Pécherot | Nebel am Montmartre | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Pécherot Nebel am Montmartre


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-96054-140-0
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-96054-140-0
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nestor ist ein anarchistischer Privatdetektiv von zartem Gemüt. Zusammen mit seinem Freund Leboeuf, einem massigen Lumpensammler und Jahrmarktringer, versucht er, im Paris der Zwanzigerjahre für etwas Gerechtigkeit zu sorgen. Nebel am Montmartre ist eine Hommage an Léo Malet. Folgerichtig treiben sich auch bei Pécherot skandalumwitterte Grafen, verführerische Dienstmädchen und gewissenlose Großindustrielle zwischen Trödelmärkten, Cabarets und Gewerkschaftsräumen herum. Es entspinnt sich eine verwickelte Geschichte, in der jeder jeden zu erpressen scheint und der Detektiv den Mörder mit einer Ausgabe der Révolution surréaliste entlarvt. André Breton höchst selbst nimmt gar an einer nächtlichen Schießerei auf dem Friedhof teil und dient dem jungen Detektiv bald als BriefkastenAdresse : "'Was für eine Geschichte!', seufzte Breton. 'Als Poet sind Sie zwar ein Stümper, alter Knabe, aber langweilig wird einem in Ihrer Gesellschaft nicht.'"

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Als ich wieder zu mir kam, war Lebœuf schon zur Arbeit. Zwischen dem Schalltrichter eines Grammofons und einem abgewetzten Holzbein trieb ich in einem Topf einen Rest Kaffee auf. Während er auf dem Herd heiß wurde, betrachtete ich die an die Wand geklebten Fotos: Lebœuf im Ringertrikot, Rigoulot, der stärkste Mann der Welt, ein Baby in Sepiafarben auf seiner Decke und das Porträt einer Frau in Holzschuhen. Ich goss den kochend heißen Kaffee in eine angeknackste Tasse und trank ihn in kleinen Schlucken. Auf dem mit Tellern und auseinandergeschraubten Schlössern überhäuften Tisch lag, auf eine Heftseite gekritzelt, eine Nachricht an mich: »Fihl dich wi dahaim.« Ich steckte sie mir in die Tasche und ging. Beim Cri de Paris gab es sicher noch mehr zu erfahren. Das Redaktionszimmer lag verlassen. Zu so früher Stunde geisterte Meunier hier oft als Einziger umher. Ich klopfte an seine Bürotür. Keine Antwort. Ein paar Blatt Papier lagen lose auf dem Boden verstreut. »Sind Sie da, Monsieur?« Meine Frage verlor sich in der Stille. Ich drehte am Türknauf. Es war nicht zugesperrt. In der abgestandenen Luft des Zimmers hing noch der süßliche Geruch einer kalten Zigarre. Das Büro hatte kein Fenster, aber ich brauchte kein Licht, um Meuniers massige Gestalt zu erkennen. Er war eingepennt und saß zusammengesunken in seinem Sessel. »Störe ich?« Als ich näher kam, begriff ich, dass ich es nicht tat. Meunier war so kalt wie die Tabakreste, die aus dem Aschenbecher quollen, und würde so schnell nicht mehr aufwachen. Angesichts des großen Lochs in seinem Schädel war das auch besser so. In einer Blutlache lag zwischen Klümpchen von Hirnmasse eine Browning. Ich fischte sie heraus. Die Pistole hatte noch den bitteren Geruch von Pulver. Ich durchsuchte die bespritzten Papiere auf dem Schreibtisch, schnüffelte durch Schrank und Schubfächer. Nichts! Mein Exchef hatte ohne weitere Erklärung seinen Abschied eingereicht. Erst beim Hinausgehen fiel mir auf, dass der Safe halb offen stand. Leer. Ohne nachzudenken schloss ich ihn. Auf dem Treppenabsatz spitzte ich die Ohren. Jemand kam hoch. Ein leiser, gedämpfter Schritt, ein verstohlener Schritt. Vorsichtig wie ein Mäuschen stieg ich ein Stockwerk höher. Ich hatte noch die Zeit, eine Hand auf dem Geländer zu erkennen. Eine Männerhand voller Ringe. Sie verschwand wieder, und der dazugehörige Typ trat bei Meunier ein. Ich setzte meinen Gang hinunter an die frische Luft fort. Auf der Straße lud ein Lastwagen Kohle ab. Vor der »Bar des Amis« parkte ein Bugatti. Sein Fahrer las den Miroir du Cinéma. Zwei Arbeiter, die die Bar betraten, um sich vor der Stechuhr noch einmal die Kehle durchzuspülen, bedachten den Schlitten mit einem bewundernden Pfiff. Kinder rannten mit umgehängtem Ranzen vorbei. Niemand interessierte sich für mich. Ich verschwand besser von der Bildfläche. Nachdenklich ging ich zur Place Blanche. Die Ermittlungen würden sich auf Meuniers Mitarbeiter konzentrieren. Es würde zwar einige Zeit dauern, bis sie auf meine Spur stießen, aber zuletzt würden die Flics es schaffen. Ich hoffte plötzlich, dass Rouleaus Leiche nie mehr auftauchte. »He! Passen Sie doch auf, alter Knabe!« Ganz in meine Gedanken versunken, hatte ich einen Passanten angerempelt. Verärgert klopfte er sich das Revers ab. Die Geste kannte ich. Den Typen auch. Bei unserer ersten Begegnung hatte er sich den Inhalt eines verschütteten Glases abgewischt. »Monsieur Breton«, sagte ich blöde. Sein müder Blick quälte sich bis zu mir herab. Dann aber hellte sich sein Gesicht auf. »Nein, so was aber auch! Glauben Sie an Zufälle?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Aber sicher doch. Stellen Sie sich vor, gerade eben komme ich von einem Freund, mit dem ich mich einem Traumexperiment unterzogen habe, und schon kreuzen Sie meinen Weg. Ausgerechnet Sie, das Medium aus dem ›Cyrano‹! Paris ist eine Stadt für Schlafwandler.« Das war jetzt wirklich der Moment für so was! Ich suchte nach einem Vorwand, um ihm zu entwischen, aber er zog mich schon weiter. »Wissen Sie, Sie haben meine Freunde stark beeindruckt. Sie sprechen von nichts anderem mehr als nur noch von Ihnen. Ihre Vision von dem Leichnam …« Also, Leichen konnte ich ihnen liefern, so viele sie wollten. Brauchten bloß nachzufragen. Er hielt mich am Arm fest, eine Polizeistafette fuhr aus entgegengesetzter Richtung heran, und ich ließ mich führen. Ein Auto bremste ab, um uns über die Straße zu lassen, und wir betraten das »Cyrano«. Die Brasserie wogte in einem schwarz-weißen Ballett befrackter Kellner. Breton führte mich an seinen Tisch. »Wer weiß, ob Ihre Anwesenheit nicht wie ein stummer Ruf einen der Unseren anlocken wird?« Mir blieb keine Zeit nachzufragen, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. Kaum, dass wir Platz genommen hatten, tauchte auch schon einer seiner Kumpel auf, hohlwangig und mit fiebrigem Blick. »Ich wurde soeben ermordet; das ist ermüdend«, sagte er und ließ sich auf die Bank fallen. »Gance übertreibt es«, fuhr er fort. »Er glaubt, ganz nah an der Weltgeschichte dran zu sein. Dabei ist sein Napoleon nichts weiter als ein aufgeplusterter Kampfhahn. Aber was für ein Genie an Erfindungsgabe! Nun gut! Ich habe meinem Marat den Wahn des erhabenen Königsmords eingehaucht. Wart ab, bis du den Film siehst … Wie auch immer! Der Kinematograf zehrt an den Kräften. Garçon, einen Martini!« Während er langsam wieder zu Atem kam, machte uns mein Gastgeber etwas gereizt miteinander bekannt: »Antonin Artaud … da fällt mir ein, lieber Freund, ich kenne Ihren Namen ja gar nicht.« Da warf mir einer der Spiegel zwischen Cinzano- und Picon-Flaschen das Bruchstück einer Reklame zu: »Lampen Claude – und es wurde Licht.« »Claude«, sagte ich automatisch. »Nun gut, mein lieber Claude, stellen Sie sich vor: Artaud macht sich einen Spaß daraus, in einem schwülstigen Historienschinken zu Ehren eines blutrünstigen Hampelmanns mitzuspielen.« »André, du hast keine Ahnung. Napoleon ist mir wurscht. Da drin steckt was Neues. Ein Bruch …« »Der Bruch ist näher, als du denkst.« »Hör auf, den Schulmeister zu spielen.« Allmählich gingen sie mir auf den Geist. Draußen war die Gefahr vorbei. Ich wollte mich schon verabschieden, als mir zwei weitere von den Irren den Rückzug abschnitten. »Hier stecken Sie also!« Kein Zweifel, sie meinten mich. Breton schien Recht zu haben: Ich zog sie magisch an. »Haben Sie seit dem letzten Mal noch mehr Visionen gehabt?« Artaud erstarrte. Man hätte meinen können, ein Rabe, der sich auf der weißen Tischdecke niedergelassen hatte. »Unser Freund ist Medium.« »Ja, das ist offensichtlich.« Es dauerte nicht mehr lange, und sie würden es schaffen, mir mit ihrem Blödsinn Angst einzujagen. Ich hatte keine Lust, dass sie auch noch die Toten zum Sprechen brachten. »Und, Ihre Visionen …« »Ähm, nichts.« »Nichts?« »Nein, bedaure.« »Wie schade aber auch. Und was tun Sie so augenblicklich?« »Ich … ich schreibe Gedichte …« »Gedichte? Schön, schön, kommen Sie!« Ich war verblüfft. »Wohin?« »Kommen Sie schon, lesen Sie uns einen Ihrer Texte vor!« Darauf war ich nicht vorbereitet. Um mir Haltung zu geben, zog ich mein Pfeifchen hervor. Der, der bislang noch nicht gesprochen hatte, hielt sich für besonders schlau und behauptete, dies sei keine Pfeife. Die anderen drängten mich. Ich musste etwas vortragen. Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte meine beste Ballade auf. Am Ende angelangt, sah ich sofort, dass meine Strophen nicht ihre Sache waren. Das Medium hatte seine Macht verloren. Eine Spur herablassend tätschelte Breton mir den Arm. »Lassen Sie alles fahren, mein Bester. Lassen Sie es zu, dass die Wörter den Damm Ihres Verstandes mit sich fortreißen. Schreiben Sie nur, wenn Sie das Bewusstsein verlieren … Sie sind eine Maschine, und Ihre Sinne tippen auf der Tastatur. Das nennen wir das automatische Schreiben. Versuchen Sie es. Hier, nehmen Sie.« Er hielt mir irgendeine Broschüre hin. Tief gekränkt nahm ich sie und machte mich aus dem Staub, wobei ich mir schwor, mich nie wieder mit diesen Verrückten...


Patrick Pécherot, 1953 in Courbevoie geboren, Journalist. 2002 erhielt er den "Grand Prix de Littérature Policière" für Nebel am Montmartre, den ersten Band einer Trilogie über das "populäre" Paris zwischen den Weltkriegen. Außer Krimis schreibt er Jugendbücher und Comics zusammen mit dem Co-Autor Jeff Pourqui



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