Parrella | Liebe wird überschätzt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Parrella Liebe wird überschätzt

(und andere menschliche Geschichten). Erzählungen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25769-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

(und andere menschliche Geschichten). Erzählungen

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-446-25769-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Weil es zu wenig Liebe gibt, wird sie überbewertet, stellt ein junges Mädchen fest, deren Eltern sich ein Leben lang harmonisch betrügen. Erst als die Nachricht des Todes von Mutters Liebhaber eintrifft, bricht die Lebenslüge zusammen. In einer anderen Geschichte gibt eine Klosterschwester ihre Liebe zu Jesus auf, um die Mutter eines verlassenen Kindes zu werden. Valeria Parrella, 'Italiens neues Erzähltalent' (Süddeutsche Zeitung), schreibt unsentimentale Liebesgeschichten, die überraschen. Mit großer Vitalität und schneidendem Witz erzählt sie von falscher Liebe und echtem Begehren, aber auch von mystischer Sehnsucht und alltäglicher Nächstenliebe.

Valeria Parrella, 1974 geboren, studierte Sprachwissenschaften und arbeitete als Buchhändlerin und Schauspielerin. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie vielfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen ihr Erzählungsband Liebe wird überschätzt (2017) sowie zuletzt ihr Roman Versprechen kann ich nichts (2021), mit dem sie auf der Shortlist für den Premio Strega 2020 stand. Valeria Parella lebt in Neapel.
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Liebe wird überschätzt


Der Zug fuhr auf die Minute pünktlich ab, es war noch einer dieser Züge, die Lärm machen: Man hörte Waggontüren schlagen, Gelächter, Klopfen an Fensterscheiben, das Schnauben der Bremsen und den Pfiff des Zugführers. Ein echter Zug, mit Fenstern, die man herunterlassen konnte, fürs Händeschütteln oder um das Kinn darauf zu stützen und zuzusehen, wie die Stadt zurückbleibt. Genauso stand das Mädchen da, und ihre Mutter dachte, dass sie zu viel Fahrtwind abbekommen würde, wenn der Zug beschleunigte, aber sie unterdrückte eine Bemerkung, aus zwei Gründen: Susanna hatte nur noch ein Jahr bis zum Abitur am humanistischen Gymnasium, und dies war vielleicht die letzte Reise, die sie alle drei zusammen machen würden, und außerdem hatte ihr Mann oft gesagt, sie solle das Mädchen nicht gängeln, sie in Ruhe erwachsen werden lassen. Ihr Mann war Arzt, und wie alle Ärzte sorgte er sich nicht um die Gesundheit der Menschen, die er liebte. Vor allem aber sagte Federica nichts, weil dies ein Urlaub war, auch ihr Urlaub, ja, vor allem ihrer, denn nach der Rückkehr würde sie ihre Arbeit bei der Zeitung gleich wiederaufnehmen müssen. Und sie sagte sich, dass dieser Urlaub sofort beginnen müsse, indem sie sich an der Schulter ihres Mannes entspannte. Das Fahren konnte sie dem Zug überlassen. Sie hatte das ihre getan, der Zug bewegte sich von allein, sie musste nichts mehr tun. Susanna, die abgelenkt, aber hier bei ihnen war, Giorgio, der seine endlos langen Beine so weit wie möglich im Abteil ausstreckte, eine Hand auf ihrem Oberschenkel, der Hügel von Poggioreale, der langsam in der Nacht verschwand, und alle Züge fahren in dieselbe Richtung ab, auch wenn sie entgegengesetzte Ziele haben …

Sie wachte wieder auf, als der Zug vor Latina langsamer wurde. In der Ferne bildete der Golf von Formia einen Halbmond, der am Felsen, im Meer endete, dort, wo der Leuchtturm blinkte.

»Der Zugführer ist schon gekommen, um die Plätze in den Liegewagen zu verteilen.«

»Susanna?«

»Im Bordbistro.«

»Hat sie immer noch Hunger? Sie wird zunehmen.«

»Sie will Kaffee, hat beschlossen, nicht zu schlafen. Sie ist richtig romantisch drauf. Ist sie wieder verliebt?«

»Keine Ahnung«, sagte sie, denn schon seit vier Jahren vertraute sie ihrem Mann nicht mehr an, was sie von dem Mädchen erfuhr. Er machte sie nervös.

Er hörte ihr zu, wanderte dabei pausenlos in der Küche hin und her, und am Ende trug er ihr auf, was sie dem Mädchen sagen sollte. Etwas, worüber sie anders dachte, oder etwas, was sie ihrer Tochter niemals hätte mitteilen können. Er konnte Susanna diese Dinge nicht persönlich sagen, denn sie vertraute sich nur ihrer Mutter an. Trotzdem fing Giorgio immer irgendeinen Teil davon auf: nicht alles, nicht viel, aber eine Nuance doch, also sagte er:

»Hauptsache, sie bindet sich nicht, sie ist noch so jung und muss fürs Abitur lernen.«

Doch Federica war im Urlaub und erwiderte nichts. Sie lächelte.

Hinter Rom hielt der Zug nicht mehr bis Wien, der Zugführer hatte die Personalausweise schon eingesammelt, damit die Reisenden, sollte es Kontrollen beim Grenzübertritt geben, in Ruhe schlafen konnten.

Susanna wollte wirklich wach bleiben, sie hatte sich die Stöpsel ihres Kopfhörers in die Ohren gesteckt und sich auf einen Klappsitz draußen vor der Tür des Liegewagenabteils gesetzt. Giorgio hatte Federica eine Tavor mit einem Glas Wasser gegeben, dann hatte er selbst eine genommen. Das taten sie immer am Beginn einer Reise, aber nicht nur dann. Doch am Beginn einer Reise taten sie es gemeinsam, sie konnten es sich sagen, es hatte keine Bedeutung, bloß: Wie soll man bei dem Geratter denn sonst ein paar Stunden schlafen? Oder zusammengepfercht in der Economyclass auf einem Interkontinentalflug? Oder im Schlafsack auf einem Schiffsdeck? Auf Reisen machte die Unbequemlichkeit, die von außen kam, sie zu Komplizen.

Federica lehnte das Kissen an die Wand, den Rücken ans Kissen und klappte, leicht vorgebeugt und flink, wie jemand, der voller Vorfreude einen schönen Moment erwartet, ihren Laptop auf, und während sie hörte, wie Giorgios Atem schwer und rhythmisch wurde, stimmte die Tavor, die sich schon in ihren Adern ausbreitete und ihr Gehirn begrüßte, sie wohlwollend empfänglich für die Welt und für ihr eigenes Leben: Wie eine Belohnung konnte sie sich endlich das Foto des kleinen Simone im Arm seines Großvaters ansehen. Dreieinhalb Kilo hatte er bei der Geburt gewogen, dann war er direkt ins Zimmer zur Mutter gebracht worden, in den Krankenhäusern war das jetzt so üblich, darum hatte der Großvater sie alle sofort umarmen können: den Sohn, die Schwiegertochter und seinen ersten Enkel, der den eigenen Namen trug. Simone, Simone, Simone.

»Herrlich, diese Persönlichkeitsspaltung, Liebling, welch vollkommenes Glück, welch perverse Vorstellung: über fünfzig Jahre nach meiner eigenen Geburt durch meinen Sohn wieder in mich selbst zurückzukehren«, das hatte er ihr geschrieben, als er ihr das Foto mit seiner Trophäe im Arm geschickt hatte.

Federica zoomte in das Bild hinein, bis es auf dem Ohr des Kindes körnig wurde, dann scrollte sie nach unten, zum Daumen des Großvaters, der den Kopf des Kindes hielt. Sie streichelte ihn lange. Großvater. Ein sehr attraktiver Großvater, so jung, ihr Geliebter, aber schon Großvater. Wie zärtlich stimmte sie diese vertraute Hand, die sie drückte, ihr den Slip herunterzog, sie anrief und jetzt, nach vielen Jahren, wieder den Kopf eines Neugeborenen hielt. Sie hatten immer gesagt, dass Federica zuerst Großmutter werden würde, weil sie eine Tochter hatte.

»Hör auf mit dem Blödsinn.«

»Du wirst eine supersexy Großmutter sein.«

»Die Großmutter kannst du dir sonst wohin stecken.«

Streiten war etwas, das sie besonders gut konnten. Sie stritten unweigerlich: Manchmal schafften sie es einen ganzen Monat lang nicht, sich zu sehen, als er noch die Mannschaft trainierte, war das oft vorgekommen. Und er kehrte womöglich genau dann ins Hotel zurück, wenn sie nicht mehr ans Telefon gehen konnte. Damals stritten sie wild, solange sie sich nicht sahen. Sie sagten einander schreckliche Dinge, kritisierten den Lebensstil und die Feigheit des anderen, nichts an der Situation zu ändern.

Sodass das Lieben dann verzweifelt war. Er litt noch stärker, weil er eine andere Beziehung zu seinem Körper hatte – immer durchtrainiert, immer sonnengebräunt, mal steht er unter Spannung, mal nicht, je nachdem, was sein Wille befahl. Wenn er mit seiner Frau schlief, hatte er sich mehr als einmal gefragt, warum. Federica nicht, sie konnte es mit Giorgio tun und dabei Giorgio begehren, oder mit Giorgio und dabei Simone begehren. Mit Simone begehrte sie nichts, denn dann fielen Wünschen und Sein zusammen. Und wer einfach nur ist und mit sich im Reinen, denkt an gar nichts.

Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, bei der Olympiade in Sydney, waren sie krank geworden. Denn das war es, eine leichte Krankheit der Seele, die ihre Körper mal sichtbar, mal im Verborgenen beherrschte. Sie hatten das oft besprochen und gehofft, daran zu sterben oder davon geheilt zu werden, und unterdessen litten sie.

Federica, die Sportreporterin war, hatte sich in Simone verguckt, als er noch nicht mal wusste, wie sie überhaupt aussah. Sie dagegen wusste über ihn genau Bescheid: Sie hatte sich in ihn verliebt, weil er Linkshänder war, überzeugt, dass Linkshänder einander sofort erkennen.

»Aber ich schreibe mit rechts.«

»Willst du dich so aus der Affäre ziehen?«

»Schön wär’s. In der Vorschule hat uns die Lehrerin die Hand hinterm Rücken festgebunden.«

»Blödsinn, das klingt ja wie eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Wir sind gleich alt.«

»Doch, wirklich. Hand hinter dem Rücken. Ich schreibe mit rechts. Außerdem sind wir nicht gleich alt, du bist ein junger Hüpfer.« Das hatte er gesagt, obwohl sie Altersgenossen waren. Aber es stimmte: Sofort hatte eine Schönheit sie umhüllt, die sie längst vergessen hatte.

Simone schrieb mit rechts, er zeigte es ihr, als er ihre Telefonnummer auf den Notizblock kritzelte. Wenn er aber mit dem Säbel focht, täuschte er alle, er zwang seine Gegner, ihre Stellung aufzugeben, und dann verloren sie das Gleichgewicht.

Mit dem linken Arm, stellte sie sich vor, hatte er sie nach dem Interview im Lift des Hotels an sich gedrückt. Mit demselben Arm tat er es an einem anderen Tag, auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Hotel.

Auch Federica war Linkshänderin und spürte die gleiche Desorientierung, die gleiche leicht verzerrte Wirklichkeit, die still unter der Norm hindurchschlüpfte. Die Knopflöcher ihrer Blusen wussten es, die Löcher in ihrem Gürtel.

»Ich muss dich aufknöpfen und du mich, dann funktioniert es, wollen wir es ausprobieren?«

Federica hatte sich eingeredet, dass ihr Denken die Wirklichkeit beherrschte, dass Ersteres zu perfektionieren, Einfluss auf Letztere haben würde. Aber so war es nicht: Ihre Beziehung gestaltete sich mühsam, sie lebten in verschiedenen Städten, in verschiedenen Leben. Sie machten Liebe, und erst mit der Zeit bedeutete Liebe machen auch, sich zu lieben, so dass das Gefühl die Entfernung abmildern konnte, auch über die feste Gewohnheit verabredeter Zeiten hinaus.

In jenen ersten Jahren, als sie jeden Tag dachte, es würde keinen einzigen Tag länger dauern, schien ihr auch, als würden alle Ereignisse des Lebens sie und Simone betreffen. Der kleinen Susanna, die heranwuchs (doch...


Parrella, Valeria
Valeria Parrella, 1974 in Torre del Greco geboren, ist promovierte Sprachwissenschaftlerin und Dolmetscherin für Gebärdensprache und arbeitete als Buchhändlerin und Schauspielerin. Ihre erste Kurzgeschichtensammlung Die Signora, die ich werden wollte (2003) wurde mit dem Premio Campiello für das beste Debüt ausgezeichnet. Valeria Parrella lebt in Neapel. Bei Hanser erschien ihr Erzählungsband Liebe wird überschätzt (2017).

Kopetzki, Annette
Annette Kopetzki, 1954 in Hamburg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft und arbeitete viele Jahre als Universitätsdozentin und Journalistin in Italien. Sie übersetzte u.a. Pier Paolo Pasolini, Erri De Luca und Alessandro Baricco. 2019 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.



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