E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Pauls Meine Lene
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1394-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1394-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tom Pauls, geboren 1959 in Leipzig, Schauspieler und Kabarettist. Regelmäßig gastiert er auf Kabarettbühnen, in großen Konzerthäusern, drehte mehrere Spielfilme und ist regelmäßig im Fernsehen zu sehen. Seit 50 Jahren steht er auf der Bühne, gründete vor 40 Jahren das legendäre »Zwinger-Trio«. Populärste Bühnenfigur ist die sächsische Witwe Ilse Bähnert, der Tom Pauls seit vielen Jahren Leben einhaucht. Am 11.11.2011 gründete der Schauspieler das Tom Pauls Theater in Pirna, spielt dort seine erfolgreichen Stücke und begrüßt, wann immer er kann, die Gäste persönlich.
Im Aufbau Verlag sind seine Bücher »Das wird mir nicht nochmal passieren. Meine fabelhafte Jugend«, »Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte« (zus. mit Bernd-Lutz Lange), »Deutschland, deine Sachsen. Eine respektlose Liebeserklärung« (zus. mit Peter Ufer), »Meine Lene. Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt«, »Tom Pauls - macht Theater. Ein Stück vom Leben« und »Weihnachten in Tohuwabohu« (zus. mit Peter Ufer) lieferbar.
Mehr Informationen unter tom-pauls-theater.de
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1. Was soll das?
19.30 Uhr, Vorstellungsbeginn: Ich müsste jetzt auf die Bühne, aber ich kann nicht. Irgendetwas hält mich zurück. Vor mir der Spiegel in der Garderobe, auf meinem Kopf die Perücke und der Strohhut. Meine Füße stecken in Hausschuhen aus Kamelhaar, ich trage ein Kostüm, darüber eine Kittelschürze. Und ich frage mich plötzlich: Was soll das?
Draußen wartet das Publikum, die Theaterklingel läutet, ich aber sitze in der Garderobe auf einem Stuhl vor dem Schminktisch und sehe im Spiegel eine ältere Dame mit grauem Haar: Ilse Bähnert. Ich bin fast sechzig Jahre alt und frage mich ernsthaft: Warum spiele ich diese Frau? Irgendwann muss es angefangen haben, dass ich mir Damenstrümpfe anzog und in der Dederonschürze auf die Bühne ging, um die Welt im sächsischen Dialekt zu erklären. Das war 1990. Es hatte bis dahin noch nie so eine Rolle gegeben. Ich suchte in einer Zeit, als Sachsen wieder Sachsen heißen durfte, Figuren, um das Lebensgefühl der Menschen in diesem Land zu zeigen. Es war ja 1952 verschwunden und blieb dennoch unvergessen. Genau wie die Texte der Leipziger Dichterin Lene Voigt. Sie erfand in den 1930er Jahren die Bähnerten. Sie schrieb mit herzlicher Heiterkeit auf, was sie erlebte. Ich hatte die Chance, aus ihrem unendlichen Lebensuniversum zu schöpfen. Aber das erklärt noch lange nicht, warum ich Ilse Bähnert bis heute, fast dreißig Jahre später, spiele.
Die lustige Witwe aus Sachsen ist eine Kleinbürgerin, die sich stets dagegen wehrt, kleinbürgerlich zu sein. Sie ist fähig zu ernsthafter Selbstironie, sich völlig im Klaren über ihre Lage, die ein Immobilienhändler als »unverkäuflich« einstufen würde. Ilse dagegen bleibt heiter und optimistisch, verpackt ihre Illusionen in ein kleines Päckchen, wirft es in den Fluss und empfiehlt: »Schau noch ein Weilchen nach, bis deine Bürde zum Nichts verstrich. Dann sag zum Schicksal trotzig und mit Würde: Jetzt kannst Du mich …« So schrieb es Lene Voigt und genau in diesem Witz und dieser Würde ist ihr Optimismus begründet.
Die Bähnerten wirkt wie ein wandelndes Lexikon bekümmerter Lebenserfahrungen, als bodenständiges Unikum aus dem Hinterhof der Geschichte mit einem Hang zu den feinen Leuten, immer auf der Höhe der Zeitgeister, nah dran an den alltäglichen Katastrophen und katastrophalen Alltäglichkeiten. Eine merkwürdige Frauenfigur, etwas unzufrieden, etwas schnippisch, aber lebensklug. Hinter jedem Irrsinn ein Sinn, auf jeden Witz folgen ernste Momente zwischen den Lachern. Unverwüstlich, unverbesserlich, unglaublich. »Höhepunkte, Höhepunkte, Höhepunkte und aus allem das Beste machen«, so heißt ihr Lebensmotto.
Ich sehe in den Spiegel und frage mich erneut: Warum spiele ich Ilse Bähnert? Ich schließe die Augen, in meinem Kopf verlaufen die Gedanken wie Aquarelle im Regen, und ich sehe mich plötzlich als neunjährigen Jungen auf einem Teppich.
Ich liebte es, auf diesem Teppich zu sitzen, denn es war ein dicker Perser, in dem meine kleinen Spielzeugautos versanken wie Riesen im Sand. Der Teppich lag mitten in der Stube der Leipziger Wohnung meiner Großeltern. In der Stube pendelte der Regulator die Stunden. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, auf dem Tisch flackerten vier Kerzen. Die Tür öffnete sich und mein Großvater kam herein. Er trug Papiere und Bücher auf dem rechten Arm, warf alles auf den Fußboden, zog die Tür des Kachelofens auf, stopfte die bedruckten Blätter zwischen das glimmende Holz und sagte wütend: »Weg, alles weg.« Dann lief er wieder hinaus, ließ die Tür offen, kam mit neuen Büchern auf dem Arm zurück, stellte sie neben den Ofen. Dann schmiss er zwei der Bücher in die Flammen, sagte wieder: »Weg, weg mit dem alten Zeug.«
Meine Großmutter Charlotte trat ins Zimmer, ich kroch schnell unter den Tisch, bis an die Wand, um Schutz zu suchen. Ich atmete ganz leise, um mein Versteck nicht zu verraten. Meiner Großmutter liefen Tränen über die Wangen, sie schrie ihren Mann an: »Hör sofort auf damit! Hör auf!« Aber mein Großvater dachte nicht daran. Er stopfte Bücher und Blätter in den Ofen, dass die Flammen in die Höhe schlugen.
»Was meinst du, wer das alte Zeug hier noch lesen will?! Was meinst du denn, wer überhaupt noch liest?«
»Das sind die Bücher von Friedel, deiner Mutter, die kannst du doch nicht einfach verbrennen«, antwortete meine Großmutter.
Ihr Mann sah sie an und sagte: »Sie ist tot. Und das alte Zeug hier hat meine Mutter umgebracht. Aus der Irrenanstalt kommt dieser ganze Kram. Was glaubst du denn, was sie so traurig gemacht hat, was glaubst du denn, was sie umgebracht hat. Ich nicht. Aber dieses alte Zeug hier.«
Meine Großmutter nahm drei der Bücher und wollte aus dem Zimmer gehen, aber mein Großvater versperrte ihr den Weg. Er riss ihr eines der Bücher aus der Hand und sagte: »Sieh dir das an. Sieh dir das an und lies: Ludwig Anzengruber, der Sternsteinhof. Lies mal diesen Blödsinn.« Er schlug die erste Seite auf und las: »Ein Gußregen war herniedergerauscht. Wallend und gischend schoss das sonst so ruhige Wässerlein zwischen den zwei Hügeln dahin; auf der Höhe des einen stand ein großes, stolzes Gehöft, am Fuße des anderen, längs den Ufern des Baches, lag eine Reihe von kleinen Hütten.« Meine Großmutter sah ihn fragend an: »Was willst du mir damit sagen?«
Mein Großvater schleuderte das Buch auf den Fußboden, es rutschte unter den Tisch, wo ich hockte. Er sagte: »Das ist Dorfdusselgeschreibsel, es verkleistert das Hirn, es hat Friedel trübsinnig gemacht, schwermütig, verstehst du? Weg, weg damit, sonst landest du auch noch in der Anstalt.«
Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Was hat meine Mutter immer gesagt, wenn ich sie gefragt habe, warum sie so viel liest? Weißt du es noch?« Meine Großmutter schüttelte den Kopf. »Ich werde es nie vergessen, was sie gesagt hat: Wenn mor sich in ä Buch versenkt, was drinne steckt, ooch überdenkt, dann läbt mor so recht eechendlich, in enner kleenen Welt für sich.«
Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen und schüttelte den Kopf. Meine Großmutter schloss die Ofentür und schob meinen Großvater aus dem Zimmer. Ich sah das Buch vor mir liegen, vorn auf dem grauen Einband ein blauer Aufdruck: Hafis Lesebücherei. Vorsichtig zog ich das Buch zu mir, nahm es in die Hände, hob es an meine Nase und atmete den Geruch des Umschlags ein. Er roch merkwürdig, ein wenig verstaubt, ein wenig feucht, leicht parfümiert – und vor allem: seltsam vertraut.
Als ich das Buch öffnete, entdeckte ich ein Oktavheft, ein kleines blaues Heft, wie wir sie auch in der Schule benutzten. Vorn auf der Titelseite stand auf einer der zwei Linien: L.V. Ich öffnete das Heft und sah mit Bleistift beschriebene Zeilen. Die Schrift fiel leicht nach rechts, die Buchstaben besaßen famose Bögen und verschnörkelten sich ineinander. Zwischen jedem Wort befand sich exakt derselbe Abstand. Die einzelnen Zeilen standen akkurat untereinander, am Ende aber flatterten sie, ergaben Überhänge und Stufen. Vielleicht, so dachte ich, könnte ich mich an den Punkten, Kommas und Fragezeichen entlanghangeln wie ein Bergsteiger, der einen Gipfel erklimmt. Oben würde ich dann auf der Überschrift stehen, um den Fels aus Buchstaben zu bewundern.
Ich begann das Gedicht auf der Seite zu lesen, aber ich vermutete, dass es sich um eine Mischung aus einer Fremdsprache – vielleicht Holländisch – und Deutsch handeln musste, denn die ersten zwei Worte hießen: Enne gleene. Dann folgte das Wort: Hoffnung. Über dem u befand sich ein Haken. So schrieben wir in der Schule nicht. Ich blätterte weiter, und da sah ich Sätze, die ich lesen konnte: »Keiner denkt daran wohl gern, daß es einst zu Ende.«
Dann schloss ich das Heft und atmete erneut den Geruch des Umschlags ein. Dabei fiel mir auf, warum mir dieser Geruch so vertraut erschienen war: Das Heft roch genau so wie die Kleider meiner Urgroßmutter. Sie hatte immer in dem Sessel neben dem Regulator gesessen und leise ihr weiches Lachen gelacht. Gesagt hatte meine Urgroßmutter in den letzten Monaten vor ihrem Tod nichts mehr. Sie hatte in dem Sessel gesessen, gelacht und gelesen. Oft lag das Buch von Anzengruber, das mein Großvater verbrennen wollte, auf ihren Knien. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Manchmal kitzelte ich sie an den Beinen, dann schmunzelte sie im Schlaf. Nun war der Sessel leer.
Ich hörte meine Großmutter und meinen Großvater in der Küche reden, schlich über den Korridor in mein Zimmer, holte das Oktavheft aus dem Versteck zwischen meinem Hemd und meinem Körper hervor und legte das Diebesgut in eines meiner Schulbücher. Geduldig wartete ich bis zum Abend, denn ich wollte meinen Schatz noch genauer betrachten. Als es ganz still in der Wohnung war, holte ich mein Schulbuch, nahm das kleine Heft heraus und betrachtete es im Licht meiner Taschenlampe. Hinter dem etwas dickeren blauen Umschlag war das Papier im Inneren bräunlich, an den Rändern ein wenig geknickt, und wenn ich es in die Luft warf, dann öffnete sich das Heft in der Mitte, als hätte es mehrere Flügel und könnte fliegen. Ich stellte mich auf das Bett, probierte mehrmals Start und Landung. Mein kindlicher Gutachterblick schätzte das Oktavheft auf einen antiquarischen Höchstwert. Hier handelte es sich sicher um das geheime Tagebuch eines großen Schriftstellers, dessen Werk ich vor der Verbrennung gerettet hatte.
Allerdings passte etwas nicht. Die Buchstaben L.V. stimmten nicht mit dem Namen überein, den mein Großvater genannt hatte. Die Initialen eines Ludwig Anzengruber wären L.A. gewesen. Ich...