Coworking und Coliving als Perspektive für die Regionalentwicklung
E-Book, Deutsch, 171 Seiten
ISBN: 978-3-17-033672-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Herausgeber und Autoren sind ausgewiesene Fachleute, die sich mit unterschiedlichen Aspekten moderner Lebens-, Arbeits- und Regionalentwicklungsbedingungen beschäftigen.
Autoren/Hrsg.
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Vorwort: Welche Zukunft – welche Zukünfte?
Jan Spurk
1. Einleitung
In dem vorliegenden Band sind eine Reihe von hochinteressanten Studien zusammengestellt, die – jede auf ihre Art und anhand sehr unterschiedlicher Objekte – der Frage nach der Welt von morgen nachgehen. Wohin treibt diese Welt, unsere Welt und Gesellschaft und wir mit ihr? Wir leben in einer umfassenden Umbruchsituation, einer »Erosionskrise« (Oskar Negt), die ungleichzeitig und mit sehr unterschiedlicher Tiefe alle Bereiche des gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens erfasst. Als Überwindung dieser Bruchsituation, der »Erosionskrise«, kann eine neue Gesellschaftsform entstehen. In diesem Band geht es nach Ansicht der Herausgeber nicht darum, diese Entwicklungen aufzuhalten, sondern sie zu gestalten und zu steuern. 2. Eine neue Welt?
Zukünfte sind nie determiniert oder naturwüchsig; sie sind immer offen und zu gestalten, selbst wenn die verschiedenen möglichen Zukünfte für die Akteure nicht (immer) klar erkennbar sind. In den verschiedenen Studien zeichnen sich keine großen Mobilisierungen ab, i.S. sozialer Bewegungen, die der etablierten Ordnung ihr alternatives Gesellschaftsprojekt entgegenhalten und die versuchen, dieses Projekt zu realisieren. Es scheint, als ob die sozialen Akteure die Anpassung an eine neue Situation suchen, die sich allmählich und fragmentarisch herausbildet. Die Bedingungen verändern sich, und mit mehr oder weniger Begeisterung passen sich die Akteure daran an und versuchen das Beste daraus zu machen. Im Grunde wollen sie tun, was sie tun sollen, um Herbert Marcuse zu paraphrasieren. Die »alte Welt« der etablierten Form des Kapitalismus stößt an ihre Grenzen, doch wir haben es beileibe nicht, wie es z. B. Emanuel Wallerstein behauptet, mit der strukturellen Endkrise des Kapitalismus zu tun. Abgesehen davon, dass es keine immanente Endkrise des Kapitalismus geben kann, entwerfen die Studien in diesem Band ein ganz anderes Bild. Die gesellschaftlichen Strukturen sind im Umbruch. Die hier zusammengestellten Studien entwickeln viele Brüche in den etablierten Lebens- und Arbeitsformen, in den etablierten Werten, Erfahrungen und Erwartungen. Der Umbruch betrifft nicht nur die Lebensstile und -formen, sondern auch die Verhaltensmuster. Es werden signifikante Phänomene und »exemplarische Fälle« (Kracauer) dieser Bruchsituation analysiert, die zu einer »sharing economy« und einer »green economy« führen können. Die analysierten Phänomene sind Versuchsfelder des zukünftigen Zusammenlebens und -arbeitens. Im Zentrum stehen temporäre Konzepte, Teilen und neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens: Carsharing, Desksharing, diverse Tauschbörsen, Teilen von Wohnungen und andern Gütern usw. Die seit langem in der Soziologie thematisierte »Entgrenzung der Arbeit« ist nur ein Aspekt der umfassenden Entgrenzung innerhalb der etablierten Ordnung: die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Arbeit und Tätigkeit, zwischen Betrieb und Privatsphäre, zwischen Arbeitsort und Wohnort, zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit etc. Die neue Konstellation resultiert aus der radikalen und umfassenden Mobilisierung der Subjektivität für eine Zukunft, die nur unklar und nur fragmentarisch entworfen ist. Man ist in Bewegung, aber niemand weiß wohin. Selbst wenn die radikale und umfassende Individualisierung der letzten Jahrzehnte nicht, wie in der Soziologie lange behauptet wurde, von der Fremd- zur Selbstbestimmung führte (sie führte von einer Fremdbestimmung zu einer anderen Fremdbestimmung), sie hat schon in der Vergangenheit traditionelle gesellschaftliche Grundmuster untergraben (z. B. die traditionelle Kleinfamilie) und neue Arbeits- und Lebensformen hervorgebracht. Die Realisierung von temporären Konzepten (teilen und in Anspruch nehmen oder existieren, solange wie nötig) hat einen unbestreitbaren ökologischen Effekt: Sie ist ressourcenschonend. Sie hat auch einen anderen Aspekt: Nichts ist mehr sicher und dauerhaft. Das Ephemere und die Unsicherheit sind konstitutiv für die temporären Konzepte, aber auch für die heutige gesellschaftliche Situation im Allgemeinen. Deshalb müssen sich die Akteure immer wieder aufs Neue mobilisieren, um sie zu rekonstituieren. Die sich abzeichnende »Sharing Economy« entspricht den instrumentellen Interessen vieler Akteure: dem Interesse der Optimierung von Kosten, Zeit und Raum und der Schaffung von instrumentellen sozialen Zusammenhängen. Die Effizienz, ein Grundprinzip des Kapitalismus, ist dabei das treibende Moment. Das hier entwickelte »Wir« der temporären Kollektive basiert auf dem instrumentellen »Coworking«, »Coliving« etc. Es ist konstitutiv instrumentell, aber die betroffenen Individuen finden hier auch einen Ersatz reeller Solidarität und reeller Gemeinschaften. Die »Sharing economy« könnte also ein Teil oder vielleicht sogar der Prototyp der neuen Form des Kapitalismus sein. 3. Mögliche Zukünfte
Die Studien in diesem Band heben sich radikal von vielen anderen ab, in denen eher eine Untergangstimmung herrscht. Die Apokalypse scheint wahrscheinlicher als eine neue Form des Kapitalismus. In diesem Band finden wir einen ganz anderen Diskurs. Selbst wenn es für die Autoren eine ausgemachte Sache ist, dass eine neue Form des Kapitalismus entsteht, die Zukunft oder die möglichen Zukünfte sind auch für sie – wie für alle – unklar, unsicher und relativ unverständlich. Der systematische Gebrauch von Anglizismen gibt dies an; er ist viel mehr als akademisches »Jargonieren«. Der Sinn der beschriebenen Phänomene ist für alle unklar und deshalb ist es unmöglich, sie in der Sprache der Betroffenen auszudrücken, denn man müsste in diesem Fall ihren Sinn benennen. Eventuell haben wir es sogar mit einer neuen (Herrschafts-)Sprache im Sinne George Orwells zu tun. Ich bin vorsichtiger als die meisten Autoren dieses Bandes. Meines Erachtens gibt es nicht eine Zukunft, die zwar nicht ganz von alleine und naturwüchsig die Gegenwart ablöst, aber dennoch eine transhistorische Entwicklung darstellt, die nur zu steuern und zu gestalten sei. Sie würde einem Naturgesetz ähneln, wie auch der Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert oft gedacht wurde. Im Gegensatz zu dieser (heute fast politisch unkorrekten) Vorstellung des Fortschritts, die ich beileibe nicht verteidige, fehlt jeglicher normative Bezug: Ist die Zukunft wünschenswert, weil sie ein besseres Leben verspricht? Die beschriebenen Entwicklungen scheinen normativ und moralisch neutral: vollendete Tatsachen, die man eben akzeptieren muss. Dennoch haben wir es mit Modernisierungsversuchen des Kapitalismus zu tun. Modernisierung meint hier (in der Tradition der Soziologie der 1950er und 1960er Jahre) einfach, dass der Kapitalismus eine neue Form findet, die aufgrund der veränderten gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen angebracht ist. Diese Modernisierung setzt sich allerdings nicht von alleine durch und sie nimmt auch viele in der Vergangenheit zurückgewiesene oder bekämpfte Elemente auf. Ein Blick auf die Entstehung der gegenwärtigen Situation, die eine neue Zukunft sucht, gibt uns ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben die Entstehung des »neuen Geistes des Kapitalismus« in den 1980er und 1990er Jahren mittels ihrer Analysen von Managementstrategien erarbeitet. Dieser »Geist« ist also v. a. durch Herrschaftshandeln entstanden. Sie zeigen u. a., dass deviante oder alternative Lebens-, Denk- und Arbeitsformen in die Modernisierung investiert werden können. Deren Kreativität, d. h. ihre Kapazität, Neues zu schaffen, muss allerdings eine neue Finalität bekommen. Die auf dem Eigensinn beruhende Finalität der Autonomie alternativer Projekte und sozialer Bewegungen muss durch Finalität der Modernisierung ersetzt werden, und zumindest ein Teil der Akteure muss für dieses Projekt gewonnen werden. So wird das auf dem Eigensinn beruhende Autonomiebestreben zur Produktivkraft. In diesem Sinn kann man leicht feststellen, dass viele »Sharing«-Praktiken seit langem betrieben werden, aber nicht um den Kapitalismus zu optimieren. In den Wohngemeinschaften der 1970/80er Jahre ging es darum, neue Lebensformen zu entwickeln, die dem Eigensinn der Zusammenwohnenden entsprechen sollten. Das »Coliving« ist die instrumentelle Umkehrung dieses Projekts. »Coliving«, »Coworking« etc. sind funktionelle Mobilisierungen der Subjektivität, die der entstehenden neuen Form des Kapitalismus entsprechen (könnten). Es gibt auch andere...