E-Book, Deutsch, 520 Seiten
Paretsky / CULTurBOOKS Schiebung. Kriminalroman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95988-229-3
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 520 Seiten
ISBN: 978-3-95988-229-3
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wirtschaftsermittlerin V.?I. Warshawski rackert sich ab, um sowohl ihrer frisch aufgetauchten und gleich wieder verschollenen Nichte als auch dem Großneffen ihrer Freundin zu helfen. Was ihr wenig Dank und kein Honorar einbringt, dafür gleich zwei kräftezehrende Fälle: Einer führt nach Syrien, der andere beschert ihr mächtige Widersacher im heutigen Chicago. Und schon fliegen ihr Kugeln um die Ohren. Ihr schlipstragender Ex ist auch keine Hilfe - hat er gar Dreck am Stecken? In der neuen Paretsky geht es um Aktienhandel und Schuldenfallen, um den Chauvinismus der Mächtigen und um archäologische Schätze. Die Detektivin ohne Furcht und Tadel im Kampf gegen Korruption und Vorurteil: V.?I.?Warshawski in Bestform.
Sara Paretsky, eine der renommiertesten Krimiautorinnen weltweit, studierte Politikwissenschaft, war in Chicagos Elendsvierteln als Sozialarbeiterin tätig, promovierte in Ökonomie und Geschichte, arbeitete eine Dekade im Marketing und begann Anfang der 1980er Jahre, den Detektivroman mit starken Frauen zu bevölkern. In der Geschichte der feministischen Genre-Eroberung, die den Hardboiled-Krimi aus dem Macho-Terrain herausholte und zur Erzählung über die ganze Welt machte, gehört Paretsky zu den wichtigsten Vorreiterinnen: Ihre Krimis um Privatdetektivin Vic Warshawski wurden Weltbestseller, mit zahllosen Preisen geehrt und in 30 Ländern verlegt. Sara Paretsky gehört zu den Gründerinnen des internationalen Netzwerks Sisters in Crime, engagiert sich gegen Sexismus und Rassismus und bloggt kritisch zur lokalen und US-Politik. Sie lebt in Chicago, dessen Straßen auch das angestammte Pflaster ihrer wehrhaft alternden Ermittlerin sind.
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1
Schweigen im Walde
Der Deputy schlug sich vorwarnungslos ins wuchernde Dickicht. Felix und ich stolperten hinter ihm her, folgten dem tanzenden Licht seiner Taschenlampe, so gut es ging, Zweige von Sträuchern und Bäumen schnappten zurück, peitschten uns ins Gesicht. Als ich ihm zurief, er solle langsam machen, lief er nur noch schneller. Das mickrige Licht meines Handys brachte wenig, ich rutschte auf einem Haufen feuchter Blätter aus und landete in einem dornigen Gebüsch. Schlamm quoll über den Rand meiner Schuhe und lief runter in die Socken. Felix versuchte mich zu befreien, aber dabei verfing sich sein Schal in den Brombeeren. Der Deputy war uns ein gutes Stück voraus, als wir uns freigestrampelt hatten, aber wir sahen noch sein Licht durch die Bäume huschen und dahinter, endlich, den kalten Schein von Bogenlampen. Ich kämpfte mich durchs Unterholz darauf zu. Der Deputy stand bei einer der Lampen. Er sah sich gereizt um, als wir ankamen, und sagte: »Wird auch Zeit«, dann rief er jemandem hinter der Lampe zu: »Hab den Jungen hier, Boss. Er hat noch jemand dabei. Behauptet, sie ist Anwältin.« »Ja, weil ich Anwältin bin«, sagte ich in munterem Ton – ich will bloß helfen und niemanden behindern. »Bring sie her.« Der Boss hatte eine rasselnde Stimme, rau. Nach den zwanzig Minuten im dunklen Gehölz blendete das wattstarke Licht. Ich blinzelte, sah zur Seite und versuchte dann Einzelheiten der Szenerie auszumachen. Tatortabsperrband markierte ein Gebiet mit Bäumen und Gestrüpp. Eine beachtliche Anzahl Officer durchsuchte die Gegend außerhalb dieses Bereichs, während Spurensicherer ihre Entdeckungen entgegennahmen – Zigarettenkippen, Kondome, Bier- und Cognacflaschen –, sie eintüteten und die Fundorte mit gelben Fähnchen markierten. Felix versenkte die Hände tief in den Hosentaschen und schlurfte hinter mir her auf die Lichtung. Er stolperte über einen Ast und fiel beinahe hin, stieß aber meinen Arm weg, als ich ihn stützen wollte. Felix war normalerweise ein lebhafter junger Mann, der mit meiner Generation so ungezwungen umging wie mit seinen Altersgenossen, aber er hatte kaum ein Wort herausgebracht, seit ich ihn vor einer Stunde eingesammelt hatte. Nerven: verständlich, aber als ich nachzufragen versuchte – Warum glaubte die Polizei, Felix könne eine Leiche identifizieren? Wurde jemand, den er kannte, vermisst? –, blaffte er mich an, ich solle Ruhe geben. Der Deputy schob uns zu einem Mann um die fünfzig mit Hängebacken, kräftig Gewicht um die Körpermitte, aber sonst nicht fett. Lieutenantstreifen auf den Schulterklappen seiner Uniformjacke. »Felix Herschel?«, raunzte der Lieutenant, und an mich ge-wandt: »Sie sind die Anwältin?« »V. I. Warshawski«, sagte ich. Der Lieutenant ignorierte meine ausgestreckte Hand. »Wozu braucht der Junge einen Rechtsverdreher? Haben Sie was zu verbergen, Söhnchen? Unschuldige brauchen keine Anwälte.« »Unschuldige brauchen Anwälte viel dringender als die Schuldigen, Lieutenant –«, ich schielte auf sein Namenschild, »McGivney. Weil sie nichts von Strafrecht verstehen und ruppige Vernehmende sie leicht einschüchtern und zu falschen Geständnissen verleiten können. Also, kommen wir zu der Frage, was Mr. Herschel hier für Sie tun kann.« McGivney musterte mich, beschloss, sich auf diese Schlacht nicht einzulassen, und nickte zur Mitte der Bogenlampen hin. »Bringen Sie Ihren Mandanten mit, Warshawski. Achten Sie beide darauf, in meinen Spuren zu gehen: Wir wollen die Verunreinigung des Tatorts möglichst gering halten.« Ich musste meine Oberschenkelmuskeln strapazieren, um mit ihm Schritt zu halten. Dann standen wir vor einem Baumstumpf, auf den die Bogenlampen ausgerichtet waren. Felix hielt hinter mir an, aber ein Deputy schubste ihn vorwärts. Der Stumpf war über einen Meter hoch, Überbleibsel einer großen alten Eiche oder Esche, die im Wald umgestürzt war. Die Rinde war rostbraun verrottet. Eine schwarze Plane bedeckte den Stumpf und ein Stück dahinter. McGivney nickte einer Kriminaltechnikerin zu. Sie zog die Plane weg und enthüllte den zerschundenen und aufgequollenen Körper eines Mannes. Er war kopfüber ins hohle Innere des Stumpfs gestopft. Die ursprüngliche Lage der Leiche war mit weißen Linien angezeichnet – man hatte wohl nur die Füße und Teile der Beine gesehen, aber die Deputys hatten ihn herausgezogen. Er hatte Jeans an und einen dreckverkrusteten Hoodie, der Reißverschluss stand offen und zeigte einen schlimm zugerichteten Torso. Er war so grausam geprügelt worden, dass sein Kopf nur noch ein unförmiger Fleischklumpen war. Das Haar mochte braun gewesen sein, war aber zu sehr mit Matsch und Blut verkrustet, um sicher zu sein. Meine Muskeln spannten sich an. Gewaltsamer Tod, abstoßender Tod. Neben mir stieß Felix einen gurgelnden Laut aus. Sein Gesicht war bleich, der Blick glasig, er taumelte. Ich legte ihm eine Hand ins Kreuz und zog mit der anderen seinen Kopf grob nach unten, presste sein Gesicht so nah an seine Knie, wie es ging. »Haben Sie Wasser, Lieutenant?«, fragte ich. »Nein, und Riechsalz hab ich auch keins dabei.« McGivney grinste ein Haifischlächeln. »Erkennen Sie das Opfer – die Leiche, den Ermordeten –, Söhnchen?« »Wie kommen Sie darauf, dass Mr. Herschel ihn kennt?«, fragte ich, bevor Felix etwas sagen konnte. Ich hatte ihn im Auto vorgewarnt, sich mit mir abzusprechen, bevor er Fragen beantwortete, aber unter Schock angesichts des Todes würde er daran nicht denken. McGivneys Mund zog sich verärgert zusammen. »Wir haben einen guten Grund dafür.« »Das mag ja sein, aber abgesehen davon, dass es sich ziemlich sicher um einen Mann handelt, wüsste ich nicht, wie ihn irgendwer identifizieren soll, außer durch DNS oder Zahnbefunde. Und da Sie ihn gerade erst gefunden haben, dürften solche Daten noch nicht vorliegen.« »Erkennen Sie ihn, Mr. Herschel?« McGivney beherrschte sich, nur seine verkrampften Kiefermuskeln verrieten seinen Grimm. Felix sah weg von der Lichtung, weg von der Leiche. Seine Gesichtsfarbe war etwas besser, aber sein Blick immer noch glasig. McGivney packte ihn an der Schulter. »Kennen Sie diesen Mann?« Felix blinzelte. »Wer ist es?« »Deshalb haben wir Sie herkommen lassen. Wir nahmen an, dass Sie ihn kennen.« Felix schüttelte langsam den Kopf. »Ich kenne ihn nicht. Woher stammt er?« »Was spielt das für eine Rolle?« McGivney stürzte sich auf die seltsame Frage. »Wissen Sie von einer vermissten Person?« Ich entfernte die Hand des Sheriffs von Felix’ Arm. »Er sagt, er kennt den Toten nicht, und das heißt, dass wir hier fertig sind, Lieutenant.« »Wir sind fertig, wenn ich sage, dass wir fertig sind«, blaffte McGivney. »Oh, bitte. Sie haben uns keinerlei Gründe dafür genannt, Mr. Herschel um zwei Uhr morgens hier rauszubeordern. Wir haben einen ermordeten Mann betrachtet und das Grauen seines Todes empfunden, was zweifellos in Ihrer Absicht lag. Keiner von uns hat ihn je zuvor gesehen. Wir können Ihnen nicht helfen. Gute Nacht, Lieutenant.« Ich nahm Felix am Arm, drehte ihn um und wies ihn an, in die Fußabdrücke zu treten, denen wir hergefolgt waren. »Warum hatte der Kerl Herschels Namen und Telefonnummer in der Hosentasche?«, rief McGivney scharf. Felix sah mich an, die dunklen Augen weit vor Angst. Ich raunte ihm zu: »Sag kein Wort«, bevor ich McGivney über die Schulter zurief: »Ich bin kein Medium, folglich kann ich leider keine Fragen nach Handlungen und Motiven dieses armen Toten beantworten.« »Sie sind hier am Schauplatz eines Mordes und nicht bei Saturday Night Live«, blaffte McGivney. »Ihr Mandant muss seine Verbindung zu dem Toten offenlegen, Warshawski.« Ich drehte mich um. »Mein Mandant sagte Ihnen doch schon, er hat keine Verbindung. Wenn beim Durchsuchen der Leiche ein Telefon mit Mr. Herschels Kontaktdaten aufgetaucht ist, können Sie seine Identität auch ohne unsere Hilfe ermitteln.« »Es ist ein Stück Papier«, sagte McGivney. »Wenn wir uns das ansehen können, sind wir vielleicht imstande, Ihnen zu helfen«, sagte ich im besänftigenden Ton einer Kindergärtnerin. McGivney runzelte die Stirn, aber er war ein vernünftiger Cop, nur dass ich ihm mehr zusetzte, als ihm lieb war. Er gab jemandem von der Spurensicherung ein Zeichen und erhielt eine Beweismitteltüte mit Etikett: Linke vordere Jeanstasche, entnommen 01:17 h. Darin war ein Zettelchen mit Felix’ Mobilnummer, handgeschrieben, und zwar so sorgsam, dass die Zahlen wie ein Kunstwerk aussahen. »Was wissen Sie darüber, Herschel?«, verlangte McGivney zu wissen. Felix sah mich an, die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich war sicher, dass er die Handschrift kannte. »Das ist von einem größeren Stück Papier abgerissen worden«, sagte ich rasch, bevor er sich verriet. »Gute Qualität. Kein Zettelblock, keine Notizbuchseite.« »Sie sind wohl Sherlock Holmes«, knurrte McGivney. »Keine Abhandlungen über Papierherstellung, Lieutenant, bloß Hinsehen und Erfahrung.« »Und wie erklärt sich mit Hinsehen und Erfahrung, warum die Nummer Ihres Mandanten in der Tasche des Opfers steckte?« »Hab immer noch keine Kristallkugel, Lieutenant.« Ich entfernte mich vom Tatort, die Hand fest um Felix’ Unterarm...




