E-Book, Deutsch, 414 Seiten
Pearse Jeden Tag ein bisschen Zuversicht
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7325-7262-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 414 Seiten
ISBN: 978-3-7325-7262-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
England, 1960: Die Zwillinge Maisy und Duncan wachsen in dem Herrenhaus 'Nightingales' in der Nähe eines großen Waldgebietes auf. Dort lernt Duncan Grace Deville kennen, die wie eine Ausgestoßene auf einer Lichtung lebt. Eines Tages verschwindet er auf dem Weg von Grace zurück nach Hause spurlos. Jahre später hat die Polizei den Fall zu den Akten gelegt. Maisy aber kann den Verlust ihres Bruders nicht überwinden und macht sich zusammen mit Grace auf die Suche nach ihm. Denn Maisy weiß in ihrem Herzen, dass Duncan noch lebt.
Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren. Ihre Romane belegen in England und vielen anderen Ländern regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Sie hat drei Töchter und drei Enkel und lebt mit ihrer Familie in Devon.
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KAPITEL 1
West London, 1960
Maisy wurde von einem durchdringenden Schrei geweckt. Erschrocken fuhr sie im Bett auf, saß lauschend da und horchte nach draußen. Von dort musste der Schrei gekommen sein. Doch beim zweiten Kreischen erkannte sie, dass das Geräusch aus dem Inneren ihres Hauses zu ihr drang. Es war ihre Mutter, die da so schrie. Sie eilte zur Tür ihres Schlafzimmers, hinaus auf den Flur, hielt jedoch inne, als sie die Stimme ihres Vaters vom unteren Stockwerk heraufdringen hörte. »Sei still, Lily. Sonst weckst du noch die Zwillinge und machst ihnen Angst. Es ist doch nur zu deinem Besten.« Maisys Zwillingsbruder Duncan erschien im Türrahmen seines Schlafzimmers und trat zu ihr an die oberste Stufe. »Was ist da los?«, flüsterte er. Maisy legte den Finger auf ihre Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Sie hielt ihn am Arm fest, um zu verhindern, dass er die Treppe hinunterrannte. Ihr Vater, Alastair Mitcham, war ein strenger Mann, der Einmischungen nur schwer tolerierte. »Ich will da nicht hin! Ich will in meinem eigenen Haus gesund werden!«, heulte Lily Mitcham. »Schick mich nicht fort, Alastair!« Das jämmerliche Flehen trieb Maisy und Duncan die Tränen in die Augen, aber sie waren gerade einmal fünfzehn Jahre alt, hatten Angst vor ihrem Vater und keine Ahnung, was sie tun sollten. »Wie oft habe ich es schon mit ärztlicher Hilfe für dich versucht? Und jedes Mal passiert das Gleiche«, erwiderte Alastair, und die Kinder hörten Müdigkeit und Resignation in seiner Stimme und wechselten beunruhigte Blicke. »Dir geht’s danach kein bisschen besser. Im Gegenteil, jedes Jahr geht es dir ein wenig schlechter. Wann warst du zuletzt vor der Haustür? Ich glaube, das ist jetzt zwei Sommer her. Selbst hier unten bist du seit über einem Jahr nicht mehr gewesen.« »Aber mein Rücken und meine Beine …«, protestierte sie. Alastair schnitt ihr das Wort ab. »Weder dein Rücken noch deine Beine sind das Problem. Und das weißt du auch. Du kannst einen Reitunfall, der an die zwölf Jahre her ist, nicht mehr als Ausflucht benutzen. Ich habe es gründlich satt, Lily. Und die einzige Möglichkeit, die ich noch sehe, damit du dich endlich deinen wirklichen Problemen stellst, ist es, dich an diesen Ort zu schicken. Und jetzt beruhige dich, sonst hole ich die Krankenschwester, die draußen im Krankenwagen wartet, und bitte sie, dir irgendetwas zur Beruhigung zu spritzen.« Maisy hatte genug gehört. Obwohl sie Angst vor ihrem Vater hatte und ihrem Bruder keine Probleme bereiten wollte, nahm sie ihn an der Hand und zog ihn zur Treppe. Duncan, von ihrem Mut angesteckt, ließ sich willig mitziehen. »Warum schickst du Mutter fort?«, fragte Maisy, als sie die letzten Stufen der Treppe zum ersten Stock erreicht hatten. Ihr Vater fuhr herum. Er war vollständig gekleidet, in Anzug und Krawatte, und hatte das leise Tappen ihrer nackten Sohlen offenbar nicht gehört. »Das geht euch gar nichts an«, schnauzte er. »Und jetzt Abmarsch, zurück ins Bett, sofort.« »Sie ist unsere Mutter. Und sie geht uns sehr wohl etwas an«, erwiderte Maisy. »Wohin schickst du sie? Und warum mitten in der Nacht? Damit die Nachbarn nichts mitbekommen? Oder hast du gehofft, wir würden nicht aufwachen, damit du so tun kannst, als sei sie bei einer Verwandten in den Ferien?« Es war das erste Mal, dass Maisy ihrem Vater die Stirn bot. Obwohl er kein gewalttätiger Mann war, strahlte er so viel Strenge und Grimmigkeit aus, dass Duncan und sie ihm stets aufs Wort gehorchten. Jetzt raste ihr Herz, sie zitterte am ganzen Leib, und dennoch war sie entschlossen, sich für ihre Mutter einzusetzen. »Lasst nicht zu, dass er mich ins Irrenhaus schickt«, wimmerte ihre Mutter. »Es ist grausam und hässlich. Ich will hierbleiben.« Der Plan ihres Vaters schockierte Maisy. Aber als sie ihre Mutter so vor sich sah, begriff sie auch, warum ihr Vater eine derart drastische Maßnahme ergriff. Sie hatte das Gesicht ihrer Mutter schon lange nicht mehr deutlich gesehen, und so war ihr entgangen, wie schlecht es um sie stand. Ihre Augen quollen fast aus den Augenhöhlen, und sie war so abgemagert, dass sich die gelbliche Haut über ihren Wangen spannte und die Adern auf ihrer Stirn wie mit dicken Wachsmalstiften gezeichnet schienen. Ihr braunes Haar war strähnig und fettig, und ihr Nachthemd starrte vor Dreck. Dass sie Hilfe brauchte, war ganz offensichtlich. Von klein auf hatten sich die Zwillinge daran gewöhnt, dass ihre Mutter die meiste Zeit im Bett verbrachte. Nie waren sie von ihr zur Schule gebracht worden, nie hatten sie mit ihr einen Ausflug ans Meer oder ein Picknick gemacht, und selbst ein Spielplatzbesuch war nie möglich gewesen. Die Zwillinge kannten nichts anderes und glaubten ihrer Mutter, wenn sie behauptete, ein Reitunfall sei daran schuld. »Vater, tu’s nicht«, sagte Duncan. Den Arm seiner Frau weiterhin fest im Griff, wandte sich Mr Mitcham an seine Kinder. »Ich muss es tun. Sie ist krank. Ich wollte nicht, dass ihr davon erfahrt, aber jetzt müsst ihr verstehen, dass sich ihr Zustand ständig verschlechtert und dass ich Angst um sie habe. Erst vor wenigen Tagen hat sie versucht, Gift zu trinken. Gott sei Dank hat Betty sie gesehen und es gerade noch verhindert. Sie hat ihr damit das Leben gerettet. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was sonst passiert wäre.« Ihre Mutter versuchte, sich dem Griff ihres Mannes zu entwinden, das Gesicht zur Maske eines wilden Tieres verzerrt, die Zähne gefletscht. Maisy wich instinktiv einen Schritt zurück, und Duncan nahm ihre Hand. »Verstehe«, sagte er, den Blick verängstigt auf seine Mutter gerichtet. »Soll ich dann jetzt vielleicht die Krankenschwester von draußen zu Hilfe holen?« »Ja, bitte, Duncan, das wird wohl das Beste sein. Und Maisy, läufst du bitte und holst den Bademantel und die Pantoffeln deiner Mutter? Sie hat sich vorhin so heftig gesträubt, dass ich nicht auch noch die Sachen halten konnte.« Wenige Minuten später sahen die Zwillinge zu, wie eine stämmige Krankenschwester mittleren Alters, die draußen in dem privaten Krankenwagen gewartet hatte, ihrer Mutter ein Beruhigungsmittel spritzte. Die Wirkung setzte fast sofort ein. Lily hörte auf, sich zu sträuben, entspannte sich und bekam einen leeren Gesichtsausdruck. Alastair half seiner Frau in den Morgenmantel und streifte ihr die Pantoffeln über die Füße. »So ist es besser«, sagte er und küsste sie auf die Wange, sehr zur Beruhigung der Zwillinge, die jetzt das Gefühl hatten, dass er tatsächlich ihr Wohlergehen im Sinn hatte. »Also, Kinder, dann seid so gut, verabschiedet euch von eurer Mutter, und geht dann wieder ins Bett. Und glaubt mir, ganz gleich, was sie sagt, man wird sich in dem Heim gut um sie kümmern, das versichere ich euch. Es ist eine Privatklinik, in der sie die bestmögliche Pflege erhält. Ich werde jetzt dem Krankenwagen in meinem Auto folgen, und es wird sicher einige Stunden dauern, bis ich zurück bin. Aber macht euch keine Sorgen, Betty wird wie immer zum Frühstück hier sein.« Vom Wohnzimmerfenster aus schauten sie zu, wie die Schwester ihrer Mutter in den Krankenwagen half. Ihr Vater startete den Motor seines Autos und wartete, bis der Krankenwagen losfuhr. Einen Moment schwiegen die Zwillinge und verharrten wie Statuen am Fenster des dunklen Zimmers. Obwohl nie jemand offen über den Geisteszustand ihrer Mutter gesprochen hatte, war den Kindern in letzter Zeit immer öfter der Verdacht gekommen, dass ihre seltsame Krankheit einen anderen Grund haben musste als einen Reitunfall, der sich vor langer Zeit ereignet hatte. Alles in ihrem Zuhause lief anders als bei anderen Leuten. Ihre Eltern schliefen in getrennten Schlafzimmern, ihre Mutter nahm ihre Mahlzeiten in ihrem Zimmer ein, und manchmal hörten sie Geschrei und das Geräusch von brechendem Porzellan. Betty, die Hauswirtschafterin, behauptete dann immer, ihrer Mutter sei bestimmt etwas zu Boden gefallen, so wie sie auch die anderen Geräusche stets damit erklärte, dass ihre Mutter Schmerzen litt. Aber nun sahen die Zwillinge all diese Vorkommnisse in einem anderen Licht. »Das war schrecklich«, sagte Duncan schließlich mit zitternder Stimme. »Nicht nur für Mutter, sondern auch für Vater. Aber so ist es sicher am besten. Wollen wir uns etwas Milch warm machen und dann zurück ins Bett gehen? Es ist erst halb drei.« »Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm ist«, sagte Maisy, während sie in die Küche hinuntergingen. »Ich meine, ich wusste zwar, dass sie immer schon kränklich und etwas seltsam war, aber ich wusste nicht, dass sie …« Sie verstummte. »Verrückt ist?«, ergänzte Duncan. »Nein, ich auch nicht, aber wir kennen es ja auch nicht anders. Ich bin sicher, dass sie im Heim geheilt wird. Und dann wird alles gut.« Maisy goss etwas Milch in einen Topf und entzündete die Flamme auf dem Gasherd. Ihr Bruder war schon immer der Optimistischere gewesen, dachte sie. Sie neigte eher zum Gegenteil. Äußerlich sahen sich die Zwillinge ähnlich. Beide hatten tiefblaue Augen und dichtes blondes Haar. Aber Duncan war größer als sie, vielleicht einen Meter siebzig, während sie einen Meter sechzig maß. Er hatte ein kantiges Gesicht und ein energisches Kinn, während Maisy ein herzförmiges Gesicht hatte und ein Grübchen am Kinn. Im Sommer nahm ihre Haut sehr schnell einen goldbraunen Schimmer an, während er zu Sommersprossen neigte. Ihr Haus lag im Londoner Stadtteil Holland Park. Es ging über drei Stockwerke und hatte sogar einen Keller. Die letzten...