E-Book, Deutsch, 320 Seiten
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1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8031-4315-0
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4315-0
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kathy Page ist Autorin von acht Romanen und zwei Erzählbänden, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. In Großbritannien geboren und aufgewachsen, lebt sie nun seit einigen Jahren auf Salt Spring Island bei Vancouver in Kanada. Sie unterrichtet an der Vancouver Island University. Für ihren Roman »All unsere Jahre« erhielt sie den Rogers Writers' Trust Fiction Prize.
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5
Es ist gerade mal vier Tage her, seit Dickie Walters Simon zu sich ins Büro gerufen hat. Was ist los?, dachte er, während er dem Beamten in die Magnolienzone folgte, wo der Geruch nach abgestandenem Essen und körperlichen Nöten ganz plötzlich aufhört, abgelöst wird vom Aroma frischen Kaffees, das dem Kabuff am Ende des Trakts entströmt. Waren sie hinter den Deal mit Teverson gekommen? Hatte ihn jemand wegen so einer Kleinigkeit verpfiffen? Allein der Gedanke ballte seine Hände zu Fäusten; gleichzeitig sogen seine Augen das tiefdunkle Rot des Teppichs auf, und seine Ohren passten sich dankbar der neuen, leisen Geräuschkulisse aus gedämpften Stimmen, Tippen und Telefonen, Frauenlachen hinter angelehnten Türen an.
, dachte er, als der frisch aussehende Walters ihm die Hand schüttelte, sich setzte und endlose Einleitungen durchging.
»Nun«, sagte Walters schließlich, »gute Nachrichten. Nach eingehender Prüfung, als Privileg, nicht als Recht, habe ich beschlossen, Ihnen Zugang zu Ihrem letzten F75-Bericht zu gewähren –«
»Den will ich nicht«, sagte Simon. »Warum sollte ich? Ich habe nie darum gebeten.«
»In letzter Zeit versuchen wir, so transparent wie möglich zu sein«, fuhr Walters unbeirrt fort, während das Licht in den schlierenfreien Gläsern seiner Brille funkelte. »Wir meinen, dass Sie aus diesen Berichten Nutzen ziehen könnten, natürlich nur, falls und sobald es die Personaldecke erlaubt. Stellen Sie einfach einen Antrag bei Ihrem Sachbearbeiter.« Zuerst hat er nur gelacht. Den Arsch um was bitten? Dann dachte er, es sei ihm egal. Dann dachte er, er würde es aushalten: falsch. Er hat einen Antrag gestellt, und hier sitzt er nun, an einem ein mal ein Meter großen Resopaltisch mitten in einem fensterlosen Kubus, genau unter der rechteckigen Neonleuchte an der Decke. Hoskins lehnt zwei Schritte entfernt an der Wand, saugt den Atem durch die Zähne ein und sieht alle zwei Minuten auf die Uhr. Der Bericht liegt vor ihm in einem Klemmhefter, gut einen Zentimeter dick. Ihm wird klar, dass es ein Fehler war herzukommen, schlägt den Hefter aber trotzdem auf.
»Austen hat eine arrogante Einstellung. Bislang hat er keine Anstalten gemacht, sich mit seinem kriminellen Verhalten auseinanderzusetzen, mit Ausnahme seiner Schreib- und Lesestörung, die nur einen geringen Einfluss auf den Tathergang gehabt haben dürfte …« Walters höchstpersönlich. Wo lernen sie dieses Zeug bloß! So geht es weiter, immer weiter. Fünf, sechs Seiten! Er blättert alles jäh durch und zerreißt dabei fast die maschinegeschriebenen Blätter:
»… nahm am Antiaggressionstraining teil, sagte aber, er mache das nur der Anstalt zuliebe, und merkte an, die meisten Techniken bereits selbst entdeckt zu haben …« Ja, genau, das nennt man den Scheißdruck rausnehmen, muss man auch, sonst explodiert man! Er blickt zu Hoskins hinüber, der die Decke betrachtet, leuchtende Wangen vor lauter geplatzten Äderchen, Schuppen auf den Schultern, und bestimmt von der Pensionierung träumt, sechs Monate später ist er vermutlich tot.
»Austen verdrängt die Tat völlig …« Bei diesen Worten, getippt von der Frau im Kunstfaser-Strickkostüm, die neben den Chefbüros sitzt, klackklackklack, wird ihm speiübel. Im wahrsten Sinne des Wortes, er spürt schon, wie sich ihm der Mund füllt. Er blättert ein paar Seiten gleichzeitig um. , alles klar? Der Sachbearbeiter, immerhin selbst per Hand geschrieben, hat fest aufgedrückt, Kleckse mit der Kulitinte hinterlassen: »Gutes Betragen, aber sarkastisch und Einzlgänger (sic). Der Mann wirkt auf mich wie eine Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann.«
Wieder blättert er eine Handvoll Seiten um. Dr. Grice!
»Ganz ruhig«, schnauft Hoskins und drückt sich einen Augenblick lang von der Wand ab für den Fall, dass er einschreiten muss, lehnt sich dann wieder zurück.
»Anstatt sich seinen frühen Erfahrungen von Verlassenwerden und Zurückweisung zu stellen, hat Simon eine Strategie entwickelt, bei der er weiteren Zurückweisungen mit Feindseligkeit zuvorkommt. Er zeigt kein Interesse daran, dies zu hinterfragen, und im Laufe von sechs Sitzungen verspottete er häufig …«
Und damit ist er auf einmal so angespannt, wie er es immer in Grices apricot-weißem Raum wurde: Es gab nichts zu tun außer die übermalte Ziegelmauer zu betrachten, die Sommersprossen auf Grices Handrücken, die vereinzelten grauen Haare in seiner Nase, die Glatze, das Webmuster seines Jackenstoffs, betrachten, betrachten, betrachten, bis es zu einer Art Halluzination wird, und darauf warten, dass die Zeit vergeht. Grice konnte eine Frage stellen und zwanzig Minuten lang warten, ob eine Antwort kam oder eben nicht. Schien ihm nichts auszumachen. Wann immer Simon zu seinem Gesicht aufblickte, sah er ihn an, nicht starrend, nur aufmerksam, so als gerade eben etwas gesagt worden, das in ihm einen neuen und interessanten Gedankengang in Bewegung setzte. Immer wenn Simon diesen Raum wieder verließ, war sein Kiefer völlig verspannt und sein ganzer Rücken tat ihm weh, und er wünschte, jemand würde auf ihn losgehen, nur damit sich die Spannung lösen und er zurückschlagen konnte. Einmal war das tatsächlich passiert, im Duschraum, da hatte irgendein Idiot über eines seiner Tattoos gelacht, in zwei Sekunden hatte er ihn am Boden und schlug seinen Kopf gegen die Fliesen: »Wag es ja nicht, über mich zu lachen.« Ergebnis: jede Menge Respekt, plus fünf Extratage, wegen Widerstands gegen die Wärter, die sie getrennt hatten, plus das Antiaggressionstraining, das er machen musste. Das war beim letzten Mal, als er zu Walters musste.
»Also«, sagte Grice am Ende ihrer letzten »Sitzung«, wie er das nannte, »wir können zu einem späteren Zeitpunkt natürlich weitermachen, sollten Sie Ihre Meinung ändern …« Simon dachte: Aber gleichzeitig stand er vor Grice, als wäre er zu Stein erstarrt, als könnte er aus irgendeinem Grund nicht gehen, jetzt, wo es tatsächlich vorbei war.
Hoskins räuspert sich, es klingt, als wäre seine Kehle mit ausgehärtetem Zement gefüllt, dazwischen eine Handvoll Kieselsteine oder zwei. Er ist bei mindestens vierzig am Tag und will ganz klar nichts wie raus aus diesem Nichtraucher-Raum. »Paar Minuten noch«, sagt er, und Simon könnte es dabei belassen, doch allein schon um Hoskins zu ärgern, blättert er wahllos ein paar weitere Seiten um: »Austen ist körperlich fit und achtet gut auf persönliche Sauberkeit«, entdeckt er dank des Anstaltsarztes. So ein Schätzchen! Wer war hier doch gleich der Experte? Hab ich recht oder nicht? Aber hat das auch nur die geringste Bedeutung?
»Was für ein Scheiß!«, bellt Simon Hoskins an.
»Ach was?«, kommentiert Hoskins und lächelt dankbar, als er sich endlich wieder von der Wand löst.
»Was gelernt?«, röchelt er, während er sich vorbeugt, um die Tür hinter ihnen abzuschließen. Den fetten Scheißer hätte ich im Handumdrehen am Boden, denkt Simon, aber aus irgendeinem Grund passiert das nicht. »Zurück ans Werk?«, grinst Hoskins und langt nach seinen Embassys und dem vergoldeten Feuerzeug. Wie oft hat er das in seinem Leben schon gemacht? Ich könnte deine Karte schreiben, denkt Simon:
Wie kann sich hier irgendwer normal verhalten oder sich auch nur daran erinnern, was das überhaupt ist? Hoskins zündet sich die Zigarette mit einem Seufzen an und hält Simon in einem nachträglichen Einfall die Schachtel hin. Er nimmt zwei, steckt sich je eine hinters Ohr.
Hoskins begleitet ihn zum Werkzeugschuppen, schließt auf, sieht ihm dabei zu, wie er riesige rote, euterähnliche Gummihandschuhe anzieht und Schubkarre, Kehrblech, Bürste und so weiter herausholt. Dann ist er fast eine Stunde lang allein. Obwohl er eine Zeitbombe ist, verlangt sein neuer Job Zuverlässigkeit, und er bekommt eine rote Binde, die er am Arm tragen muss, so lange er draußen ist. Morgens gilt es, neben dem einen oder anderen Sandwich, Süßigkeitenpapier und so weiter die aus den Zellenfenstern geworfenen Scheißepäckchen jener Insassen aufzuheben, die nicht das Glück haben, über eine eigene Sanitäreinheit zu verfügen. Nachmittags Staub zusammenkehren. Der Job bringt keinen Respekt ein, aber er kommt dadurch raus. Er kann hinter den Pädagogiktrakt gehen und Marsden beim Klavierüben zuhören. Er kann sich einen größeren Himmelsausschnitt ansehen, Windfetzen im Gesicht spüren. Und irgendwann kann er an den Heizungsschuppen vorbeigehen, wo Teverson arbeitet und Kohle schaufelt. Das macht er mit freiem Oberkörper, staubig und verschwitzt, wie in einem Bildband über die Minen von vor hundert Jahren. Er hat den Job nur wegen der Fitness übernommen, sagt er, und da punktet er zweifellos. Der Wärter sieht zu, dicker Bauch, rauchend.
»Hast du meins auch?«, ruft Tev Simon zu. »Groß und klebrig. Ohne Papier. Tut mir leid, Mann, ich hab’s nicht einpacken können.«
»Hat ne Ratte gefressen«, sagt Simon. »Ist dran verreckt.«
»Man sieht sich!«, sagt Tev, offensichtlich zufrieden, und wendet sich wieder seiner Arbeit...