E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Pécherot Belleville-Barcelona
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-96054-141-7
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-96054-141-7
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Patrick Pécherot, 1953 in Courbevoie geboren, Journalist. 2002 erhielt er den 'Grand Prix de Littérature Policière' für Nebel am Montmartre, den ersten Band einer Trilogie über das 'populäre' Paris zwischen den Weltkriegen. Außer Krimis schreibt er Jugendbücher und Comics zusammen mit dem Co-Autor Jeff Pourquié.
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I
Die junge Frau war weiß im Gesicht wie ein Clown, aber niemandem war zum Lachen zumute. Außer der dicken Dame, die in der ersten Reihe vor sich hingluckste. Ein kurzes, abgehacktes Lachen, wie ein Hustenanfall. So ein heiseres Gekratze, mit dem man versucht, sich im Griff zu behalten, und das allen anderen auf die Nerven geht. Das war insofern ungünstig, als die Nerven aller bereits bis zum Zerreißen gespannt waren. Unter den Anwesenden sah ich zwei oder drei, die der Dicken gern eine geknallt hätten. Damit sie endlich Ruhe gab.
Die bleiche junge Frau tangierte das nicht, die konnte so leicht niemand mehr aus der Ruhe bringen. Sie lag dort, umgeben von vier Kerzen, den Kopf auf Blumen gebettet, steif wie eine Statue. Sie ruhte auf einem Brett, das auf zwei Böcken lag. Ihr Körper war mit einem Laken bedeckt, und angesichts der Formen, die sich darunter abzeichneten, war es ein echter Jammer, dass man der Schwester bei ihrer letzten Ruhe keine Gesellschaft leisten konnte.
Der Typ hatte sich auf leisen Sohlen genähert, mit Trauermiene, dem Anlass entsprechend. Eine echte Bestatterfresse. Sein schwarzes Gewand war ihm zu groß. Er setzte einen Fuß vor den anderen und bewegte dabei sein Cape auf und nieder. Dann zog er das Brett weg, das der Verstorbenen als Unterlage diente. Sie rührte sich nicht, blieb in der Horizontalen, lag steif auf den Böcken. Mit geübter Geste zog er nacheinander beide Böcke unter ihr weg. Die dicke Frau stieß einen Schrei aus. Die Tote schwebte im Nichts. Um uns das zu beweisen, legte der Knilch einen Reif um ihren Körper und ließ ihn daran entlanggleiten, vom Kopf bis zu den Füßen und zurück, ohne dabei auf den geringsten Widerstand zu stoßen. Dann verbeugte er sich, die Hände vor der Brust.
Ein Offiziant blies die Kerzen aus. Im Saal wurde es dunkel, und auch bei der dicken Dame gingen die Lichter aus. Als das Licht wieder aufflammte, war die Tote verschwunden.
»Unglaublich!«
Im halb leeren Theater klatschte mein Nachbar immer noch voller Begeisterung. Ich drehte mich zu ihm um: »›Eine Leiche fiel in Ohnmacht‹, hübscher Titel für einen Fantomas, oder?«
»Monsieur, etwas mehr Respekt, Sie reden über Swami!«
Er sah nicht so aus, als wäre er zum Scherzen aufgelegt. Eher wie einer dieser armen Irren, die dem erstbesten Fakir auf den Leim gehen. Ich überließ ihn seiner Verzückung und verdrückte mich. In der Eingangshalle hing ein gemaltes Plakat, das einen Kasernenhof zeigte. Darauf wurde angekündigt, dass die Pariser am 15. Mai 1938 ein Wiedersehen mit den spaßigen Landsern von Courteline feiern konnten. Zweiundfünfzig Jahre nach ihrem Entstehen stand die berühmte »Militär-Revue in drei Akten und neun Bildern« wieder auf dem Spielplan. Während in Europa schon wieder mit den Säbeln gerasselt wurde, lachte man in Frankreich über die »Gaités de l’escadron«.
Am Ende eines mit allerlei Requisiten vollgestellten Ganges entdeckte ich die Garderoben. Die erste war leer. An die zweite Tür war eine Visitenkarte gepinnt, derzufolge hier kein Geringerer als Professor Sri Aurobindo Bakor, großer Swami von Bombay, zu finden war.
»Hallo Corback!«, rief ich, als ich die Tür aufstieß.
Der Meister schminkte sich gerade ab. Eine Wange war schon sauber, die andere noch nicht. So ähnelte er einem Minz-Lakritzbonbon. Er musterte mich finster, seine Augen waren noch schwärzer als sein Bart. Er sah aus, als wollte er nach mir schnappen.
»Wer hat Ihnen erlaubt hereinzukommen?«, bellte er.
Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte er mit veränderter Stimme, »Pipette, du alte Pfeife! Nes…«
»Stopp! Nicht diesen Namen.«
»Oh, die Zeiten sind wohl vorbei!«
»Ich erkläre es dir…«
»Moment, ich schminke mich ab, und dann kippen wir uns einen hinter die Binde.«
Er klatschte sich eine dicke Schicht Creme ins Gesicht wie eine alte Schachtel das Make-up.
»Bist du nicht mehr bei Borniol?«, fragte ich und schnupperte an einer Dose mit Vaseline.
»Doch, damit bessere ich immer noch mein Gehalt auf. Als Sargträger verdient man sich ja schon keine goldene Nase, aber als Swami ist man wirklich arm dran.«
»Deine Requisiten können ja nicht so teuer sein.«
»Das?« Er deutete auf die Blumen und die Trauergehänge auf den Bügeln. »Nachts wird keiner beerdigt. Erzähl mir lieber was von dir. Immer noch Privatdetektiv?«
»Immer noch. Bei Bohman – Ermittlungen, Nachforschungen, Observationen.«
»Viel ist nicht gerade aus uns geworden.«
Er schnappte sich eine herumstehende Flasche, als die Tür aufging und eine Erscheinung den Raum betrat. Ihr Sari umspannte sie fester als eine Gussform die Bronzestatue. Die Tote war wieder unter den Lebenden.
»Ich habe dir schon mal gesagt, dass du bessere Laken nehmen musst. Du weißt genau, dass dieser Stoff meine Haut reizt«, maulte sie und enthüllte dabei den Ansatz ihrer Brüste. Sie klopfte sich eine Zigarette aus einem Päckchen, das zwischen einem Lidstrich-Fläschchen und schmutzigen Wattestücken lag.
»Ist doch wahr!«, sagte sie an mich gewandt. »Sehen Sie, ich habe lauter rote Flecken.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte ich teilnahmsvoll, ihre Kippe unter meiner Nase. »Nicht mal vor der Schönheit hat Corback Respekt.«
Sie stieß eine Rauchwolke aus: »Ah! Siehst du. Dein Freund ist ganz meiner Meinung. Dabei kenne ich ihn nicht mal.«
Ich hatte das Gefühl, dass die Stimmung kippte: »Ich möchte nicht länger stören.«
Corbeau schien das zu begrüßen.
»Lucia ist nach der Trance immer nervös. Mach dir keinen Kopf, morgen geht es ihr schon wieder besser. Komm doch mal vorbei, dann können wir über alte Zeiten reden. Rue Curial 3. Merk’s dir, ja?«
Ich verzog mich, während die Kleine nörgelte: »Ein Leichentuch aus Seide bringt dich auch nicht um.«
Im leeren Theater packten die Mädchen vom Einlass ihre Siebensachen. Draußen war die Nacht hereingebrochen, und die Bistros hatten sich gefüllt. Ich stopfte meine Pfeife, ging die Rue de Belleville hinunter und stieß dabei immer wieder Rauchwölkchen aus wie eine kleine Lokomotive.
Dieser Corbeau. Das war nun sicher zehn Jahre her. Schon als wir uns kennenlernten, malochte er im Bestattungswesen. Das war in Belgien. Dort hatte er eine Zaubernummer in einem Zirkus. Um die Reisekosten aufbringen zu können, hatte er die Versicherung beschwindelt. Ein vorgetäuschter Arbeitsunfall, eine erlogene Geschichte mit einem Nagel, der aus einem Sarg herausstand. Wer mit verwesenden Leichen zu tun hat, kann sich schon beim kleinsten Wehwehchen eine Infektion holen. Das wollte der Arzt nicht riskieren. Vierzehn Tage Krankschreibung waren immer noch günstiger als so eine verdammte Tetanus-Infektion. Mit dem Attest in der Tasche tauchte Corback in Gent auf. Lebœuf stellte ihn mir damals vor. Auch so ein Kumpel aus der guten alten Zeit. Wenn er nicht gerade Tresore knackte, mimte er auf der Bühne den Herkules. Eine Tätowierung auf seinem Bizeps stellte klar, dass er weder Gott noch Herrn gelten ließ. Corbeau teilte diese Philosophie, also hatten sie sich für ein paar Brüche zusammengetan. Für den guten Zweck. Für ihren. Für unseren.
In der Rue des Couronnes war meine Pfeife erloschen. Ich steckte sie in die Tasche und ging in die Passage Plantin. Die Gaslaternen waren runtergedreht, die Nacht war hier so schwarz, dass man die Hand nicht vor Augen sah. Ideal zum Tresore knacken, dachte ich, da ich gerade mit den Gedanken bei Leboeuf war. Der knackte jetzt vermutlich gerade etwas ganz anderes, nämlich Francos Panzer. Während die braven Bürger in ihren warmen Federbetten lagen, nahm er in Spanien die Panzer unter Beschuss. Ohne großes Tamtam darum zu machen. Weil manche Sachen es wert sind, dass man für sie seine Haut riskiert.
Apropos Haut riskieren: Da in der Ecke wurde sie offensichtlich gerade jemandem über die Ohren gezogen. Das hörte man. Da hatten sie einen in der Mangel. Dafür habe ich einen Riecher. Ich reckte die Nase in die Richtung, aus der das dumpfe Geräusch der Faustschläge kam.
Sie gingen zu viert auf einen los, der versuchte, die Schläge abzuwehren. Schwieriges Unterfangen, wenn man auf dem Pflaster liegt und die anderen nicht mit aufmunternden Sprüchen geizen: »Verdammter Kanake! Deine Goldzähne sollen dir im Hals stecken bleiben.« So was in der Richtung und noch Netteres.
»Bin schon da, Messieurs!«, rief ich. »Zu fünft schaffen wir den Lump...