E-Book, Deutsch, Band 2, 336 Seiten
Reihe: Phönix
Peinkofer Phönix
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99245-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Widerstand
E-Book, Deutsch, Band 2, 336 Seiten
Reihe: Phönix
ISBN: 978-3-492-99245-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Sterne.
Callista Brooke liebte sie noch immer.
Auch wenn sie sie inzwischen mit anderen Augen sah.
Früher hatte sie sich stets gefragt, woraus die kleinen Lichter gemacht sein mochten, die das Himmelszelt erhellten – waren es Kerzen oder kleine Laternen? Oder womöglich nur Nadelstiche in einem Mantel, den die Nacht über die Welt breitete, um das Licht des Tages fernzuhalten?
Heute wusste Callista es besser.
Sie hatte gelernt, dass jedes dieser Lichter dort oben eine Sonne war, nicht weniger hell und strahlend als jene, die tagsüber am Himmel stand; dass um jede dieser Sonnen Welten kreisten, Monde und Planeten in einem Universum, das größer war, als sie oder jeder andere begreifen konnte; und dass die Erde, der Himmelskörper, auf dem sie lebten, lediglich ein Staubkorn in diesem unfassbar weiten Kosmos war.
Gleichsam über Nacht war Callistas Welt größer geworden.
Erst ein halbes Jahr war es her, da hatte sie noch geglaubt, dass das Dorf Moonvale und der große Wald ringsum die Grenzen ihrer Welt seien; dass es außer dem Wald und seinen Bewohnern nichts weiter gebe und dass jenseits der schützenden Palisaden des Dorfes nichts als ein grausamer Tod zu finden sei – eine Lüge, wie sie hatte herausfinden müssen.
Eine von vielen Lügen.
Nahezu alles, was Callista geglaubt und was ihr von frühester Kindheit an erzählt worden war, hatte sich als Lüge erwiesen. Als große Täuschung, aufrechterhalten von jenen, die in Wahrheit die Welt beherrschten: den Maschinen.
Und obwohl Callista ihr Leben lang geahnt hatte, dass mehr hinter alldem steckte, dass die Sterne mehr waren als winzige Lichter und dass die Welt jenseits des Waldes nicht endete, hatte die Wahrheit sie dennoch tief erschüttert. Die Erkenntnis, dass sie in einer Welt lebte, die von Krieg gezeichnet war – einem verheerenden Krieg der Maschinen gegen die Menschen, den die Menschen am Ende verloren hatten. Dass es außerhalb der Wälder noch immer Überreste ihrer Städte gab, die Ruinen einstmals mächtiger Metropolen, in denen geisterhafte Schatten hausten. Und schließlich die Erkenntnis, dass der Phönix, an den alle Menschen in Callistas Dorf geglaubt hatten, nicht existierte. Die alten Schriften mochten zwar recht haben, wenn sie behaupteten, dass es der Phönix gewesen war, der der Menschheit den Weg aus der Asche der Vernichtung gewiesen und ihr einen Neuanfang ermöglicht hatte. Was sie jedoch verschwiegen, war die Tatsache, dass der Phönix diese Vernichtung erst heraufbeschworen hatte. Und dass er selbst eine Maschine war – die größte und mächtigste Maschine, die jemals von Menschen gebaut worden war …
All diese Erkenntnisse, all dieses neue Wissen war dazu angetan, Callistas Verstand in seinen Grundfesten zu erschüttern. Doch es gab zwei starke Motive, die sie antrieben, die ihr den Weg wiesen wie ein Licht in dunkler Nebelnacht. Zum einen war es die Liebe zu ihrem jüngeren Bruder Jona und die Verantwortung, die sie für ihn trug, seit ihre Eltern nicht mehr lebten. Und zum anderen ihr Durst nach Rache …
Die Maschinen hatten ihr alles genommen. Nicht nur ihre Heimat und das Bild, das sie sich von ihrer Welt gemacht hatte. Sondern auch ihren Vater und ihre Mutter.
Und Lukan …
An ihn zu denken, war noch immer schmerzhaft. Callista fühlte dann einen Stich im Herzen und eine fürchterliche Leere, ein grenzenloses Bedauern.
Lukan war immer für sie da gewesen, zuerst in Moonvale und später bei ihrer Flucht durch den Wald. Gemeinsam hatten sie die Wahrheit über diese Welt erfahren, hatten Gefahren getrotzt und dem Tod mehrfach ins Auge geblickt, und sie hatten sich geliebt. An vielem, das in ihrem früheren Leben geschehen war, hatte Callista später gezweifelt, nicht aber an ihrer Liebe zu Lukan. Sie war aufrichtig und echt gewesen, und sie hatte Callista Hoffnung und Trost gegeben … bis zu jenem schicksalhaften Tag in Londenton.
Callista hatte nicht gesehen, wie es passiert war. Caleb hatte es ihr erzählt. Er hatte berichtet, wie Lukan den Kampfmaschinen bis zuletzt Widerstand leistete, um den Rückzug seiner Freunde zu decken, und wie ihn zuletzt eine der gleißend roten Feuerlanzen durchbohrte, mit denen die Destrukter um sich schossen. Inzwischen wusste Callista, dass es sich um Strahlen aus gebündeltem Licht handelte, aber dieses Wissen war nutzlos, und auch Lukan half es nicht mehr. Doch sie hatte sich geschworen, dass sein Tod nicht ungerächt bleiben durfte, und daran hatte sie sich gehalten.
Callista fror.
Es war kalt auf dem Felsen. So sternklar die Nacht war, so eisig war sie auch. Eine eisblaue Decke aus harsch gefrorenem Schnee überzog Bäume und Hügel, so weit das Auge reichte. Es sah wunderschön aus, als wäre die Zeit selbst eingefroren, doch Callista wusste nur zu gut, dass dieser Eindruck trog. Aufmerksam lauschte sie dem hässlichen Summen der Malborgs, während sie von ihrem hohen Posten aus die Umgebung des Lagers im Auge behielt.
Ein Feuer gab es nicht, denn der Lichtschein wäre verräterisch gewesen, vom Brandgeruch ganz zu schweigen, den die Sensoren der Malborgs erfassen konnten. Callista schauderte bei dem Gedanken an die fliegenden Sonden, die weder Erbarmen noch Nachsicht kannten. War man außerhalb des Stützpunkts, musste man beständig auf der Hut vor ihnen sein, sogar in der Nacht. Denn die Malborgs der neuesten Baureihe vermochten auch bei Dunkelheit zu sehen.
Callista zählte die Gestalten, die dort unten im Schutz der Felswand schliefen. Sie sah Piter, Zaira und die beiden Boulanger-Zwillinge. Viele, die gegen die Maschinen kämpften, waren Waisen, genau wie Jona und sie. Andere waren im Widerstand zur Welt gekommen und taten das, was bereits ihre Eltern getan hatten, denn der Kampf gegen die Maschinen währte schon lange, länger als zwei Jahrhunderte … Zusammen waren sie die letzten freien Menschen, die noch auf der Welt existierten.
Ein beängstigender Gedanke …
Callista schob ihn beiseite und spähte mit dem Feldstecher auf die andere Seite der Senke, wo Sergeant LeBeauf, der Anführer ihres Trupps, Wache hielt. Ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen hatte Callista griffbereit neben sich liegen. An die Gewehre, die die meisten Widerstandskämpfer benutzten – natürlich immer vorausgesetzt, sie fanden genügend Munition dafür –, hatte sie sich nie gewöhnen können, ebenso wenig wie an die Bekleidung. Statt der gefleckten, an unzähligen Stellen ausgebesserten Uniformen, die die meisten Widerstandskämpfer trugen und die sie teils von ihren Ahnen geerbt hatten, hatte Callista ihre gewohnte Kleidung beibehalten: einen Waffenrock aus gegerbtem Leder, der ihr bis über die Knie reichte; darunter wollene Unterkleidung, darüber einen Gürtel, an dem neben einem großen Jagdmesser auch kleine Taschen mit allerhand nützlichen Dingen befestigt waren. Ihre Stiefel waren noch immer jene, die sie den weiten Weg aus Moonvale bis hierher getragen hatten, nur dass die Sohlen nun fest beschlagen waren.
Ein fellgefütterter Umhang aus einem seltsamen Material, das keine Nässe durchließ, war Callistas Schutz vor Kälte und Schnee, zusammen mit den Fäustlingen aus gefüttertem Leder und der Kapuze, die sie über dem zu einem Zopf geflochtenen kastanienbraunen Haar trug. Wenn man allerdings stundenlang auf Wache war, nutzte auch wärmende Kleidung wenig, und irgendwann drang die eisige Kälte bis auf die Haut durch. Callista fror am ganzen Körper, dennoch harrte sie aus. Es war ein hartes, entbehrungsreiches Leben, das die Widerstandskämpfer in den Bergen führten, aber Callista beschwerte sich nicht. Denn die Berge und das raue Klima boten zugleich auch Schutz.
Als sie ein Rascheln hinter sich hörte, griff Callista zum Messer und warf sich herum. Aber es war nur Hal, der den Felsen erklommen hatte und sie über den Abbruch hinweg ansah.
Hal Parker, der mit dem Flugzeug am Rand des Großen Waldes abgestürzt war und sich ihnen angeschlossen hatte. [Siehe PHÖNIX, Band 1]
Hal Parker, dem Callista, Caleb und Jona den Kontakt zum Widerstand zu verdanken hatten.
Hal …
»Was tust du hier?«, fragte sie und deutete auf den Mond. »Deine Schicht hat noch nicht begonnen.«
Ein sanftes Lächeln huschte über seine schmalen Züge, die von kurz geschnittenem schwarzem Haar umrahmt wurden. »Ich weiß«, versicherte er ihr. »Aber ich konnte nicht schlafen. Da dachte ich mir, ich löse dich einfach früher ab.«
»Nett von dir, aber das musst du nicht.«
»Ich weiß, dass ich das nicht muss. Aber ich wette, du bist völlig durchgefroren.«
Callista widersprach nicht, sondern rückte zur Seite, worauf Hal den Felsen vollends erklomm. Er trug seine alte Fliegerjacke und einen dicken Wollschal. An seinem Gürtel hing eine Waffe, die Revolver genannt wurde, wie Callista inzwischen wusste. Er vermochte sechs Kugeln zu verschießen, war dabei allerdings sehr viel weniger treffgenau als ihr Bogen und machte infernalischen Lärm.
Hal ließ sich neben ihr auf dem nackten Fels nieder. Gemeinsam spähten sie hinaus in das eisblaue Dunkel.
»Angst?«, fragte Hal nach einer Weile. »Vor morgen, meine ich.«
»Ein wenig«, gab sie offen zu. Sie hatten gemeinsam zu viel durchgestanden, um einander etwas vorzumachen. »Und du?«
»Wozu es leugnen?«, gab er zaghaft zurück. »Du kannst meine Furcht spüren.«
Ja, stimmte Callista in Gedanken zu. Und noch mehr als das …
»Hast du in letzter Zeit geübt?«, fragte Hal wie beiläufig.
Ah, sagte sie sich. Deshalb ist er hier …
»Keine Zeit dazu«, erwiderte sie.
»Die solltest du dir aber nehmen.« Er wandte den Kopf und musterte sie von der Seite. »Du bist eine Determinierte, Callista.«
»Sag das nicht!« Sie schüttelte den Kopf. Das Wort Determinierte...