auf der anderen Seite des Wassers sieht man ein Hochhaus, noch im Bau, eine goldene Moschee, zu heruntergekommen, um imposant zu wirken, und gleich da den Jumbo; dann, ja dann, kommt der Bahnhof, Tananarive steht in weißen Lettern auf dem Frontgiebel, unter der großen Uhr mit dem römischen Zifferblatt. Das Innenministerium ist ein grauer Kasten, der so aussieht, wie man sich einen sowjetischen Palast vorstellt. Am Empfang warten Leute auf klapprigen Sitzen, aber die Schalter sind nicht besetzt. Er lässt ein paar Minuten verstreichen. An die Wand ist ein Plakat gepinnt: »Stopp dem Sextourismus«. Weil sich nichts tut, tritt er in einen Gang und klopft auf gut Glück. Er wird herablassend angesehen und in Verwaltungsfranzösisch zum Nebengebäude geschickt. Als er Genaueres wissen will, heißt es: Ja, wie gesagt, im Haus hinter dem Hauptgebäude. Er geht wieder raus, zweimal um die Ecke und entdeckt mitten im Freien unter einer Blechüberdachung den Schalter. Eine mürrische Dame reicht ihm ein paar Papiere und sagt, er solle bitte die Liste mit den benötigten Dokumenten abschreiben. Das tut er, dann kehrt er zurück zu seinem muskulösen Chauffeur, der auf den Roller gestützt in der Sonne auf ihn wartet. In vollem Tempo rasen sie durch die Stadt, vorbei an Holzhäusern, überragt vom Königspalast und den bunten Gebäuden auf den Hügeln. Wären da nicht das Dächermeer und die Jacarandas, würde sich das in Hollywoodlettern am Felsen prangende ANTANANARIVO in dem runden See spiegeln, an dessen Ufer sie entlangfahren – künstlich, erklärt ihm das Muskelpaket, genau wie die Insel in der Mitte, auf der sich eine Engelsstatue erhebt, da treiben sich Junkies, Nutten und Gangster rum, sagt er, der Engel der Insel ist ein Engel des Todes. Als die ersten schwarzen, luftverschmutzten Tropfen fallen, hebt er den Kopf, und in genau diesem Moment ist es so weit, er ist angekommen. Sie fahren durch schmutzige, überfüllte Straßen – Ruß auf den Menschen und den Dingen –, am Straßenstrich vorbei. Im Arbeitsministerium sagt man ihm, dass er an der falschen Adresse sei, dass man solche Anträge hier gar nicht bearbeite, man schickt ihn zum EDBM. Er verzichtet darauf, die Abkürzung zu entschlüsseln, das Muskelpaket weiß Bescheid, sie müssen in die Oberstadt. Als sie am Präsidentenpalast vorbeikommen, erklärt ihm sein Chauffeur, dass hier vor drei Jahren der Putsch stattfand. Er hält an, mit einem Fuß auf dem Bordstein, und zeigt ihm die Einschusslöcher in den Laternen; ein paar bewaffnete Soldaten bedeuten ihnen, sich zu trollen. Die Empfangsdame im EDBM – Pausbacken, rote Nägel, goldenes Haar – sagt, ja, sicher, sie schaue, was sie tun kann, er müsse nur diese Dokumente kopieren: Sie reicht ihm einen Stapel; nach kurzem Durchblättern erkennt er, dass es nicht das ist, was er braucht, aber die Dame versichert ihm, doch, doch, und schickt ihn in eine lutherische Buchhandlung – die würde über einen Kopierer verfügen. Als alle Papiere in der richtigen Anzahl vorliegen, bittet ihn die Empfangsdame, seinen Pass abzugeben und hochzugehen, um mit Madame Éliane zu sprechen – Bluse, Pumps –, die ihm sofort sagt, nein, entschuldigen Sie, Monsieur, hier liegt ein Irrtum vor, Sie müssen zum Ministerium für zivile Angelegenheiten, vierte Etage, warten Sie, ich schreibe es Ihnen auf. Er holt seinen Pass wieder ab und pfeffert seinen Stapel Kopien wutschnaubend auf die Tastatur der Pausbacke. Au revoir, Madame. Danach kamen noch mehr verwinkelte Straßen, durchgeschüttelte Kilometer, stinkende Kanäle, lange, fensterlose Gänge mit abgewetztem Teppichboden, beigefarbene Wände, Türen ohne Schilder – massenhaft Papierkram, nur für eine einzige Bescheinigung, die wiederum nur ein einziger Punkt auf der langen Liste des Innenministeriums war. Es kamen noch mehr kahle, quadratische Büros, manche dürften auch schon zu Kolonialzeiten so ausgesehen haben, mit einem Vorhang anstelle der Tür, grün und gelb gestrichenen Wänden, Angestellten, die auf antiken Schreibmaschinen tippen, ein Blatt Kohlepapier zwischen zwei Dokumentseiten. Er verstand, dass hier die Zahl der Ministerien so groß ist wie die Zahl der Götter in der Antike, dass sie Tempel sind, deren Rituale er kaum begreift, dank deren Gnade er sich aber trotz des ganzen Hin und Her irgendwie eingeweiht fühlt. Auf dem Rückweg halten sie bei einem Fotografen, mit dem Resultat, dass von nun an vier Passfotos von ihm existieren, schlecht rasiert, mit dunklen Augenringen, fettigen Haaren, geröteter Haut – seine Visage eben; aber etwas ist anders, die Stadt hat in ihm eine Neugier, eine Lust geweckt, das sieht man. Als sie sich verabschieden, erklärt das Muskelpaket noch, dass Antananarivo »die Stadt der Tausend« bedeute. Erst später fragt er sich, der tausend was. Seine Arbeit in der Organisation ist weiterhin frustrierend. Wenn er bleibt, dann nur, weil er sich einen Augenblick lang als Teil einer globalen Verantwortung sah und weil man ihn so leicht nicht kleinkriegt. Und außerdem, was soll er sonst machen? Zurück nach Europa gehen, zu ihr zurückkriechen – die vielleicht auf ihn wartet, die zumindest auf seine Nachrichten antwortet, du fehlst mir, Kuss? Das hieße, tief zu sinken, und das ist keine Option. Vielleicht bleibt er auch Madame Andrissa zuliebe. Diese Frau ist ihm ein Rätsel, mal einsilbig, mal redselig, manchmal sieht er sie tagelang nicht, dann wieder ruft sie ihn ohne jeden Anlass in ihr Büro, und sie reden stundenlang. Er sieht, dass sie einmal schön war, es noch immer ist, denkt, dass sie damit gespielt hat und noch immer spielt. Seit einem Monat ist er da und kann sie nicht einordnen, er bringt diese beiden Frauen nicht zusammen: Da ist die eine, die sich in einer von Männern und von Korruption dominierten Welt unverdrossen durchgebissen hat, um sich etwas aufzubauen, die Europa gesehen hat und zurückgekommen ist, die die Faust schwingt, wenn sie von Politik redet (von dieser Situation, die ihr zufolge immer weiter ausartet, auch wenn er davon nichts mitbekommt), und dann ist da diese andere, die all die Dinge aufzählt, vor denen er Angst haben sollte, ihn vor Taschendieben warnt, vor Betrügern, Spionen, vor Mädchen, falschen Freunden, Profitjägern, vor den Armen, den Satten und den Hungrigen, die ihm einbläut, stets wachsam zu sein, und ihn ganz krank vor Misstrauen macht – und wenn du hier krank wirst, hatte sie ihm entgegengeschleudert, dann stirbst du. Eines Abends, er ist gerade unter der Dusche, zuckt er zusammen, als der Strom ausfällt – die plötzliche Dunkelheit, die Seife in den Augen, das versiegende Warmwasser. Als das Licht wiederkommt,...