Die Arktis, der Klimawandel und die Rivalität der Großmächte
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-451-82702-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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EINFÜHRUNG
Die Arktis ist legendär. Das Land „jenseits des Nördlichen“, wofür das griechische Wort ?pe?ß???a (Hyperboréa) steht, galt in der antiken Mythologie als paradiesischer Ort mit einer besonderen Nähe zu den Göttern. Hinter den schroffen Eisbergen wurden warme Gefilde vermutet, und ihre Bewohner – die Hyperboreer – galten als weise, glücklich und unsterblich. Erstmals scheint der griechische Seefahrer Pytheas die Länder nahe der Frostzone erreicht zu haben, darunter die Insel Thule als das am weitesten entfernte Reiseziel – wobei es sich wohl um eine Insel vor Grönland handelte. Daher wird die nördlichste Landfläche der Erde auch Ultima Thule genannt.1 Der „Mythos Nordpol“ wurde von europäischen Gelehrten und Handelsreisenden geschaffen, die von einem warmen Meer hinter den Eisbarrieren träumten, in dessen Mitte ein polares Arkadien liegt. Nach Passieren des Nordpols sollte das Klima der dortigen Seen und Länder ebenso gemäßigt sein wie in hiesigen Gegenden.2 Doch für Seefahrer wie Willem Barents (1550–97), der als Entdecker Spitzbergens gilt, blieben die Eismassen im Nordpolarmeer undurchdringlich. Im 18. Jahrhundert lebte die Vorstellung vom eisfreien Nordpol unter anderem durch den Universalgelehrten Michail Lomonossow (1711–65) wieder auf. Eine Entdeckungsreise zum Nordpol, wo es „weder Kälte noch Schnee“ gebe, stand 1818 auch im Mittelpunkt des Frankenstein-Romans von Mary Shelley.3 Noch 1865 vertrat der Kartograf August Petermann auf der ersten Versammlung Deutscher Meister und Freunde der Erdkunde die Theorie von dem zu allen Jahreszeiten eisfreien Nordpolarmeer und initiierte damit die deutsche Arktisforschung.4 Entgegen seinen Erwartungen musste Kapitän George Strong Nares bei seiner Expedition 1875–76 jedoch die Theorie widerlegen, denn er fand einen zugefrorenen Ozean vor. Zwar erreichte seine Mannschaft mit 83 Grad nördlicher Breite den nördlichsten Ort, der bis dato jemals von Menschen betreten worden war, Skorbut und mangelhafte Ausrüstung zwangen Nares jedoch zur Umkehr. Nach der Rückkehr aus dem Nördlichen Eismeer sandte er ein Telegramm mit den Worten „Pol unerreichbar!“ an die britische Admiralität.5 Heute droht die zunehmende Erderwärmung die Vorstellung von der eisfreien Arktis wahr werden zu lassen, und Grönland könnte in Zukunft das von den Wikingern erhoffte Grünland werden – vielleicht sogar mittels „grüner“ umweltverträglicher Technologie? Das „ewige Eis“ schmilzt. Immer schneller und für längere Zeiträume verschwindet das Meereis am Nordpol, tauen die Permafrostböden und weicht die klirrende Kälte als Symbole einer menschenfeindlichen Eiswelt. Trotz der widrigen Lebensbedingungen ist die Arktis aber das Ziel großer Ambitionen geblieben. Die Briten unternahmen 1773 den ersten von vielen erfolglosen Versuchen, den Nordpol zu erreichen. Später wurde der Kampf um den Nordpol inneramerikanisch ausgetragen – mit dem bis heute strittigen Patt zwischen Robert Peary und Frederick Cook. Nach seiner eigenen Aussage hat Peary am 6. April 1909 die US-Flagge an der Stelle gehisst, die nach seinen Beobachtungen die nordpolare Achse der Welt sei, und „im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika förmlich von der ganzen Gegend und Umgebung für diese Besitz genommen“.6 Der Nordpol und dessen Besitz hatten schon damals und haben noch heute einen hohen symbolischen Wert. Während Washington die Arktis lange vernachlässigt hat, fordert Moskau mit dem Anspruch auf große Gebiete im Nordpolarmeer auch Respekt für Russland als Großmacht ein. Und auch China hat als selbsternannter „Naher Arktisstaat“ strategische Interessen und macht damit die Rivalität der Großmächte im Eismeer deutlich. Die Arktis ist das Ziel geopolitischer Ambitionen. Der Begriff Geopolitik ist ein Synonym für raumbezogene internationale Politik. Er bezieht sich auf den Einfluss grundlegender geografischer Merkmale auf die internationalen Beziehungen. Zu den Merkmalen, die in die geopolitische Analyse einfließen, gehören etwa die relative Größe und Lage von Ländern, die Standorte wichtiger Ressourcen wie Öl oder Gas, geografische Barrieren wie Ozeane, Eiswüsten und Gebirge sowie die Zugänge zum Meer und die Verfügbarkeit von Transportverbindungen wie Land- und Wasserwege. In der Politikwissenschaft besteht „zunehmend Einigkeit“ darüber, dass der Raumdimension in der Analyse internationaler Beziehungen eine wichtige Rolle zukommen sollte.7 In Deutschland sollte idealiter die „Raumblindheit“ ebenso ihr Ende finden wie im maritimen Kontext die „Seeblindheit“. Die Geopolitik als Analysemethode findet ihre Ergänzung in der Geostrategie als raumbezogenes, außenpolitisches Agieren – so in Bezug auf Grönland. Eine Geostrategie legt konkret fest, an welchen Orten ein Staat seine diplomatischen Aktivitäten und die Projektion militärischer Macht konzentriert. In diesem Sinne sollten neben „Werten“ und „Recht“ auch „Raum“ und „Macht“ als handlungsleitende normative Kategorien deutscher und europäischer Sicherheitspolitik gelten. Erst seit wenigen Jahren ist die Arktis wieder ein sicherheitspolitisches Thema, gleichwohl waren strategische und militärische Erwägungen seit dem Kalten Krieg nie ganz verschwunden. Allein schon aufgrund ihrer Lage bleibt sie von hoher Bedeutung für die USA und Russland, die in der Beringstraße nur 85 Kilometer voneinander entfernt sind. Noch heute würden Raketen bei einem nuklearen Schlagabtausch ihren Kurs über das Nordpolarmeer nehmen. In den 1990er Jahren gab es Hoffnung auf eine andauernde Ära der Kooperation, und das 21. Jahrhundert hätte die „Ära der Arktis“8 werden können. Stattdessen sind die 2020er Jahre wieder von einer Rivalität großer Mächte geprägt; der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt die damit verbundene latente Gefahr. Das schmelzende Eis eröffnet neue Einflussmöglichkeiten, die ebenso Investitionen und Kooperation wie Konkurrenz und Konfrontation fördern können. Die Arktis hat ihren Ausnahmecharakter als Ort der Zusammenarbeit, des Friedens und der Stabilität verloren. Die Zeit des arktischen Exzeptionalismus ist zu Ende. Die Arktis ist keine einsam entrückte Region fernab von Konflikten mehr, sondern der Klimawandel macht sie zunehmend selbst zum Ort widerstreitender Interessen und Machtkonflikte. Gibt es trotz alledem Aussichten für eine neue, friedliche Arktis? Die Arktis ändert sich rapide. Die Temperaturerhöhungen sind in der Arktis bis zu dreimal so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Hier ist der Klimawandel bereits Realität. Die Arktis ist nicht nur von extremen Umweltbedingungen geprägt, sie erfährt durch den Klimawandel auch höchst widersprüchliche Entwicklungen. Einerseits nehmen Umwelt und Bevölkerung in der Arktis durch die Folgen der Erderwärmung großen Schaden. Andererseits eröffnen sich blendende Aussichten für ambitionierte Förderprojekte, reiche Ressourcen, kostensparende Seewege und lukrative Tourismusziele. Ein Beispiel bietet wiederum Grönland: Je schneller die Gletscher schmelzen, desto mehr Aufmerksamkeit findet die Insel. Der Klimawandel hat hier eine Art Werbeeffekt, der es erleichtert, Kapital zur Entwicklung neuer eigener Wirtschaftszweige anzuziehen und damit die Abhängigkeit vom Königreich Dänemark zu verringern. Die vielfältigen Entwicklungsprozesse in der Arktis haben gravierende Auswirkungen auf internationale Politik, Wirtschaft, Umwelt und Sicherheit. Deshalb ist es wichtig, sich eingehend mit Akteuren, deren Ambitionen und den Aussichten für diesen Raum zu befassen. Bislang war die Arktis von friedlicher Zusammenarbeit geprägt, und noch heute überwiegen kooperative Ansätze. Politische Konflikte und Spannungen der letzten Jahre liegen zu einem kleinen Teil in der Arktis selbst, größtenteils kommen sie von außen als geopolitischer „Spillover“ der Konkurrenz zwischen den USA, China und Russland. Denn die Arktis ist aus verschiedenen Gründen bedeutsam, um den eigenen Status zu erhalten oder zu vergrößern: Die USA haben sie als „Arena“ im Kampf um Macht und Einfluss identifiziert und wollen den Status quo erhalten. Russland will sie nutzen, um seine Rolle als Großmacht auszubauen, und China will sie für den Aufstieg zur Weltmacht nutzen. Typisch dafür ist der jeweilige Umgang mit Schifffahrtswegen: Die USA wollen freie Schifffahrtswege, während Russland ihren Zugang begrenzen will. Gerade im Falle arktischer Seewege fehlt jedoch moderne Infrastruktur, und weil die nationalen Einsatzmittel nicht ausreichen, bedarf es internationaler Zusammenarbeit für Seenotrettung und Katastrophenfälle. Die arktischen...