E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Reihe: Phönix
Peinkofer Phönix
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99601-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sintflut
E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Reihe: Phönix
ISBN: 978-3-492-99601-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Peinkofer, 1969 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete als Redakteur bei der Filmzeitschrift »Moviestar«. Mit seiner Serie um die »Orks« avancierte er zu einem der erfolgreichsten Fantasyautoren Deutschlands. Seine Romane um »Die Zauberer« wurden ebenso zu Bestsellern wie seine Trilogie um »Die Könige«. Mit »Die Legenden von Astray« führt Michael Peinkofer alle Fantasy-Fans in eine neue Welt.
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3
Von ihrem Platz aus, die Handgelenke an die Armlehnen des Sitzes gefesselt, konnte Callista durch eins der runden Sichtfenster des Airoskaphs spähen.
Im Vordergrund, durchsichtig und wegen der Wölbung des Glases seltsam verzerrt, sah sie ihr eigenes Spiegelbild – ein blasses Gesicht, das von wirrem kastanienbraunem Haar umrahmt wurde. Die blauen Augen, die ihr daraus entgegenblickten, hatten jeden Glanz verloren, wirkten leer und traurig.
Im Hintergrund entdeckte sie Wasser. Ein tiefes Blau, so weit das Auge reichte. Die Sonne spiegelte sich darin, und es glitzerte tausendfach bis zum fernen Horizont, der übergangslos mit dem azurblauen Himmel verschwamm. Sie hatte die See gesehen, als sie ihre Heimat verlassen hatte und aufs Festland übergesetzt war. Vom Meer im Süden und vom großen Wasser im Westen hatte sie bislang nur gehört. Früher, als Callista noch in Moonvale gelebt hatte, dem kleinen Dorf am Rand des Vergessens, hatte sie nicht einmal geahnt, dass es überhaupt so viel Wasser auf dieser Welt gab.
Wie sollte sie auch?
Die Menschen in den Dörfern wurden bewusst unwissend gehalten. Sie blieben ungebildet und waren somit nicht in der Lage, die bittere Wirklichkeit zu erkennen. Dass die Menschen nämlich nicht frei waren, sondern unmündige Sklaven; dass sie unterdrückt wurden von Maschinen, die ihre Zivilisation ausgelöscht hatten; dass der mächtige Phönix, an den sie voller Überzeugung glaubten und dessen Zorn sie fürchteten, in Wahrheit selbst nichts anderes war als eine Maschine, wenn auch die größte und bei Weitem ausgefeilteste, die Menschen je gebaut hatten. Doch am Ende war alles Blendwerk, eine einzige Lüge, die zu durchschauen nur wenigen vergönnt war.
Callista gehörte zu jenen, die einen Blick hinter den Vorhang geworfen hatten, hinter die Illusion, die den Menschen vorgespielt wurde. Zusammen mit Lukan hatte sie ihr Dorf verlassen und in der Folge die bittere Wahrheit erkannt … jedenfalls eine davon. Hätte sie geahnt, wie viele bittere Erkenntnisse noch auf sie warteten, hätte sie sich womöglich niemals danach gesehnt, Moonvale zu verlassen und nach den Sternen zu greifen, deren glitzernde Lichter einst ihre Neugier geweckt hatten wie ein Lockruf in eine andere, bessere Welt.
Ein Irrtum, wie sie inzwischen wusste.
Die Wirklichkeit war nicht besser.
Sie war nur wirklich.
Es kostete sie Überwindung, den Blick vom Fenster abzuwenden und den jungen Mann anzusehen, der ihr gegenübersaß. Früher einmal hatte sie jede Kleinigkeit an ihm gemocht, einfach alles – seinen starken Wuchs, seine ebenmäßigen Züge, sein dunkelblondes Haar, die grauen Augen und die kleine Narbe am Kinn. Sie hatte ihn geliebt, so sehr, dass es wehtat, hatte mit ihm den Rest ihres Leben verbringen und eine Familie mit ihm gründen wollen.
Obwohl es ihnen verboten gewesen war, hatten sie Zeit miteinander verbracht, viele Stunden, ob auf ihrer geheimen Lichtung im Wald oder auf dem Dach ihres Elternhauses, wo sie sich oft heimlich getroffen hatten. Über zahllose Themen hatten sie gesprochen, hatten gemeinsam geträumt und geplant und dabei festgestellt, dass ihre Seelen einander ähnlich waren. Und auch ihre Körper waren einander nahe gewesen.
Daran zu denken, war Callista inzwischen unerträglich geworden. Reue schüttelte sie wie ein Fieberkrampf und führte ihr das eigene Versagen deutlich vor Augen, ihre Dummheit und ihre Naivität … und ihren größten Irrtum.
»Wie konntest du nur?«, fragte sie zum wiederholten Mal.
Zwar erwartete sie keine Antwort, kam über diese Frage aber einfach nicht hinweg.
Lukan war ihr Leben gewesen.
Der Einzige, der sie verstanden und ihr das Gefühl gegeben hatte, sie selbst zu sein. Oder war auch das nur eine Lüge gewesen? Warum aber hatte er sie dann aus der Gefangenschaft im Hort des Feuers befreit? Weshalb hatte er sie auf ihrer Flucht durch den Wald begleitet und damit auch seine eigene Zukunft zerstört? Und hatte er nicht ohne Zögern sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt, als sie in Londenton von den Maschinen überrascht und angegriffen worden waren?
Sie hätte es sich einfach machen und einreden können, dass die Maschinen ihn verändert hatten, dass sie ihn unter Drogen gesetzt, dass sie sein Gehirn gewaschen und neu programmiert hatten, so wie sie es bei ihresgleichen taten. Aber so einfach war es nicht. Denn auf erschreckende Weise war Lukan noch immer er selbst … und doch auch wieder nicht.
Sie war gewarnt worden.
Mehr als einmal.
Major Hachette und Lieutenant Degas aus dem Hauptquartier des Widerstands hatten Lukan nie getraut. Und auch Hal hatte seine Zweifel mehrfach zum Ausdruck gebracht. Doch Lukan lebend und unversehrt wiederzusehen, nachdem sie seinen Tod so schmerzlich betrauert hatte, war so überwältigend gewesen, dass sie alle Zweifel in den Wind geschlagen hatte. Und noch etwas hatte eine Rolle gespielt, vielleicht mehr, als sie sich bislang hatte eingestehen wollen – Lukan war ein Determinierter.
Genau wie sie hatte auch er eine besondere Fähigkeit. So wie Callista die Gabe besaß, die Gefühle und bisweilen sogar die Gedanken anderer Menschen zu erspüren, verfügte Lukan über die Kraft der Selbstheilung. Genau wie sie selbst hatte auch er lange Zeit nichts von dieser Gabe gewusst. Aber genau sie war es wohl, die ihn zu dem gemacht hatte, der er nun war, in jeder erdenklichen Hinsicht. Callista hatte gehofft, dass Lukans Fähigkeit zur Selbstheilung ihn vor den Folgen der Folter und den Manipulationen bewahrt hatte, die die Maschinen ihm hatten angedeihen lassen. Doch auch in dieser Hinsicht hatte sie sich nur selbst betrogen.
Lukan hatte getan, womit sie nie gerechnet hätte – er hatte sie alle verraten.
Gründlich gescheitert war ihre Mission, das Geheimnis von Port Bêlin zu erkunden, jener furchterregenden Festung, die die Maschinen im Osten unterhielten. Hals Vater war inzwischen sicher tot, und Hal selbst lebte vermutlich auch nicht mehr.
Hal …
Nachdem sie Lukan verloren hatte, hatte sie geglaubt, niemals wieder für einen Mann etwas empfinden zu können. Hal war anders als Lukan. Kein unbekümmerter Draufgänger, sondern sehr viel nachdenklicher, dabei allerdings nicht weniger mutig. Callista hatte sich wohlgefühlt in seiner Nähe, und bisweilen hatte sie sich dabei ertappt, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Doch dann war Lukan wieder aufgetaucht, und seine Rückkehr hatte sie in eine Wirrnis von Gefühlen gestürzt, in einen Irrgarten widersprüchlicher Empfindungen. Es war Hal gegenüber nicht fair gewesen, das war ihr inzwischen klar, doch auch diese Erkenntnis kam zu spät.
Hal ist tot.
Und ich bin schuld daran.
Meine Dummheit und Naivität haben ihn getötet …
»Diese Frage habe ich dir bereits beantwortet«, erwiderte Lukan in diesem Moment. So wie er vor ihr saß in seinem schwarzen Kampfanzug, die Züge fahl und das Haar kurz geschnitten, erinnerte er sie nur noch entfernt an den Jungen, den sie mehr geliebt hatte als ihr eigenes Leben. Es war der Klang seiner Stimme, der sie nach wie vor verwirrte. Dies und der Ausdruck in seinen Augen …
»Tust du das mit Absicht?«, fragte sie und musterte ihn mit müdem Blick. Sie hatte lange nicht geschlafen, fand einfach keine Ruhe. Eine grässliche Mischung aus Trauer, Zorn und Reue brodelte in ihr. Vor allem aber fühlte sie eine tiefe Verletzung.
»Was meinst du?«
»Spielst du mit mir?«, hakte sie nach. »Noch immer?«
»Ich habe nie mit dir gespielt.«
Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Du hast mich hintergangen, hast meine Zuneigung missbraucht. Du hast dir unser Vertrauen erschlichen und uns in eine Falle gelockt, aus der es kein Entkommen gab.«
»So lautete mein Auftrag«, erfolgte Lukans knappe Antwort.
»Dein Auftrag? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Du hast deine Kameraden ans Messer geliefert, deine Freunde … und mich.«
»Ich weiß«, räumte er kurz angebunden ein.
Keine Reue in seinen Zügen, kein Bedauern in seinem Blick. Und sein Inneres, das Callista mit ihren Sinnen zu erforschen suchte, eine kalte, abweisende Wand.
»Und du empfindest nichts dabei? Ich habe dich geliebt, Lukan Tallamach, und du hast mich geliebt …«
»Was gewesen ist, spielt keine Rolle mehr.«
»Haben sie dir so etwas eingeredet?« Sie musterte ihn durchdringend. Trotz seines Verrats fiel es ihr nach wie vor schwer, einen Feind in ihm zu sehen.
Ich muss es endlich begreifen, sagte sie sich selbst. Der Mann, den ich liebe, steht jetzt auf der anderen Seite. Früher hatte ich einen Platz in seinem Herzen, doch mittlerweile ist etwas anderes an diese Stelle getreten. Oder ist auch das ein Irrtum gewesen?
»Was soll das?«, beharrte Callista und zerrte zur Bekräftigung an ihren Fesseln. »Halten mich die mächtigen Maschinen für eine solch große Gefahr?«
»Du bist eine Kämpferin des Widerstands«, erwiderte Lukan. »Es ist viel Zeit vergangen, seit du heimlich auf jener Lichtung im Wald geübt hast. Pfeil und Bogen sind in deinen Händen inzwischen zu tödlichen Waffen geworden.«
»Das alles weißt du noch?«
Er nickte, und sie spürte einen Stich im Herzen. Die Erinnerung an jene sorglosen Tage, die eine Ewigkeit zurückzuliegen schienen, hatte ihr bislang Trost und Kraft geschenkt. Nun aber konnte sie auch daran nicht mehr ohne Bitterkeit zurückdenken. Sie kannte Lukan bereits ein Leben lang, hatte kaum Erinnerungen, in denen er nicht vorkam. Nun waren sie alle durch seinen Verrat entwertet.
»Sprich nicht von der Vergangenheit!«, bat sie beinahe flehend.
»Warum nicht?«
»Empfindest du denn nichts dabei? Keine Reue? Keinen...