E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Pauli Jugend nachher
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-903184-55-8
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-903184-55-8
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Irene, 15, hat das KZ überlebt, sie kommt zurück in die Stadt und muss bald feststellen, dass sich an Hass und Misstrauen seitens der Bevölkerung nichts geändert hat. Niemand will von ihrer Vergangenheit wissen, man betrauert den verlorenen Krieg, fühlt sich vom
Führer betrogen. Auch von Irene wird erwartet zu schweigen.
Einer der besten Romane zur psychologischen Situation nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in Österreich.
Nach der Befreiung aus dem KZ befreundet sich Irene im amerikanischen Lazarett mit Michael, einem ehemaligen Hitlerjungen, der ihr von der "Wolfsbande", erzählt; seine
Schilderungen von Kameradschaft und Zusammengehörigkeit faszinieren sie. Irenes Problem ist ihre Ortlosigkeit. Für sie und ihre Erlebnisse ist nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes kein Platz.
In der kleinen Pension ihrer Tante findet Irene als kostenloses Hausmädchen eine lieblose Unterkunft und wird ab sofort mit dem ungehemmten Fortleben der NS-Ideologie konfrontiert. In diesem Ambiente, wo keiner dem anderen traut, ist Irenes Lager-Vergangenheit die eigentliche Schande, die es zu verbergen gilt. Ebenso naheliegend ist es, dass die kriminellen Umtriebe einer übrig gebliebenen HJ-Gruppe unter der Schlagzeile "Missbrauchte Pfadfinderideale" Platz finden. Es ist genau jene Gruppe, der Michael angehört – und auch der junge Toni, in den sich Irene nach einigen geheimen Treffen verliebt hat. Toni will aussteigen aus der verschwörerisch organisierten Gruppe, in der ein skrupelloser "Führer" ein autoritäres Kommando führt. Die beiden wollen fliehen.
Die Art und Weise, wie Hertha Pauli in diesem Roman die psychologischen Trennlinien zwischen den verschiedenen Motivationen und Standorten der jugendlichen und erwachsenen Akteure setzt, ist ein finaler Kommentar zum Umgang mit der NS-Vergangenheit, vorgelegt im Jahr 1959. Damals wurde es wurde mit Heinrich Bölls "Haus ohne Hüter" verglichen.
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II
Die Wärme war es, die mich wieder zum Leben erweckte, kein Zweifel. Ich schlug die Augen auf und sah einen weißen Raum, so weiß wie diese Küche und ebenso sauber. Da saß auch eine Frau neben mir, sie trug eine weiße Haube und eine Rote-Kreuz-Binde um den Arm. Das erschreckte mich. Ich begann mich zu erinnern: Das rote Kreuz hatte ich zuletzt auf einem Arm neben dem Hakenkreuz gesehen – so trugen es die SS-Sanitäter, die mit der Giftspritze zu uns ins Lager kamen. Es war ganz dumm, sich zu fürchten, denn so eine Spritze war das Beste, was du kriegen konntest. Man spürt den Stich kaum und dann schläft man eben ein. Die anderen, wie meine Eltern auch, waren ins Gas gekommen, das muss viel schlimmer sein. Da möchte man sich vielleicht gar noch wehren. So müde, wie ich war – so müde, dass ich Hunger und Kälte schon gar nicht mehr spürte –, wollte ich ihnen gerne nach, ohne aufzustehen. Wie durch einen Nebel hörte ich noch eine Stimme: »Das ist ja bloß ein Kind …« Dann wusste ich nichts mehr. Es war ganz ruhig. Wie war ich bloß in den weißen Raum gekommen? Die Frau neben mir musste eine Rote-Kreuz-Schwester sein, sie sagte etwas, aber ich konnte es nicht verstehen. Dann fingen die Schmerzen an, auf der ganzen rechten Seite. Sie mochten von der Spritze oder von der Kälte kommen. Das rechte Bein war von oben bis unten blau angelaufen. Bewegen konnte ich mich kaum. Ich konnte auch nichts zu mir nehmen, sondern döste so vor mich hin, in einer Art Halbschlaf. Wie lange das gedauert hat, weiß ich nicht. Bald konnte ich die Roten-Kreuz-Schwestern neben meinem Bett unterscheiden. Eine sprach sogar deutsch und ich hörte von ihr, dass ich in einem amerikanischen Lazarett war, als einzig Überlebender aus dem Lager. Es wunderte mich sehr, denn die Spritzen waren uns verabreicht worden, damit wir das Eintreffen der Amerikaner nicht mehr erleben sollten. Der Sanitäter musste sich in der Dosis geirrt haben, in der Eile oder auch deshalb, weil ich bloß ein Kind war. Jetzt kam ich mir sehr erwachsen vor, besonders als ich eines Tages aufstehen und bald darauf an einem Stock in den Gang hinaushumpeln konnte. Da stand ich richtig aufrecht – und musste lachen! An diese Möglichkeit hätte ich nie gedacht. Es war ein ganz neues Gefühl, eine Art Kitzel, der aus dem Magen kam und hungrig machte. Ein nagender, rasender Hunger war das, der alles auffressen wollte. Ich bog mich vor Lachen und spürte mit einem Mal, dass ich wirklich am Leben war. Der Junge vor mir lachte auch. Er hatte zu lachen angefangen, wie ich angehumpelt kam. Ich nahm es ihm aber nicht übel, denn ich spürte gleich, dass der da mich nicht auslachte – nein, der lachte mich nur an, weil wir zwei Krüppel so gut zusammenpassten. Dabei streckte er mir seine linke Hand entgegen, weil er keine rechte besaß. »Na, wo hat’s denn dich erwischt?«, rief er und blinzelte mir vertraulich mit dem rechten Auge zu. Über dem linken trug er eine schwarze Binde. Mir verging das Lachen. Nicht wegen der Binde über seinem Auge oder wegen des leeren Ärmels, der von seiner Schulter baumelte, sondern weil seine selbstverständliche Frage eine Kluft zwischen uns aufriss. Natürlich war der von einer Bombe verletzt worden wie die anderen Patienten hier, wie das normal und ehrenvoll war. Natürlich war er früher in der Hitlerjugend gewesen, wie sich das gehört. Nie durfte ich zugeben, dass ich aus einem Lager kam. Lügen hatte ich gelernt. Also nahm ich mich zusammen, brachte zwar keinen ordentlichen Satz heraus, warf aber mit einem Achselzucken hin: »Draußen halt – die Kälte –« Das gefiel ihm. »Wenn’s sonst nichts ist«, meinte er tröstlich, »das geht vorüber. Solang sie dir nichts abgeschossen haben, bist du fein raus.« Ich nickte ihm zu. Da kam er näher und flüsterte mit gewissem Stolz: »Bei mir sind’s gar nicht die Amerikaner gewesen, verstehst – nicht bei mir!« Er schien auf eine Frage zu warten, aber ich traute mich erst nicht. Der verächtliche Ton, in dem er das Wort »Amerikaner« ausgesprochen hatte, machte mich vorsichtig. Er fixierte mich mit seinem einen Auge und wartete ab. Vor Neugierde brachte ich schließlich doch zwei Worte heraus: »Wer denn?« Er schwoll richtig auf. »Ich selber.« Zuerst verstand ich gar nicht, wie das möglich war. Es klang sehr stolz, wie er die Geschichte von sich gab; dabei flüsterte er, als dürfe es ja keiner hören. »In den Trümmern hab ich sie gefunden, beim Flak-Spielen. Hast du einmal eine Handgranate in der Hand gehabt? Großartig, sag ich dir. Dabei sieht’s nach gar nichts Besonderem aus. Ganz gewöhnliches rundes Ding. Ich wollt’s einpacken und mitnehmen, für die Zeit, wo unsereiner wieder so Zeug gebrauchen kann. Wenn wir wieder am Schmeißen sind, mein ich. Aber das Ding hat nicht so lang warten wollen. Kaum heb ich’s auf, hat’s gekracht. Bumm – und weg war ich.« Er war sichtlich begeistert von dem Gedanken, dass er eine Explosion zustande gebracht hatte. In meiner Verlegenheit murmelte ich was von Angst vor Handgranaten. Da musste er laut lachen. »Bist halt ein Mädel«, stellte er fest, so verachtungsvoll, wie er vorher von den Amerikanern gesprochen hatte. Die Kluft lag wieder zwischen uns. Ich wollte rasch von ihm weghumpeln, es war nicht leicht, aber er rief mir doch voller Neid nach: »Du hast ja all deine Glieder!« Da tat er mir leid – und damit hat alles begonnen. Auf einmal war er dicht bei mir und ließ sich meinen Stock zeigen. Ich musste mich an ihm anhalten, weil ich ohne Stock noch gar nicht stehen konnte. Er versuchte, den Stock in seinen leeren Ärmel zu stecken; das sah unheimlich aus, schien ihm aber zu gefallen, denn er sagte: »Wenn du ihn nicht mehr brauchst, kannst ihn mir schenken …« Ich musste es ihm versprechen und fügte nur hinzu: »Wenn wir herauskommen.« Das Fenster vor uns war vergittert. Man konnte aber gut durchsehen, besonders auf die Schutthaufen und Mauerreste rechts unten. Nun wollte er wissen, was es links gab. Natürlich waren da auch Trümmer, und ich tröstete ihn, dass er nichts versäume. Jetzt lachten wir wieder alle zwei. »Wird alles wieder aufgebaut«, versicherte er mir und setzte hinzu: »Ich muss mir nur noch den richtigen Arm dafür suchen.« Er machte mich immer wieder neugierig. Ich wollte wissen, wo er hingehen würde, wenn er herauskäme. Er zuckte nur die Achseln, was ihn noch schiefer erscheinen ließ – besonders im Rücken, doch zog es sich bis ins Gesicht hinauf. Allerdings konnte das auch am fehlenden Auge liegen. So sah der Kerl aus – und dazu erklärte er sehr von oben herab: »Mir steht die ganze Welt offen.« Er war unbeschreiblich. Ich starrte ihn nur an. Irgendwer musste ihm einen angerauchten Zigarettenstummel geschenkt haben, den steckte er hie und da in den Mund und sog ohne Feuer daran wie ein Großer. Es interessierte mich, warum gerade ihm die ganze Welt offenstand. Nach etwa drei Zügen geruhte er zu antworten. »Meine Freunde«, sagte er, nichts weiter. Dabei fuhr er mit der gesunden Hand durch die Luft, als wolle er jemanden vorstellen. Der Hunger stieg wieder nagend in mir auf. Mein Leben lang hatte ich nie zu einer Gruppe gehören dürfen. Wer waren die Freunde? Er wich meinem Blick aus, ließ die Hand sinken und schrumpfte in sich zusammen. »Ich bin ja doch nur ein Krüppel«, bemerkte er trocken und gab mir den Stock zurück. Unsere Hände berührten sich. Seine war kalt und ich zog die meine zurück, als ich ihn bat, mehr von seinen Freunden zu erzählen. Meine Neugier gab ihm wieder die Oberhand. Er grinste und meinte: »Wenn wir uns erst besser kennen –« Also versprach ich, ihn morgen wieder hier im Gang zu treffen. Um seine Freude zu verbergen, schaute er weg und sagte nur: »Ich seh nicht von links.« Und ihm zu Gefallen ging ich auf seine rechte Seite hinüber. Es lag keine Kluft mehr zwischen uns. Der Krüppel hieß Michael. Ich traf ihn dann jeden Tag; wir saßen zusammen im Gang, durchs Fenstergitter schauend und Pläne schmiedend. Seine Freunde kannte ich auch bald mit Namen. Da war der Wolf, von dem pflegte mit einer Art Scheu gesprochen zu werden. Ich sah ihn förmlich vor mir: groß, breitschultrig, der Älteste im Bunde. Michael kannte ihn noch aus der Volksschule. Er schnalzte mit der Zunge: »Ein Musterschüler, der Wolf.« Das kam heraus, als spräche er von einem unerreichbaren Leckerbissen. Michael gab zu, Musterschüler im Allgemeinen nicht leiden zu können. Mit dem Wolf war es freilich anders. Der arbeitete ein System aus, wonach die ganze Klasse von ihm abschrieb, ohne dass die Trottel von Lehrern...