E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Paretsky Landnahme
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95988-183-8
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-95988-183-8
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Suche nach einer obdachlosen Musikerin führt Warshawski erneut nach Kansas - und zurück nach Chicago, wo man gut beraten ist, aalglatten Stadtentwicklern nicht in die Quere zu kommen. Denn wo das große Geld im Spiel ist, sinkt der Wert von Demokratie und Menschenleben ...
Sara Paretsky, 1947 in Kansas geboren, ist eine der renommiertesten Krimiautorinnen weltweit. Sie studierte Politikwissenschaft, war in Chicagos Elendsvierteln als Sozialarbeiterin tätig, promovierte in Ökonomie und Geschichte, arbeitete eine Dekade im Marketing und begann Anfang der 1980er Jahre mit dem Projekt, den Detektivroman mit starken Frauen zu bevölkern. In der Geschichte der feministischen Genre-Eroberung, die den Hardboiled-Krimi aus dem reinen Macho-Terrain herausholte und zur Erzählung über die ganze Welt machte, gehört Paretsky zu den wichtigsten Vorreiterinnen: Ihre Krimis um Privatdetektivin Vic Warshawski wurden Weltbestseller, mit zahllosen Preisen geehrt und in über 30 Ländern verlegt. Sara Paretsky gehört zu den Gründerinnen des internationalen Netzwerks Sisters in Crime, engagiert sich gegen Sexismus und Rassismus und bloggt kritisch zur lokalen und US-Politik. Sie lebt in Chicago, dessen Straßen auch das angestammte Pflaster ihrer wehrhaft alternden Ermittlerin sind.
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1
South Side Sisters
27. Juli, V. I. Warshawskis Geburtstag Die Mädchen reihten sich an der Wand auf, ihre Gesichter glänzten vor Schweiß, sie atmeten immer noch schwer. »Wir hätten gewinnen können, wenn Lureen mal ihren fetten Arsch bewegt und verhindert hätte –«, fing eine von ihnen an, doch Bernie brachte sie zum Schweigen. »Keine in meinem Team beschimpft eine andere Spielerin. Und bei einem Turnier gibt es nur eine Art, wirklich zu verlieren. Nämlich welche?« Das Mädchen, das geschimpft hatte, drehte den Kopf weg, aber die anderen sieben riefen im Chor: »Unehrlichkeit.« »Genau!«, sagte Bernie. »Wenn ihr nicht euer Bestes gebt, ist das unehrlich euch selbst und eurem Team gegenüber. Wenn ihr euer Bestes gebt, habt ihr gewonnen, selbst wenn die andere Mannschaft mehr Punkte gemacht hat. Aus Fehlern lernen wir, n’est-ce pas? Ein Spiel verlieren ist nur dann eine Niederlage, wenn ihr dabei nichts lernt und nicht daran wachst.« »Ja, Coach.« »Lauter. Ihr glaubt doch daran!« »Ja, Coach!«, donnerten sie. Die South Side Sisters hatten das Spiel gegen die Lincoln Park Lions verloren. Bernie – Bernadine Fouchard – hatte sie für das Spiel trainiert, mit der Inbrunst, mit der sie alles tat. Die Mädchen liebten sie. Sie gewöhnten sich an, in Gesprächen französische Bröckchen einzuflechten, sie ahmten ihre Manierismen nach: wie sie dastand, die Hände in die Hüften gestemmt, wie sie sich mit der Hand an die Stirn schlug und Mon dieu stöhnte. Bernies Sport war eigentlich Eishockey – wie bei ihrem Vater Pierre und ihrem Taufpaten, meinem Cousin Boom-Boom, beide einst Stars bei den Chicago Blackhawks. Anders als die beiden hatte sie selbst als begnadete Spielerin keine Chance, davon zu leben, also tat sie das Nächstbeste und studierte Sportmanagement an der Nordwestern University, wo sie auch im Eishockeyteam Big Ten spielte. Diesen Sommer machte sie Praktikum, als Fußballtrainerin in einem Jugendcamp der Chicagoer Parkverwaltung. Als Kind hatte sie genug Fußball gespielt, um die Grundlagen zu kennen. Sie stürzte sich mit derselben Energie in den Sport, mit der sie alles in ihrem Leben anging. Obwohl ihre Kids weder private Trainingscamps noch die anderen Vorteile hatten, die Mädchen in betuchteren Gegenden zugutekamen, inspirierte Bernie sie zu einer Spielweise, die ihrer eigenen Tolldreistigkeit nahekam. Ich war zur Forty-seventh Street gekommen, um die elfjährigen Sisters beim Endspiel in einem Rundenturnier zu sehen. Ein Stadtteilgremium zur Quartiersaufwertung – der South Lakefront Improvement Council, kurz SLICK – hatte den Sisters Sponsoren besorgt und wünschte, dass sie nach dem Spiel ihren Kotau machen kamen. SLICK hielt hier seine monatliche Versammlung ab; die Mädchen sollten auf dem Flur warten, bis sie reingeholt wurden. Eine Frau mit rostbraun gefärbten Kringellocken öffnete die Saaltür und steckte den Kopf heraus. »Könntet ihr Mädels mal leiser – ach! Sind das unsere kleinen Fußballerinnen?« »Ja«, sagte Bernie. »Wir sind ein tolles Team, aber im Warten auf dem Flur sind wir nicht so toll. Wann kommen wir dran?« »Sehr bald.« Die Frau kicherte, als hätte Bernie einen milde erheiternden Scherz gemacht. Als sie die Tür schloss, hörten wir drinnen eine Männerstimme losbrüllen. »Du verdammter scheiß Lügner! Wo hast du denn diesen gequirlten Scheißdreck her? Von der Lügen-Uni? In einem seriösen Studium der Umweltwissenschaften hast du das nämlich garantiert nicht so gelernt.« Die Mädchen hielten sich den Mund zu, um ihr erschrockenes Auflachen zu dämpfen. Ich ging zur Tür, machte sie auf und spähte hinein. Früher, als das Bankgebäude der Prairie Savings and Loan noch Wahrzeichen von Bronzeville war, hatte dieser Tagungsraum als Gemeindesaal gedient. Es gab eine niedrige Bühne und rund hundertfünfzig Klappstühle, heute zum konzentrischen Halbkreis angeordnet. Die Sitze waren voll belegt, nicht, weil viele Anwohner scharf darauf waren, an einem Sommernachmittag einer Stadtteilversammlung beizuwohnen, sondern weil reichlich Familienmitglieder die Sisters angefeuert hatten und dabei sein wollten, wenn sie ihre Meriten erhielten. Zwei Männer und eine Frau, alle in gesetzterem Alter, versuchten die Versammlung zu leiten, doch der Schreihals aus dem Publikum hatte sie wohl unvorbereitet erwischt. Einer der Männer hatte einen Richterhammer, mit dem er dauernd auf einen Holzblock einschlug, dabei rief er »Ruhe, Ruhe!«. Die Frau – dünn, drahtig, in einem blauen T-Shirt mit SLICK-Logo – zappelte auf ihrem Stuhl herum und versuchte den Störenfried im Publikum niederzuschreien. Der zweite Mann sah gar nicht auf, er schrieb mit der Hand langsam etwas auf einen weißen Block. Der Zwischenrufer war ein Weißer um die vierzig, die Haut braun wie altes Leder, in Khakishorts und einem T-Shirt mit einer verblichenen Sonnenblume. Womöglich sogar recht gutaussehend, aber Wut verzerrte seine Züge. Sein Zorn richtete sich offenbar gegen einen sehr jungen Mann auf der Bühne, der unbeholfen einen Computer auf einem Notenständer balancierte: Wie so vieles an der South Side bot der Saal, wo SLICK Versammlungen abhielt, wenig Ausstattung, es gab kein Podium. Er hatte anscheinend eine Präsentation vorgestellt, bei der es um Landgewinnung an Teilen des Seeufers um die Forty-seventh Street ging, denn an die Wand hinter der Bühne war eine Skizze projiziert: ein Sandstrand, Spielplätze, eine Bar, ein Restaurant. »Aber, Sir, das ist quasi Teil des ursprünglichen Burnham-Plans, oder jedenfalls ist es das, was Burnham –« »Scheiße nein, nie im Leben ist das der Burnham-Plan.« Obwohl der junge Mann ein Mikro hatte, übertönte der Zwischenrufer ihn ohne Mühe. Jetzt stürmte er auf die Bühne los. Der junge Mann erschrak und ließ seine Maus fallen. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, krachte sein Computer zu Boden. Das Bild an der Wand verschwand. Noch ehe der Störer die Stufen erreichte, traten mehrere Leute aus dem Publikum dazwischen und versperrten ihm den Weg. Er rangelte mit ihnen und spie wüste Beschimpfungen sowohl gegen den Redner als auch gegen das Trio, das die Versammlung leitete. Aus irgendeinem Winkel tauchten zwei Cops auf. Sie drückten dem Mann die Arme auf den Rücken und führten ihn zwischen den Sitzreihen hindurch zur Tür, wo sie mich beiseitestießen. Ein ganzer Wald von Handys stieg auf, um die Szene festzuhalten. Ein Großteil des Publikums hatte den Cops applaudiert, aber vereinzelt erhoben sich Rufe zugunsten des Störers. »Lasst ihn doch sprechen!« »Lasst ihm etwas Luft!« »Hey, die ganze Welt schaut zu!« Der Mann mit dem Richterhammer hieb weiter auf den Holzblock ein. Im Flur hinter mir sahen die Mädchen offenen Mundes zu, wie die Cops den Unruhestifter aus dem Gebäude schleiften. Als sie außer Sicht waren, brach unter den Fußballerinnen erregtes Geschnatter aus, das Bernie nicht zu dämpfen versuchte. »Das ist Leo, den er da attackiert hat«, sagte sie zu mir. »Gut, dass die Polizei ihn festgenommen hat!« »Leo?«, echote ich. »Er arbeitet diesen Sommer für SLICK. Er hat mir die Zeremonie für mein Team organisieren geholfen. Diese Attacke braucht er jetzt echt nicht.« Sie schob ihre Spielerinnen in den Saal, wo sie sich hinter der letzten Sitzreihe drängten. Die Frau vorn marschierte jetzt auf der kurzen Bühne auf und ab und schlug sich mit einem hölzernen Zeigestab in die offene Handfläche, als wäre es der Offiziersstab eines Feldmarschalls. »Unser Gremium hat sich dem Schutz des Sees und des Seeufers verschrieben«, rief sie. »Alles, was mit dem Lake Michigan zu tun hat, prüfen wir besonders sorgfältig. Ich lebe an der South Side, seit ich neunzehn bin, ich habe hier drei Kinder großgezogen. Ich habe diesem Stadtteil und dem Seeufer mein Leben geweiht. Ich hasse diese Berufsprotestler, die hierherkommen und alles umschmeißen wollen.« »Jawohl!«, rief der Hammermann. »Berufsprotestler raus.« Der zweite Mann auf der Bühne sah immer noch nicht von seinen Papieren auf. »Wir brauchen eine Abstimmung, um den Planungsstand so abzusegnen, wie Leo ihn vorgestellt hat.« Die Frau schlug mit ihrem Zeigestab so hart auf den Tisch, dass der Notizenmann seinen Stift fallen ließ. »Aber ich bin noch gar nicht fertig«, wandte Leo ein. »Schon gut, Söhnchen«, dröhnte der Hammermann. »Wer Einzelheiten wissen will, findet sie ja auf der Internetseite von SLICK.« Eine weißhaarige Frau vorne im Saal stand auf. »Ich bin keine Berufsprotestlerin, Mona. Ich lebe schon länger an der South Side als du, ich hab hier Kinder großgezogen, wobei ich nicht weiß, was das mit dem Schutz der Ufermeile zu tun haben soll. Egal, ich weiß auch ein bisschen was über demokratische Strukturen. Wir können hier nicht über ein Vorhaben abstimmen, von dem wir nicht mal die Einzelheiten kennen.« »Sie haben gar nicht das Wort, das Podium hat Ihnen nicht das Wort erteilt«, röhrte der Hammermann, die Backen gebläht vor Empörung. Neben mir runzelte Bernie die Stirn, irritiert darüber, wie die Versammlung sich entwickelte. »Das ist nicht korrekt. Wieso lassen sie Leo nicht weiterreden?« Ich versuchte nicht, das zu beantworten. »Jetzt wär ein guter Zeitpunkt dafür, dass deine Mädchen ihre Ehrung bekommen. Sonst wird die Versammlung vollends zur...




