E-Book, Deutsch, Band 1, 560 Seiten
Reihe: Berlin-Trilogie
Parys Der Magier
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-9505744-2-5
Verlag: Polente Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 1, 560 Seiten
Reihe: Berlin-Trilogie
ISBN: 978-3-9505744-2-5
Verlag: Polente Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Magdalena Parys wurde 1971 in Danzig geboren und lebt seit 1984 in West-Berlin. Sie studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Polonistik und Erziehungswissenschaften. Ihre Romane über deutsche Nachkriegsgeschichte erreichen in Polen enorme Auflagen und Auszeichnungen. Ihr Debütroman, der faktengestützte Thriller Tunnel erschien in deutscher Übersetzung von Paulina Schulz 2014 im Prospero-Verlag. Der Magier, Auftakt ihrer Berlin-Trilogie, thematisiert Verquickungen der Geheimdienste und wurde 2015 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Übersetzungen in 19 Sprachen folgten, u.a. ins Französische, Italienische und Spanische. Ein besonderes Anliegen der Autorin, die sich bewusst zwischen der deutschen und der polnischen Kultur bewegt, sind gesellschaftspolitische Themen, zu denen sie u.a. für die polnischen Gazeta Wyborcza, die Stuttgarter Zeitung und die französische Marianne schreibt.
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KAPITEL I
Allgemein wurde befunden, dass die Stadt bei bester Gesundheit sei. Kaum ein Erreger konnte hier überdauern.
Terry Pratchett, MacBest
Gerhard schaltete sein Handy aus. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass Frank Derbach angerufen hatte. Und wie aufgebracht er gewesen war! Sofort wollte er ihn treffen. Gerhard versprach ihm, in sein Hotel zu kommen, sobald er mit seinen eigenen Angelegenheiten fertig sei.
»Nein, besser nicht im Hotel.«
»Warum nicht?«
»Das ist nicht gut.«
»Hast du getrunken?«
»Nein.«
Schließlich verabredeten sie sich in einem Lokal in der Nähe des Hotels, in dem Gerhard ein Zimmer genommen hatte.
»Kommst du auch ganz bestimmt?«, fragte Derbach drängend.
»Ich komme«, erwiderte Gerhard, den dieser Nachdruck irritierte.
»Ich warte auf dich!« Damit beendete Frank Derbach das Gespräch.
Langsam kroch das Taxi vorwärts in der Autoschlange des Vormittagsstaus. Gerhard blickte hinaus auf die breiten, grauen Straßen. Sofia erinnerte ihn an das Warschau der 1990er-Jahre. Zuerst die schicken Hotels, dann die Banken, später Apotheken und schließlich der Rest.
Einige Zeit später saß er auf einem der harten Stühle in dem Amt und wartete, bis die Beamtin damit fertig war, sich die Lippen zu schminken, bis sie verschiedene Anrufe erledigt hatte, wartete darauf, dass sie sich endlich bequemte, ihn anzusehen. Der Raum war Wartezimmer und Büro in einem.
Die Beamtin wirkte freundlich, doch spürte er rasch, dass sie ihm nur belanglose Antworten gab, die nichts zu bedeuten hatten. Schließlich sagte er unumwunden, worum es ging.
»Ein Pole, ein Ingenieur aus Wroclaw, Piotr Boszewski. Er ist hier in Bulgarien verschwunden, 1980. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Er war …«, Gerhard zögerte, suchte nach der passenden Vokabel: holiday oder vacation, »… er war mit seiner Frau im Urlaub und ist nie zurückgekehrt.«
Die Beamtin zuckte mit den Schultern.
»Dann wird man wohl in polnischen Archiven suchen müssen.«
»Ich denke aber, dass hier etwas zu finden ist … Ich bin mir sicher«, verbesserte er sich.
»So viele Leute sind verschwunden«, seufzte sie, »Deutsche, Bulgaren, auch Polen …«
»Mir geht es um diesen einen Polen.«
»Warum glauben Sie, dass er bei uns verschwunden ist?«
Sie rieb ihre Brillengläser sauber, betrachtete Gerhard mit müden, kurzsichtigen Augen.
Gerhard zeigte ihr das Foto.
»Was ist das? Woher haben Sie das?« Ungläubig blickte sie ihn an.
Dachte sie wahrhaftig, er werde ihr jetzt einen Namen nennen, eine Adresse, einen Beruf?
Der alte Mann, der ihm das Foto gegeben und den Text ins Deutsche übersetzt hatte – Burkhard Seidel –, führte seit vielen Jahren ein privates Archiv, sammelte Dokumente, Fotos und Tonaufnahmen und stellte sie Interessierten zur Verfügung. 1985 waren seine beiden Söhne bei dem Versuch, über die bulgarische Grenze in die Freiheit zu gelangen, ums Leben gekommen. Schuldige wurden nie gefunden, ein Wort des Bedauerns hat der Vater nie gehört.
Seidels Archiv ist heute kein Geheimnis mehr. Alle, die es wissen wollen, können mühelos in Erfahrung bringen, dass in Leipzig ein Mensch lebt, der mehr Material zu allen Fällen ungeklärten Verschwindens an den Grenzen Bulgariens zusammengetragen hat als sämtliche Ministerien und Archive zusammen.
Er hätte also sagen können, wer ihm das Foto gegeben hatte.
Aber er wollte nicht.
Von Seidel wusste er, dass das Foto an einer bestimmten Stelle an der bulgarisch-griechischen Grenze gemacht worden war, und zwar dort, wo man Boszewskis Leiche gefunden hatte. Der Name auf der Rückseite des Fotos war leider unleserlich. Entziffern ließ sich nur der erste Buchstabe, es war ein B, der zweite hätte ein o sein können oder auch ein a. Seidel meinte, dort stehe Boszewski. Außerdem war eine Nummer notiert, deren Bedeutung sie erst einige Monate später erfahren hatten, dank der Hilfe Franks.
»Haben Sie noch mehr solcher Fotos?«
Unter den hellblauen Lidern musterte ihn die Beamtin jetzt mit aufmerksamen Augen. Ihre widerspenstigen Locken umrahmten das pummelige Gesicht. Noch schien ihm das alles fast amüsant.
»Nein«, schwindelte er.
Sie betrachtete die Rückseite des Fotos, strich es glatt, einmal, zweimal. Ein drittes Mal.
»Wissen Sie, was das ist?«
Sie deutete auf die vergilbte Stelle, an der die Ziffern zu sehen waren und die Schrift in kyrillischen Buchstaben. Jetzt hatte sie ihm schon mehr Fragen gestellt als er ihr.
»Ich habe keine Ahnung«, log er ein weiteres Mal.
Die Beamtin sah ihn eine ganze Weile lang an. Sie wollte noch etwas fragen, doch als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, setzte sie sich gerade hin, rückte die Brille zurecht.
Die große Frau, die in der Tür stand, blickte zuerst auf Gerhard, dann auf ihre Kollegin. Sie hatte etwas von einer römischen Skulptur. Wunderschöne Augen. Gerhard bedauerte es, dass er nicht mit ihr das Gespräch führte. Sie erwiderte sein Lächeln, kam zum Schreibtisch.
»Ekaterina Koneschowa«, sie gab ihm die Hand. »Sie kommen aus Deutschland?« Ein Blick auf die Kollegin: »Du kommst zurecht?«
»Ja, ja, alles in Ordnung, wir unterhalten uns gerade.«
Die Beamtin deckte rasch die Hände über das Foto, was Gerhard nicht entging.
»Ich dachte, du bräuchtest vielleicht Hilfe«, sagte Ekaterina Koneschowa und winkte den Uniformierten herbei, der hinter ihr in der Tür aufgetaucht war.
Die Dunkelhaarige lächelte noch einmal, nickte Gerhard zum Abschied zu und verließ den Raum. Auch die Beamtin stand auf und ging hinaus. Der Uniformierte murmelte einen Namen, einen Dienstgrad, gab Gerhard die Hand.
»Was haben wir da …?«, fragte er auf Englisch und vertiefte sich in das Foto. Er nahm die Dokumente in die Hand, die vor Gerhard auf dem Schreibtisch lagen, blätterte prüfend in den Seiten.
Aufmerksam hörte er der Geschichte zu, die Gerhard nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag erzählte. Und flüssiger schon als zuvor – über den Ingenieur, der verschwunden war, während seines holiday in Bulgarien …
Der Offizier runzelte die Stirn.
»Hier werden Sie nichts finden«, sagte er in tadellosem Deutsch. »Außerdem brauchen Sie eine Einverständniserklärung der Hinterbliebenen, notariell beglaubigt, ins Bulgarische übersetzt, und die Übersetzung muss ebenfalls notariell beglaubigt werden. So sind die Vorschriften.« Er breitete die Arme aus.
»Ich habe eine diesbezügliche Erklärung«, erwiderte Gerhard.
»Sie ist aber nicht in Bulgarien beglaubigt …«
»Wo kann ich sie beglaubigen lassen?«
»Mein Herr«, der Uniformierte setzte sich auf die Schreibtischkante, »ich möchte ehrlich sein. Auch wenn Sie mir einen ganzen Stapel Erklärungen bringen, können Sie bestenfalls zwei Kartons Akten zur Einsicht bekommen. Das ist alles, was wir haben. Aber die Dokumente, die Sie suchen, werden Sie dort nicht finden, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.«
»Und wo kann ich sie finden?«
»Dort, wo weder Sie noch ich Zugang haben. Im Archiv des Verteidigungsministeriums, in den Geheimakten des Militärs.«
Gerhard tat, als wäre er erstaunt, das zu hören.
»Und wie kommen Sie auf die Idee, dass es sich hier um Boszewski handelt?«, fragte der Uniformierte und musterte Gerhard mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Woher wissen Sie überhaupt, dass es Geheimakten zu Boszewski gibt?«, parierte Gerhard.
»Die meisten Informationen zu Personen, die bei Fluchtversuchen getötet wurden, befinden sich dort. Wir haben hier nichts.«
Der Uniformierte lächelte und zeigte eine Reihe überraschend weißer Zähne.
»In unserem Archiv haben wir keine Angaben zu dieser Person«, wiederholte er bestimmt.
»Interessant«, bemerkte Gerhard. »Das heißt, Sie bestätigen hiermit, dass der Tote auf dem Foto bei einem Fluchtversuch getötet wurde?«
»Das nehme ich an, ich kann es vermuten, sicher weiß ich es nicht. Sie haben es mir ja selbst gesagt.«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Erlauben Sie, dass wir das Foto an uns nehmen, damit wir prüfen können, ob diese Vermutung richtig oder falsch ist.«
Und um weiteren Fragen zuvorzukommen, erhob er sich von der Schreibtischkante und gab Gerhard die Hand.
»Wir werden uns brieflich mit Ihnen in Verbindung setzen. Es tut mir leid. Sie haben...