Paulus | Bayerns Zeiten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 616 Seiten

Paulus Bayerns Zeiten

Eine kulturgeschichtliche Ausleuchtung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7917-6208-1
Verlag: Pustet, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine kulturgeschichtliche Ausleuchtung

E-Book, Deutsch, 616 Seiten

ISBN: 978-3-7917-6208-1
Verlag: Pustet, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anhand von zwölf Themenfeldern wird die Vielfalt der bayerischen Kultur beschrieben - vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Der behandelte Raum umfasst das gesamte Bayern: Altbayern, Schwaben und Franken. Sowohl die Auswahl und Anordnung der Themen als auch die essayistische Schreibweise sind erfrischend anders. Der Autor widmet sich neuen oder bisher kaum beachteten Bereichen; spezifische Fragestellungen lauten etwa: Wie erlebten Menschen früher das Überschreiten einer 'Landesgrenze'? Wo begann eine Stadt? Warum gingen in Bayern die Uhren anders? Das Rückgrat bildet eine 'Klanggeschichte' im weiten Sinn: Geißelschläge, Saitenspiel, Schlachtenlärm, Klosterstille. Und noch etwas zeigt das Buch: Schriftquellen sind das eine - Bauten, Topografie, Glocken, Fresken, Volkslieder, versunkene Schiffe, Pigmente und Pestgenome können ein anderes Licht auf die bayerische Geschichte werfen.

Christof Paulus, Dr. phil., geb. 1974, ist Wiss. Mitarbeiter am Haus der Bayerischen Geschichte und außerplanmäßiger Professor für Mittelalterliche Geschichte und Landesgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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BEWEGTE RÄUME


Das vermessene Land


Die Nacht war kühl und miserabel gewesen. Leutnant Joseph Naus hatte sie weitgehend damit zugebracht, am Feuer sitzend Flöhe zu knacken. Am 27. August um 4 Uhr in der Früh machte sich dann die kleine Gruppe aus der „Flohhütte“ auf den Weg – Naus, der Bergführer Johann Georg Tauschl und ein Gehilfe. Um 11 Uhr 45 standen sie auf dem Westgipfel der Zugspitze. Damit gelang ihnen die erste datierbare Besteigung von Bayerns und Deutschlands höchstem Berg. Man schrieb das Jahr 1820. Lang konnten die drei nicht auf dem Gipfel bleiben. Ein Schneesturm tobte, ein Gewitter ging nieder, ein Blitz schlug neben ihnen ein. So war auch kaum an den eigentlichen Auftrag ihrer Unternehmung zu denken: die Grundlagen für die Werdenfelser Karte zu schaffen. Der Tiroler Naus war Geodät, auch Geometer genannt, einer von vielen, zumeist Freiberuflern, die schlecht bezahlt nicht nach Arbeitsstunden, sondern nach Ergebnis Bayern unters Messinstrument legten. Angefangen hatte das Großprojekt einer Kartographierung des ganzen Lands fast auf den Tag genau 19 Jahre vor jener denkwürdigen Zugspitzbesteigung. Am 25. August 1801 waren im Auftrag des Topographischen Bureaus die ersten Stative und Messstangen für die „Grundlinie Bayerns aufgestellt worden. Diese verlief zwischen Oberföhring und Aufkirchen, gut 21,5 Kilometer lang, in Plänen „la base de la Goldach“ genannt nach dem rechten Isarzufluss Goldach. Diese Basis hatte man gewählt, da hier kaum Höhenunterschiede zu überwinden waren. Ausgerichtet war die Strecke an zwei Sichtpunkten: der Frauenkirche in München und dem markanten Turm des Gotteshauses in Aufkirchen – doch steckte hinter dieser Entscheidung kein religiöses Ansinnen, wie man meinen könnte. Noch heute stehen die Basispyramiden dieser ersten Vermessung Bayerns in Aufkirchen und Oberföhring.

Das Land systematisch zu vermessen, diese Idee war das Kind einer rational-empirisch-mathematischen Aufklärung. Die Initiative dazu ging von den Franzosen aus, die Bayern besetzt hielten, allen voran von Napoleon, für den militärische Interessen im Vordergrund standen – eine gute Karte konnte kriegsentscheidend sein. Von bayerischer Seite kamen finanzielle Aspekte hinzu: Die wichtigste Einnahmequelle des Staats war die Besteuerung von Grund und Boden. Hierfür wurden bis dahin ganz unterschiedliche Vorschriften in den unterschiedlichen Teilen Bayerns zugrunde gelegt. Eine einheitliche Katastrierung musste also her, und dafür hatte man im Juni 1801 das erwähnte Topographische Bureau ins Leben gerufen. Sein Schöpfer war Joseph von Utzschneider.

Utzschneider zählte zu den markantesten Köpfen einer Pioniergeneration um 1800. Geboren als Sohn eines Bauern in Rieden am Staffelsee, gründete er mehrere Unternehmen, setzte sich für die Kultivierung des Donaumooses ein, verbesserte das bayerische Salinenwesen, und insbesondere dessen Soleleitungen – an der ersten Soleleitung zwischen Reichenhall und Traunstein war bereits 1617 gebaut worden –, machte sich um die Nutzung der Staatsforsten und die Ausbildung des dortigen Personals verdient. Auch als Vorstand der Polytechnischen Centralschule, Vorläufer der Technischen Universität in München, war Utzschneider ein Mann der Anfänge, ein Anstifter, weniger ein Projektverwalter. Visionär oszillierte er von Idee zu Idee. Eine davon war die „Vermessung Bayerns“, eine andere die Glashütte in Benediktbeuern. 1805 hatte Utzschneider die altehrwürdige Klosteranlage der Benediktiner im Voralpenland erworben, wo seit der Säkularisation zwei Jahre zuvor keine Mönche mehr beteten und arbeiteten. Im alten Waschhaus ließ er eine Glasschmelze und -schleiferei einrichten. Unter Leitung des Straubingers Joseph von Fraunhofer wurden dort bis 1819 die reinsten Linsen ihrer Zeit für hochwertige optische Präzisionsinstrumente hergestellt. Und solche benötigte man für das Großprojekt der bayerischen Landesvermessung. Diese wurde von einer genialischen Aufsteigergeneration geprägt: Fraunhofer war Vollwaise, Georg Friedrich von Reichenbach, dessen Theodoliten Winkelmessungen in bisher ungeahnter Präzision erlaubten, war Sohn eines badischen Schlossermeisters. Joseph Schiegg, ehemals Pater Ulrich aus dem schwäbischen Reichskloster Ottobeuren, war nicht nur ein Flugpionier, sondern auch mathematischer Impulsgeber für eine moderne Höhen-, Längen- und Breitenmessung. Auf Schieggs Empfehlung wurde der Feuchtwanger Kuhbub Johann Georg Soldner 1808 als Trigonometer eingestellt.

Und so legte sich in immer dichterer Folge Dreieck um Dreieck – aus den Winkeln erschloss man die Strecken – über die bayerischen Lande. Utzschneider und seine Weggefährten waren die Köpfe der Vermessung, daneben werkelte ein Heer von Händen – Geometer, die wie Naus umherzogen, sich die Arbeitsgeräte selber kaufen mussten, im Schlepptau Gehilfen, bisweilen Ehefrau, quengelnde Kinder. Ihre prekäre Lage wurde sogar vor dem Landtag verhandelt, Verbesserungen kamen dennoch nur schleppend voran. Zur wirtschaftlichen Not kam der Widerstand insbesondere der Bauern, die wenig begeistert waren, wenn die Vermesser mit ihren Instrumenten durch die Äcker stapften. Und sie ahnten, was langfristig das End’ vom Lied sein würde: eine neue Besteuerung. Staatlicherseits drohte man und verhängte Strafmaßnahmen gegen diejenigen, die sich Messungen und Messenden entgegenstellten.

Das Projekt machte Bayern nach Frankreich zum zweiten Land, das auf Grundlage der „Revolutionsmaßeinheit“ verzeichnet wurde: das (!) Meter. Auch daran rieben sich nicht wenige Bayern – die neuerliche „Eroberung“ gleichsam mit dem Zollstock. Sie setzten die traditionelle Einheit der Rute (ca. 2,9 Meter oder zehn Fuß) dagegen und nach Abzug der Franzosen auch durch. Erst 1867 konnte das monumentale Vermessungsunternehmen abgeschlossen werden, im Folgejahr wurde der Grundsteuerkataster erstellt. Es kam dem Projekt eine weitere Erfindung zugute: Alois Senefelder entwickelte beim Experimentieren mit Solnhofer Kalkschiefer den Steindruck, die Lithographie. Das Verfahren war kostengünstig und ermöglichte eine schnelle Reproduktion. Heute hütet das Bayerische Vermessungsamt in München diese Steinbibliothek – rund 26 500 Lithosteine, zweifellos die schwerste Bayernkarte aller Zeiten. Das Meter kam übrigens nach Bayern zurück: 1871, dieses Mal nicht durch die Franzosen, sondern – für Bayern kaum weniger schmerzhaft – durch die Preußen. Bayern war nun Gliedstaat des eben erst in Versailles proklamierten, kriegsgeborenen Deutschen Reichs. Klar war, wer das Sagen hatte und eben auch das Maß vorgab.

Die Vermessung Bayerns hatte mehr als ein halbes Jahrhundert in Anspruch genommen. International gab es Lob für die gewaltige Leistung. Das Großprojekt hatte nicht wenige Institute und Institutionen geschaffen und in metaphysisch-philosophischer Hinsicht letztlich endgültig den Raum entzaubert. Erfahrungswerte – wie weit ist es bis in die nächste Stadt? – wichen genauen Maßeinheiten, die Welt wurde mathematisiert. Zu einer Zeit ungehemmten Fortschrittsglaubens wurde das Messbare zum Maß aller Dinge. Der vermessene Raum hatte sich im Zuge des Unternehmens verändert, hatte gleichsam geatmet, sich zusammengezogen und ausgedehnt: Während die Vermesser Berge bestiegen, über Hügel und durch Wälder marschierten, verschoben sich die Grenzen Bayerns aufgrund der politischen Entwicklungen der napoleonischen und nachnapoleonischen Ära mehrfach. Überspitzt könnte man sagen: Die Karten machten weitgehend Bayern, die Grenzen schufen und bestätigten vielfach andere.

Kartographisch an der europäischen Spitze war Bayern übrigens schon einmal gewesen, rund 300 Jahre vor jener Vermessung im 19. Jahrhundert. Bayerns Grenzen waren damals wieder andere. 1554 beauftragte Herzog Albrecht V. den gebürtigen Ingolstädter Philipp Apian, eine moderne Karte des Landes zu erstellen. Auch hinter diesem Projekt standen nicht zuletzt herrschaftliche Gründe. Philipps Vater Peter Bienewitz, latinisiert Apianus, aus Sachsen nach Bayern gekommen, hatte in Ingolstadt eine Druckerei gegründet, auch für Kartenwerke. Was die Lithographie für die Vermessung des 19. Jahrhunderts war, war für Apians Kartenwerk die Erfindung des Buchdrucks, die rund ein Jahrhundert zuvor die Verbreitungsmöglichkeiten für Schriften jedweder Art revolutioniert hatte. 1561 beendete Philipp Apian seine bayerische Landvermessung, 1563 war die ca. 6,4 × 6,4 Meter „Große Karte“ im Maßstab von ca. 1:50 000 fertig. Herzog Albrecht V. ließ sie in seiner Hofbibliothek anbringen. „An der Wand hangt auch des Philipp Appiani grosse Mappa“, notierte 1611 der Kunstnetzwerker Philipp Hainhofer. Jedem Besucher wurde deutlich vor Augen geführt, worüber der Hausherr herrschte. Die „grosse Mappa“ aus 16 Rollen reichte im Westen weit über den Lech, griff im Norden bis an die Tore der Reichsstadt Nürnberg aus, im Osten bis ins heutige Österreich und im Süden bis zu den Alpen. 1566 erschienen dann als Substrat für die Praxis die „bairischen Landtafeln“, 24 Holzschnitte im kleineren...


Christof Paulus, Dr. phil., geb. 1974, ist Wiss. Mitarbeiter am Haus der Bayerischen Geschichte und außerplanmäßiger Professor für Mittelalterliche Geschichte und Landesgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.



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