E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Pauldrach / Odendahl Literaturgeschichte vernetzt
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7065-6393-2
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neue Wege zu alten Texten
E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Reihe: ide - information für deutschdidaktik
ISBN: 978-3-7065-6393-2
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
IDE ist die Zeitschrift für den Deutschunterricht. IDE hält den Dialog zwischen der Praxis in der Schule und didaktischer Forschung aufrecht. IDE ist das Podium für den ständigen Erfahrungsaustausch zwischen DeutschlehrerInnen in der Praxis. IDE öffnet Klassenzimmer und Konferenzräume: Informationen und Kommunikation über Praxis und Projekte, über Erfahrungen, Reaktionen, über Wünsche und Horizonte. Für alle Schultypen. Für alle Schulstufen. IDE - INFORMATIONEN ZUR DEUTSCHDIDAKTIK erscheint viermal im Jahr.
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Literaturgeschichte vernetzt – neue Wege zu alten Texten
Ist die Literaturgeschichte noch ein produktives Thema für die Deutschdidaktik? Spätestens seit der kompetenzorientierten Wende muss sie als ein brachliegendes oder doch wenig beackertes Feld der Disziplin gelten – oder, um eine vergleichbare Metapher Karlheinz Fingerhuts anzuführen, als »eine unaufgeräumte Baustelle der kompetenzorientierten Deutschdidaktik« (Fingerhut 2013). Dass auf dieser Baustelle kaum jemand aus der fachlichen Zunft aufräumen, geschweige denn entschieden weiterbauen möchte, liegt möglicherweise daran, dass literaturgeschichtliche Kenntnisse im Deutschunterricht im Ruf stehen, häufig allzu starre Wissensbestände auszubilden. Als solche können sie, so die nicht ganz unberechtigte Befürchtung, produktive Zugänge zu literarischen Texten bisweilen eher verstellen, als sie zu eröffnen – nämlich indem Schülerinnen und Schüler sie schablonenartig auf Texte applizieren oder sozusagen mit der Checkliste in der Hand Epochenmerkmale abarbeiten, statt sich zunächst den Texten selbst in ihrer ästhetischen Faktur und Bedeutungsvielfalt zu öffnen. Und gerade die gerne als apostrophierten Epochenkonzepte sind seit langem einer Kritik von literaturwissenschaftlicher Seite ausgesetzt, die sie auch für eine literaturdidaktische Behandlung suspekt werden lassen (vgl. schon Korte 2003).
Gleichwohl gibt es empirische Belege dafür, dass die Vermittlung von literaturgeschichtlichem Wissen und eben auch von (didaktisch simplifizierten) Epochenbegriffen nach wie vor eine große Rolle im Deutschunterricht der Sekundarstufe spielt (vgl. den Beitrag von Meier in diesem Heft) – und ein flüchtiger Blick in gängige Unterrichtswerke stützt diesen Befund. Literaturgeschichte ist also nach wie vor ein Thema im Schulunterricht und sollte es daher auch für die deutschdidaktische Forschung sein. Zumal kein Weg an der Einsicht vorbeiführt, dass (literar)historisches Wissen, oder zumindest die Sensibilisierung für die historische Dimension von Literatur, eine wichtige Rolle für eine kompetentere literarische Lektüre spielt.
Dieser Einsicht ist auch das vorliegende Heft verpflichtet. Ob es, um noch einmal auf Fingerhuts Metapher zurückzugreifen, nur erste überfällige Aufräumarbeiten auf der didaktischen Baustelle des Literaturgeschichtsunterrichts in Angriff nimmt oder bereits an der einen oder anderen Stelle weiterzubauen vermag, sei hier dahingestellt. Jedenfalls war für uns der Aspekt der leitend: einer Vernetzung zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen, Kompetenzbereichen, lebensweltlichen Bezügen und methodischen Zugängen.
Während sich nämlich die literaturdidaktische Debatte in der Vergangenheit vor allem um die Konstruktion des Gegenstands drehte, etwa die Legitimation von Literaturgeschichte im Unterricht allgemein oder die Problematik von Epochenbegriffen (vgl. 6/2003 und 4/2012), rückt dieses Heft gesellschaftliche und unterrichtspraktische Aspekte in den Fokus. Dabei geht es konkret um folgende Fragen:
Wie lässt sich Literaturgeschichte in einer globalisierten und multiethnisch geprägten Mediengesellschaft unterrichten?
• Wie kann man Literaturgeschichte stärker mit den historischen Dimensionen anderer Fächer und der Universalgeschichte vernetzen?
• Sollte man den Gegenstand nicht stärker als eine Geschichte »von unten« modellieren, die an die Lebenswelt der Schüler*innen andockt?
• Wie kann man Literaturgeschichte attraktiver und anschaulicher für die Lernenden aufbereiten?
• Aus empirischer Perspektive wird gefragt: Wie ist es eigentlich um das literaturgeschichtliche Wissen von Schüler*innen und Lehrkräften bestellt und inwieweit können sie dieses Wissen sinnvoll mit literarischen Texten in Verbindung bringen?
Zielsetzung eines zeitgemäßen Literaturgeschichtsunterrichts wäre unter der Maßgabe einer vielfältigen Vernetzung nicht nur der Aufbau literaturgeschichtlichen Wissens und dessen Operationalisierung, sondern auch die Bildung eines »Geschichtsbewusstseins« (Pandel 1987), d. h. die Förderung von Einsichten in typische literaturhistorische Konstellationen und Prozeduren. Schüler*innen könnten so in die Lage versetzt werden, sowohl Bedingungen der Entstehung, Verbreitung und Rezeption von Literatur als auch die verschiedenen Möglichkeiten, wie Literaturgeschichte konstruiert und tradiert wird, zu entdecken und zu erforschen.
Dabei wollen wir bewusst nicht nur, wie üblich, die Sekundarstufe II, sondern auch die Sekundarstufe I in den Blick nehmen. Denn es ist nicht einzusehen, warum dort Geschichte unterrichtet wird, literaturgeschichtliches Lernen aber allein Schüler*innen der Oberstufe vorbehalten sein soll.
Zu den einzelnen Beiträgen: Konzeptionelle, historische und empirische Zugänge zum Literaturgeschichtsunterricht
Ganz in diesem Sinne stellt im ersten der vier Basisbeiträge in Aussicht. »Für alle« meint hier: für Schüler*innen jeder Altersgruppe und Schulstufe. Überraschend und innovativ erscheint dies vor allem, weil Brune schon für den Deutschunterricht der Primarstufe zeigt, wie dort ein Bewusstsein für kultur- und literaturgeschichtliche Zusammenhänge geweckt werden kann – desto mehr und desto expliziter dann im Unterricht der Sekundarstufe 1 und selbstverständlich der Sekundarstufe 2. So demonstriert Brune zunächst anhand von Volksmärchen, wie sich zeitgebundene Konventionen in die Texte einschreiben und inwiefern schon Grund- bzw. Volksschüler*innen einen ersten Blick dafür entwickeln können. Der Fabelstoff von der Grille und der Ameise ist es sodann, der in seinen historisch höchst unterschiedlichen Gestaltungen auf der frühen Sekundarstufe zum Thema einer (literar)historischen Betrachtungsweise werden kann. Exemplarisch für den Unterricht der Sekundarstufe 2 zeigt Brune schließlich anhand des Epochenumbruchs um 1800, wie unterschiedliche Diskurse und Konventionen einander eher überlappen, statt sich im Zuge eines Epochenwechsels akkurat die Klinke in die Hand zu geben.
Literaturgeschichtsunterricht ist immer auch Arbeit an und mit dem Kanon: Um Epochenmerkmale zu demonstrieren, wird in aller Regel auf kanonisierte literarische Texte zurückgegriffen, zugleich damit schreibt die Schule einen Kanon fest und fort. In diesem Sinne erzählt die Geschichte des Literaturunterrichts in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert als eine Geschichte der Kanonbildung, der Kanonrevision, der Perpetuierung eines Kanons und auch der Versuche, sich des Kanons wie einer Last zu entledigen. Dass einerseits solche Unternehmungen, einen Kanon abschütteln zu wollen, immer mit Scham verbunden sind, dass aber andererseits die Fortschreibung des Kanons durch dessen Persistenz Unbehagen erzeugt, ist ein kulturpsychologisches Phänomen, das Dawidowski auf erhellende Weise mit Freuds Arbeit zum in Verbindung bringt.
Auf der Grundlage der von ihr mitkonzipierten und -ausgewerteten empirischen LUK-Studie (Literarästhetische Urteilskompetenz, 2007–2013) argumentiert , dass literaturhistorisches Faktenwissen und dessen Zuordnung zu literarischen Texten eine veritable und unverzichtbare Teilkompetenz literarischen Verstehens darstellt. Das ist insofern von Bedeutung, als die Frage, ob literaturhistorisches Faktenwissen das Verstehen literarischer Texte eher befördere oder verhindere, im fachdidaktischen Diskurs durchaus umstritten ist. Im Rahmen der LUK-Studie wurde unter anderem erhoben, wie Lehrkräfte die Bedeutung von literaturhistorischem Wissen und Schüler*innen die eigenen Kenntnisse auf diesem Gebiet jeweils einschätzen. Wie literaturhistorisches Wissen allerdings erworben und bei der Textinterpretation operationalisiert wird, ist noch weitestgehend ungeklärt. Meier gibt hierzu einen kurzen Überblick über den überschaubaren Forschungsstand und formuliert Probleme sowie wichtige Forschungsdesiderate.
Auch befasst sich mit der Frage, ob literaturgeschichtliche Kontextualierung eine Teilkompetenz literarischen Verstehens ist, kommt dabei allerdings zu einem differenzierten Ergebnis: »Literarhistorisches Verstehen ist modellierbar, operationalisierbar und messbar, es ist also ein valides Konstrukt. Es ist auch kompetenzförmig, aber […] keine vollgültige Kompetenz, sondern eine Fähigkeitsdisposition.« Sie formuliert diese These in ihrer bald zum Thema Literaturgeschichte im Deutschunterricht erscheinenden, größtenteils empirisch ausgerichteten Habilitationsschrift, deren Ergebnisse sie im Beitrag zusammenfasst. In einem methodisch ausgefeilten Dreischritt nimmt sie curriculare Vorgaben, Überzeugungen von Lehrpersonen und Rezeptionsprozesse von Schüler*innen im Zusammenhang mit Literaturgeschichte in den Blick, untersucht beispielsweise, ob unterschiedliche paradigmatische Ansätze der Literaturgeschichtsdidaktik literarhistorischkontextualisierendes Verstehen mehr oder weniger fördern.
Vernetzungen, Ausblicke und neue Wege
Literaturgeschichte im Fach...