E-Book, Deutsch, 377 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Patchett Bel Canto
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-98300-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 377 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98300-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Als das Licht ausging, gab ihr der Pianist einen Kuß. Vielleicht hat er sich ihr zugewandt, unmittelbar bevor es dunkel wurde, vielleicht hat er die Arme gehoben. Irgendeine Bewegung, irgendeine Geste muß er wohl gemacht haben, denn alle, die dort im Wohnzimmer waren, erinnerten sich später an einen Kuß. Nicht, daß sie ihn gesehen hätten, das war schlichtweg unmöglich. Die Dunkelheit, die über sie hereinbrach, war erschreckend total. Doch nicht nur waren sich alle sicher, daß er sie geküßt hatte, sie behaupteten auch noch, zu wissen, wie: stürmisch und voller Leidenschaft, ein Kuß, der sie völlig überrumpelt habe. Alle Augen waren auf sie gerichtet, als das Licht ausging. Sie applaudierten noch, waren aufgesprungen und klatschten mit erhobenen Ellbogen frenetisch in die Hände. Nicht ein einziger zeigte Zeichen der Ermüdung. Die Italiener und die Franzosen schrien: »Brava! Brava!«, und die Japaner wandten sich von ihnen ab. Hätte er sie wohl so geküßt, wenn es hell gewesen wäre? Beherrschte sie sein Denken so sehr, daß er die Hand ausstreckte, sobald das Licht ausging – schaltete er so schnell? Oder wurde sie von allen im Raum begehrt, jedem Mann und jeder Frau, so daß es sich um eine kollektive Einbildung handelte? Sie waren so hingerissen von der Schönheit ihrer Stimme, daß sie ihren Mund mit ihrem eigenen bedecken, daran trinken wollten. Vielleicht war Musik übertragbar, konnte verschlungen, besessen werden. Was bedeutete es wohl, den Mund zu küssen, der solche Töne in sich barg?
Manche von ihnen liebten sie schon seit langem. Sie hatten daheim jede Aufnahme von ihr. Sie führten ein Notizbuch, in dem sie jeden Ort eintrugen, an dem sie sie gesehen hatten, in welcher Oper, mit welcher Besetzung, unter welchem Dirigenten. Andere, die an dem Abend da waren, hatten ihren Namen nie gehört – Leute, die, wenn man sie gefragt hätte, gesagt hätten, die Oper sei für sie ein sinnloses Gejaule und lieber säßen sie drei Stunden auf dem Zahnarztstuhl. Das waren diejenigen, die jetzt unverhohlen weinten, die, die sich so furchtbar getäuscht hatten.
Keinem von ihnen machte die Dunkelheit angst. Ja sie nahmen sie kaum wahr. Sie hörten nicht auf zu applaudieren. Die Ausländer unter ihnen dachten, daß so etwas hier wohl normal sei. Das Licht geht mal an, und mal geht es aus. Diejenigen, die aus dem Gastland kamen, wußten, daß dem so war. Außerdem war der Zeitpunkt nicht ohne dramatische Wirkung und schien genau zu passen, so als wollten die Lampen sagen: Ihr braucht nichts zu sehen. Sperrt die Ohren auf. Niemand stutzte und fragte sich, warum im selben Moment oder direkt davor auch die Kerzen auf den Tischen erloschen. Der angenehme Geruch eben ausgeblasener Kerzen hing in der Luft, ein süß duftender, nicht im geringsten bedrohlicher Rauch. Ein Geruch, der einem sagte, daß es schon spät war, Zeit zum Schlafengehen.
Sie klatschten weiter. Sie nahmen an, daß sich die beiden weiter küßten.
Der lyrische Sopran Roxane Coss war der einzige Grund, warum Herr Hosokawa in dieses Land gekommen war. Und Herr Hosokawa war der Grund, warum alle anderen zu dieser Feier erschienen waren. Es war kein Land, das man um seiner selbst willen besucht. Der Grund, warum sich das Gastland (ein armes Land) für die Geburtstagsfeier eines Ausländers derart verausgabte, den man nahezu hatte bestechen müssen, damit er kam, war, daß es sich bei diesem Ausländer um den Gründer und Aufsichtsratsvorsitzenden von Nansei handelte, der größten Elektronikfirma Japans. Das Gastland wünschte sich nichts sehnlicher, als Herrn Hosokawas Gunst zu erlangen, auf daß er ihnen in einem der unzählichen Punkte half, in denen sie Hilfe brauchten. Das konnte durch Ausbildung von Fachkräften oder durch Handel geschehen. Vielleicht könnte man (und dies war ein so kühner Traum, daß er fast unaussprechlich war) hier sogar eine Fabrik bauen, wobei alle Beteiligten von der billigen Arbeitskraft profitieren würden. Eine solche Industrie könnte die Wirtschaft vom Koka- und Mohnanbau wegführen und die Illusion erzeugen, daß sich das Land von so verwerflichen Stoffen wie Kokain und Heroin distanzierte, was ihm mehr Unterstützung durch das Ausland einbringen und den heimlichen Handel mit ebendiesen Drogen erleichtern würde. Doch aus diesem Plan war bisher nichts geworden, denn die Japaner neigten von Natur aus zu übertriebener Vorsicht. Sie glaubten an die Gefahren und die Gerüchte über Gefahren, die ein solches Land barg. Wenn also Herr Hosokawa persönlich und nicht irgendein Manager, irgendein Politiker kam und sich mit ihnen an einen Tisch setzte, so zeigte dies, daß sich ihnen vielleicht eine Hand entgegenstrecken würde. Vielleicht mußte diese Hand durch Schmeicheln und Betteln hervorgelockt, aus ihrer eigenen tiefen Tasche herausgeholt werden. Doch dieser Besuch mit dem prunkvollen Geburtstagsessen einschließlich Opernstar, mit den für den nächsten Tag geplanten Treffen und Besichtigungen möglicher Fabrikbauplätze brachte sie diesem Ziel schon viel näher, als sie ihm je gekommen waren, und die Luft im Raum war geschwängert von süßen Hoffnungen. Repräsentanten von mehr als einem Dutzend Ländern, die über Herrn Hosokawas Absichten getäuscht worden waren, hatten sich zu der Feier eingefunden. Investoren und Botschafter, die ihren Regierungen vielleicht davon abraten würden, auch nur zehn Cent in dieses Land zu investieren, jede Anstrengung seitens Nansei jedoch unterstützen würden, standen jetzt in Smoking und Abendgarderobe im Raum, prosteten sich zu und lachten.
Was Herrn Hosokawa betraf, so war der Grund für diese Reise für ihn weder geschäftlicher noch diplomatischer Natur, noch eine etwaige Freundschaft mit dem Präsidenten, wie die Medien später behaupteten. Herr Hosokawa verreiste nicht gern, und den Präsidenten kannte er nicht einmal. Er ließ nicht den geringsten Zweifel an seinen Absichten, das heißt daran, daß er keine hatte. Er hatte nicht vor, in dem Land eine Zweigstelle zu bauen, und hätte sich nie bereit erklärt, in ein fremdes Land zu fahren, um dort mit Menschen, die er nicht kannte, seinen Geburtstag zu feiern. Ja er legte noch nicht einmal Wert darauf, seinen Geburtstag mit Menschen zu feiern, die er kannte, und schon gar nicht seinen dreiundfünfzigsten, eine Zahl, die er für völlig bedeutungslos hielt. Er hatte bereits ein halbes Dutzend nachdrückliche Einladungen von ebendiesen Menschen zu ebendieser Feier abgelehnt, bis man ihm als Geschenk die Anwesenheit von Roxane Coss versprach.
Und wer würde ein solches Geschenk ablehnen? Egal, wie weit der Weg war, wie unangemessen, wie irreführend die ganze Unternehmung, wer konnte dazu nein sagen?
An einem anderen Geburtstag, seinem elften, hatte Katsumi Hosokawa seine erste Oper gesehen, Verdis Rigoletto. Sein Vater hatte mit ihm den Zug nach Tokyo genommen, und bei strömendem Regen waren sie zu Fuß zur Konzerthalle gegangen. Es war der 22. Oktober, so daß es ein kalter Herbstregen war, und auf den Straßen lag eine papierdünne, wächserne Schicht aus nassen roten Blättern. Als sie bei der Konzerthalle ankamen, waren sie bis aufs Unterhemd durchgeweicht. Die Karten, die Katsumi Hosokawas Vater aus seiner Brieftasche zog, waren naß und verfärbt. Sie hatten keine besonders guten Plätze, aber freie Sicht auf die Bühne. Im Jahr 1954 war das Geld noch knapp; Bahnfahrkarten und Opernbesuche lagen jenseits des Vorstellbaren. Zu anderen Zeiten hätte man eine solche Aufführung wohl als zu anspruchsvoll für ein Kind angesehen, doch der Krieg war noch nicht lang vorbei, und man konnte davon ausgehen, daß die Kinder vieles verstehen würden, das heute als für Kinder ungeeignet erscheint. Sie stiegen die vielen Treppenstufen zu ihrer Reihe hinauf, ohne in den schwindelnden Abgrund unter ihnen hinunterzusehen. Sie verbeugten sich vor allen, die aufstanden, um sie vorbeizulassen, und baten jeden um Entschuldigung, dann klappten sie ihre Sitze herunter und setzten sich vorsichtig hin. Es war noch sehr früh, doch die anderen waren noch früher gekommen, denn das Recht, schweigend an diesem schönen Ort zu sitzen und zu warten, gehörte mit zu dem Luxus, für den man bezahlte. Sie warteten, Vater und Sohn, ohne ein Wort zu sagen, bis es schließlich dunkel wurde und von irgendwo unter ihnen ein erster Hauch von Musik heraufdrang. Winzige Menschen, Insekten gleich, schlüpften hinter dem Vorhang hervor, öffneten den Mund und überzogen mit ihren Stimmen die Wände mit dem goldenen Schmelz ihrer Sehnsucht, ihres Schmerzes, ihrer grenzenlosen, unbesonnenen Liebe, die jeden einzelnen von ihnen ins Verderben stürzen würde.
Es war bei jener Aufführung des Rigoletto, daß die Oper sich Katsumi Hosokawa unauslöschlich einprägte, eine Botschaft auf die hellrote Innenseite seiner Lider schrieb, die er sich vorlas, während er schlief. Viele Jahre darauf, als es nur noch die Firma gab, als er härter arbeitete als irgend jemand sonst in einem Land, dessen Wertesystem auf harter Arbeit gründet, glaubte er, daß das Leben, das wirkliche Leben, etwas war, das in der Musik verwahrt wurde. Während man in die Welt hinausging und seine Pflicht tat, lag das wirkliche Leben, sicher verwahrt, in der Musik von Tschaikowskijs Eugen Onegin. Er wußte natürlich (auch wenn er es nicht ganz verstand), daß Opern nicht jedermanns Sache waren, doch er hoffte, daß jeder so etwas wie die Oper hatte. Die Platten, die ihm so teuer waren, die wenigen Abende, an denen er eine Aufführung zu sehen bekam – das war die Richtschnur, an der er seine Liebesfähigkeit maß. Nicht seine Frau, seine Töchter oder seine Arbeit. Dabei hatte er nie das Gefühl, das, was seinen Alltag hätte ausfüllen sollen, in die Oper verlagert zu haben....




