E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Mamma Carlotta
Pauly Die Tote am Watt
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-492-96079-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Sylt-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Mamma Carlotta
ISBN: 978-3-492-96079-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gisa Pauly lebt als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem wählten die Leser einer Fernsehzeitschrift sie zur beliebtesten Schriftstellerin des Jahres 2018. Ihre Krimireihe um die temperamentvolle Mamma Carlotta stürmt Jahr um Jahr die SPIEGEL-Bestsellerliste.
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1
Für Carlotta Capella führte nur ein Weg nach Rom. Den Berg hinab und dann lange geradeaus.
Als die ersten Verkehrsschilder zur A1 wiesen, fragte sie ihren Sohn zum ersten Mal, ob sie auch wirklich pünktlich am Flughafen ankommen würden. Guido versicherte es ein ums andere Mal, aber seiner Mutter entging nicht, dass auch er immer unruhiger wurde und das Lenkrad immer fester umklammerte.
Als sie bei Orvieto auf die Autobahn fuhren, begann Mamma Carlotta, ihr Blümchenkleid glatt zu streichen, das sie sich extra für diese Reise genäht hatte, und als der Verkehr vor Rom immer dichter wurde, zupfte sie an ihrer neuen Lockenfrisur herum, bis die ganze Pracht, an der ihre Schwiegertochter stundenlang gearbeitet hatte, zum Teufel war. Als der Petersdom in Sicht kam, bereute sie, dass sie den Rosenkranz in den Koffer und nicht in ihre Handtasche gesteckt hatte.
Sie griff nach Guidos Hand, der sie nur ungern vom Lenkrad löste, ließ sie aber schnell wieder los, als sie sah, dass die Augen ihres Ältesten sich mit Tränen füllten.
»Erik hat mich eingeladen«, rechtfertigte sie sich ein weiteres Mal. »Und ich muss doch einmal an Lucias Grab beten.«
Guido nickte und wechselte auf die rechte Spur, wo gerade ein schnittiger Alfa Romeo seinen klapprigen Lieferwagen überholen wollte. Das gefährliche Bremsmanöver, die quietschenden Reifen und das schrille Hupen bekam Guido nicht mit, der mit den Tränen zu kämpfen hatte.
»Lucia ist nach Deutschland gegangen, um zu sterben«, brachte er schließlich hervor.
Seine Mutter machte ihn darauf aufmerksam, dass seine Schwester nicht explizit zu diesem Zweck nach Deutschland gezogen war, sondern dass nur bedauerlicherweise ihr Leben dort geendet hatte. Und sie versuchte, Guido davon zu überzeugen, dass nicht jede Reise nach Deutschland notgedrungen mit dem Tod enden müsse.
»Ob Papa das gewollt hätte?«, fragte Guido.
Mamma Carlotta wusste, was er meinte. Nein, Dino wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, dass seine Frau allein nach Deutschland reiste. Aber Dino Capella war tot, und seine Witwe hatte kurz darauf beschlossen, dass nun die Zeit gekommen sei, eigene Entscheidungen zu treffen.
Carlotta Capella hatte mit sechzehn geheiratet, sieben Kinder bekommen und mit der Pflege ihres schwerkranken Mannes begonnen, noch ehe das jüngste Kind aus den Windeln heraus war. Sie hatte alles getan, was von ihr erwartet wurde. Tag für Tag und bald auch Nacht für Nacht hatte sie an Dinos Bett gesessen, hatte darauf verzichten müssen, Lucia in ihrer neuen Heimat zu besuchen, und war sogar, als ihre Tochter beerdigt wurde, an der Seite ihres Mannes geblieben, weil Dino keinen einzigen Tag ohne sie auskam.
Sie hatte sich in tiefschwarze Kleidung gehüllt, als er starb, und ihr Bestes getan, die Erleichterung über das Ende der ehelichen Pflichten nicht über die angemessene Trauer siegen zu lassen. Aber dann hatte sie sich ganz langsam wieder an das Glück gewöhnt. An das Glück, eine Nacht durchschlafen zu können, ohne von einem stöhnenden Kranken geweckt zu werden, an das Glück, mit ihren Enkeln zu spielen, ohne von einem stöhnenden Mann ins Haus zurückgeholt zu werden, und der Sonne beim Untergehen zuzusehen, ohne die Angst, zu lange auf das Stöhnen gewartet zu haben.
Mamma Carlotta griff nach ihrer Handtasche und kontrollierte zum hundertsten Mal, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Den Lippenstift, den sie sich kurz vor ihrer Abreise gekauft hatte, steckte sie schnell wieder weg. Guido würde nicht verstehen, dass seine Mamma jedes Mal einen Moment des Glücks genoss, wenn sie ihn auftrug, Ober- und Unterlippe gegeneinanderrieb und lange, sehr lange, das erstaunliche Ergebnis im Spiegel betrachtete. Ob es im Flughafen einen Spiegel geben würde?
Als Mamma Carlotta die Abflughalle betrat, dachte sie nicht mehr an den ersten Lippenstift ihres Lebens. Lucia hatte ihr oft vom römischen Flughafen erzählt, aber so groß, so hell, so imposant hatte sie ihn sich nicht vorgestellt.
Ihr Gesicht war bleich, aber ihr Mund lächelte tapfer, als sie sich von ihrem Ältesten verabschieden musste, um sich von den Wartehallen verschlingen zu lassen. Sie warf keinen Blick zurück, um Guidos Tränen nicht sehen zu müssen, sondern folgte mit festen Schritten den Reisenden, die den Eindruck erweckten, sich auszukennen. Manchmal warf Mamma Carlotta einen Blick in eine der unzähligen Glasscheiben, an denen sie vorbeiging. War sie das wirklich? Diese dralle Person, die sich so flink bewegte wie ein junges Mädchen? Deren Augen blitzten, als hätte sie Spaß an diesem Abenteuer?
Auf wundersame Weise kam Mamma Carlotta genau in dem Warteraum an, den die reizende Bodenstewardess ihr genannt hatte. Plötzlich war sie wieder voller Zuversicht, dass sie ins richtige Flugzeug steigen und tatsächlich in Hamburg ankommen würde. Sie fand sogar ohne langes Suchen ihren Sitzplatz. Als die Stewardess ihr erklärte, wie die Sicherheitsgurte anzulegen waren, hielt sie es ohne Weiteres für möglich, auch auf dem Rückflug das richtige Flugzeug zu erwischen und wieder in Rom anzukommen, statt in Peking oder in Timbuktu. Nun mussten nur noch Erik und die Kinder pünktlich in Hamburg am Flugplatz erscheinen, um sie abzuholen …
»Müssen Sie auch nach Sylt?«, fragte sie ihren Sitznachbarn erst auf Italienisch, dann auf Deutsch. Zu ihrer Freude stellte sich schnell heraus, dass sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte.
Der römische Geschäftsreisende bedauerte. »Ich habe in Hamburg zu tun.« Dann erkundigte er sich mitfühlend, ob etwa niemand in Hamburg bereitstehen würde, um sie abzuholen.
Mamma Carlotta beeilte sich zu versichern, dass ihr Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder schon darauf brannten, sie in die Arme zu schließen. »Aber man kann ja nie wissen. Sie könnten einen Autounfall haben …« Prompt fiel ihr Lucia ein, die ihr Leben auf einer deutschen Landstraße gelassen hatte. »Eine unübersichtliche Kurve«, seufzte sie und suchte nach ihren Taschentüchern. »Sie war sofort tot. Madonna! Aber wenigstens hat sie nicht leiden müssen, la mia piccola.«
Der Sitznachbar legte seine Zeitung zur Seite und fragte nach den Einzelheiten. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte, wusste er bereits von Mamma Carlottas Kummer über Lucias Entschluss, mit einem deutschen Touristen in den Norden zu ziehen. Außerdem hatte er Einzelheiten der Hochzeit, der Besuche der Enkelkinder in Umbrien und viel über den Beruf des Schwiegersohns erfahren. »Un Commissario!«
Gerade wollte sie schildern, wie wenig ihr die deutsche Polizeiuniform gefiel und um wie viel schnittiger sie italienische Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen fand, da leitete der Pilot die Startphase ein. Erschrocken drückte sich Mamma Carlotta in den Sitz und entschloss sich zu einem leisen »Gebenedeit seist du, Maria«, das sie abrupt beendete, als sie sich traute, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Madonna! Wir sind über den Wolken!«
Dann knüpfte sie an das Gespräch an. Dem Sitznachbar blieb nichts anderes übrig, als die Zeitung erneut zur Seite zu legen und sich Mamma Carlottas Lebensgeschichte anzuhören. Keine der sieben Geburten blieb unerwähnt, und Dinos Krankheit konnte Mamma Carlotta sogar mit medizinischen Fachausdrücken schmücken. Zwischendurch lobte sie das Essen, das die Stewardessen servierten, und konnte sich nicht genug darüber wundern, wie die ganze Kocherei in einem fliegenden Flugzeug zu bewerkstelligen war. Dann fuhr sie fort, einen Überblick über die Familie Capella zu geben. Als sie bei den Lebensläufen ihrer Schwiegertöchter angekommen war und sich gerade anschicken wollte, die schwere Erkrankung der ältesten Tante von Guidos Frau zu schildern, setzte das Flugzeug zum Landeanflug auf Hamburg an. »Wir sind schon da?«
Der Sitznachbar, der jede Gegenwehr längst aufgegeben hatte, bot Mamma Carlotta an, den Platz zu tauschen, damit sie am Fenster sitzen und sich Hamburg von oben ansehen konnte.
»Sprechen Sie überhaupt deutsch?«, fragte er besorgt.
»Ma sì!« Mamma Carlotta machte Anstalten, die gesamte Unterhaltung, die sie bisher auf Italienisch geführt hatten, in Deutsch zu wiederholen. Aber zum Glück wurde sie durch die Aussicht auf den Hamburger Hafen davon abgehalten.
Den römischen Geschäftsreisenden streifte die Ahnung, dass diese italienische Mamma aus Umbrien eine erfolgreiche Frau geworden wäre, wenn das Schicksal sie an einen anderen Platz gestellt hätte. Dabei wusste er nicht einmal, dass Carlotta Capella niemals Unterricht erhalten, sondern die deutsche Sprache neben dem Bett ihres schwer kranken Mannes erlernt hatte. Dort hatte sich Lucia zu ihr gesetzt, wenn sie zu Besuch in Umbrien war, und ihrer Mutter Deutschunterricht erteilt, damit sie ihre Enkel verstehen konnte. Dort hatte auch die Nachbarin mit ihr deutsch gesprochen, eine junge Frau, die als Touristin von Berlin nach Umbrien gekommen war, sich dort verliebt und einen italienischen Weinbauern geheiratet hatte. Sie war glücklich, wenn sie Deutsch reden konnte, und Mamma Carlotta war glücklich, wenn sie Deutsch lernen durfte. Je weiter sie mit ihren Fähigkeiten fortschritt, umso häufiger kam die Nachbarin zu Besuch, um mit Mamma Carlotta in ihrer Muttersprache zu plaudern.
Dann war Carolin herangewachsen, die schon früh beschloss, Lehrerin zu werden, und ihre Großmutter als erste Schülerin entdeckte. Während der Ferien paukte sie unermüdlich Vokabeln mit der Nonna, fragte sie ab, ließ sie kleine Tests schreiben, versorgte sie mit Büchern und vergewisserte sich zu Beginn der nächsten Ferien, dass die Nonna alle Aufgaben, die man ihr zurückgelassen hatte, sorgfältig gelöst hatte. Und Mamma...