Paech Befreiung vom Überfluss
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86581-634-4
Verlag: oekom
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-86581-634-4
Verlag: oekom
Format: PDF
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Prof. Dr. Niko Paech ist einer der profiliertesten Wachstumskritiker Europas und wurde mit seinem Buch »Befreiung vom Überfluss« (2012) zum führenden Vordenker der Postwachstumsökonomie im deutschsprachigen Raum. Paech ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Siegen im Studiengang »Plurale Ökonomik«. Er war und ist im Rahmen diverser Forschungsprojekte tätig. Zudem ist er Mitglied etlicher Netzwerke und Einrichtungen im Nachhaltigkeitsbereich.
Zielgruppe
Politik- und Wirtschaftsinteressiert, Ökonomen, Konsumenten
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Befreiung vom Überfluss;1
2;Inhaltsverzeichnis;5
3;Einleitung Wohlstandsdämmerung – Aussicht auf mehr Glück?;7
4;Kapitel I Über seine Verhältnisse leben – ein vermeintliches Menschenrecht;13
4.1;Die große Mobilmachung;14
4.2;Haben jetzt – zahlen später;17
5;Kapitel II Fortschritt als Illusion – Wohlstand durch Plünderung;25
5.1;Effizienzmythos I: Industrielle Arbeitsteilung und Marktwirtschaft;26
5.2;Effizienzmythos II: Innovationen und Produktivitätsfortschritt;32
5.3;Arbeitskraft als Quelle für Wohlstand?;36
5.4;Umgeben von Energiesklaven;40
5.5;Die Simulation eigener Leistung;44
5.6;Die verlängerten Arme unseres Wohlstandsmodells;49
5.7;Wissen als Quelle für Wohlstand?;54
5.8;Zwischenfazit: Die Rückkehr zur Sesshaftigkeit und zum menschlichen Maß;56
6;Kapitel III Freiheit als Illusion – neue Abhängigkeiten;63
6.1;Wer hoch fliegt, fällt umso tiefer;64
6.2;"Peak Everything": Konsumgesellschaften verlieren ihre materiellen Grundlagen;67
7;Kapitel IV Mythos Entkopplung – die Mär vom "grünen Wachstum";71
7.1;Materielle Rebound-Effekte;75
7.2;Finanzielle Rebound-Effekte;84
7.3;Psychologische und politische Rebound-Effekte;90
7.4;Absolute Entkopplung;93
7.5;Von der Objekt- zur Subjektorientierung;97
8;Kapitel V Genug ist nie genug – Wachstumszwänge und Wachstumstreiber;103
8.1;Strukturelle Wachstumszwänge;103
8.2;Kulturelle Wachstumstreiber;110
9;Kapitel VI Weniger ist mehr – Umrisse einer Postwachstumsökonomie;113
9.1;Ökonomie der Nähe: Milderung struktureller Wachstumszwänge;114
9.2;Kreative Subsistenz als Ersatz für Industrieoutput;120
9.3;Suffizienz und Zeit;126
9.4;Die Rolle der Unternehmen;131
9.5;Was wäre eine Postwachstumspolitik?;134
10;Fazit Wir haben (noch) die Wahl!;143
11;Die Postwachstumsökonomie im Überblick (Grafik);150
12;Zitierte und weiterführende Literatur;152
13;Über den Autor;155
Kapitel IÜber seine Verhältnisse
leben – ein vermeintlichesMenschenrecht
Um die These zu verstehen, derzufolge sich unser Wohlstand einer umfassenden ökologischen Plünderung verdankt, lohnt sich ein Blick auf die Schuldenkrise in der EU. Bemerkenswert ist die gedankliche Basis, auf welcher die zur Schicksalsfrage stilisierte Rettung Griechenlands und anderer ökonomisch maroder EU-Länder verhandelt wird. Ganz gleich ob im neoliberalen oder linken Lager, überall dringt dieselbe Logik durch: Die zu unfassbarer Monstrosität gediehenen »Rettungsschirme« seien zwar teuer und ihr Erfolg so ungewiss, dass damit bestenfalls Zeit zu gewinnen sei. Aber das andernfalls drohende Scheitern des Euro sei eben noch teurer und obendrein unsozialer, gerade für ein Land wie Deutschland. Käme es nämlich zur Wiedereinführung der D-Mark, müsste deren Wert wohl ungebremst steigen, währenddessen andere Währungen an Wert verlören. Folglich würden deutsche Exporte erschwert, was eingedenk aller ökonomischen Rückkoppelungen unweigerlich eine Senkung des Bruttoinlandsproduktes, also der Finanzierbarkeit des derzeitigen Wohlstandsniveaus bedeutete. In diesem Fall müssten sich deutsche Bürger mit jenem materiellen Wohlstand zufriedengeben, der kraft eines weniger übergreifenden und nicht so beschleunigten Leistungsaustauschs möglich wäre. Wie schrecklich! Gemessen am schwarzmalerischen Lamento amtlicher EU-Lobbyisten müsste Deutschland vor Einführung des Euro eine von allen Außenbeziehungen abgeschiedene, auf einem erbarmungswürdigen Versorgungsniveau dahinvegetierende Armutsökonomie gewesen sein.
Die große Mobilmachung
Verschwiegen wird inmitten der angstgetriebenen Euro-Rettungsdiskussion, wie gut es der Ökosphäre, insbesondere dem Klimaschutz täte, wenn der gnadenlos auf Expansion und Mobilität gebürstete europäische Wirtschaftsraum entschleunigt würde. Nichts drangsaliert die Umwelt Europas harscher als ein mit Engelszungen gepriesenes Integrationsprojekt, das einzig der ungehinderten und umso ruinöseren Raumdurchdringung dient. Die europäische Entwicklungslogik ist von bestechender Schlichtheit: Demnach ist alles einzuebnen, was der Ausdehnung von industrieller und landwirtschaftlicher Produktion, dem Gebäude- und Infrastrukturneubau, bis in die letzte Nische reichenden Schiffs- und LKW-Transporten sowie einem kerosintriefenden Bildungs-, Projekt- und Party-Nomadentum im Wege sein könnte. Dieser Entgrenzungsprozess mehrt Freiheitsgrade und Optionenvielfalt. Investoren können so jede institutionelle und räumliche Beengtheit überwinden: Eine grenzüberschreitende Abschöpfung betriebswirtschaftlicher Effizienzpotenziale, die in komparativen Kostenunterschieden bestehen, oder die Erschließung entfernt liegender Vermarktungsmöglichkeiten fällt umso leichter, wenn schlicht keine Grenzen, Währungsrisiken, Transportkosten, Planungsträgheiten, hinderlichen Genehmigungspraktiken oder gesetzlichen Disparitäten vorhanden sind. »Harmonisierung« nennt sich so etwas in Sonntagsreden.
Dieser reziproke Quasi-Imperialismus im Sinne einer gegenseitigen Raumdurchdringung greift auch auf individueller Ebene: Was mir vor Ort nicht zufällt, nicht gelingt, keine Anerkennung einbringt, dem Fortschritt meiner Selbstverwirklichungsansprüche nicht mehr genügt, mich langweilt oder mir mühsame Anpassungsleistungen abverlangt, ist vielleicht an einem anderen Punkt im europäischen (oder globalen) Koordinatensystem leichter zu haben. Genauso wie eine expansive Administration, der es zu eng geworden ist, weil die Ansprüche über das im eigenen Territorium Vorhandene hinausgewachsen sind, muss das mobile Subjekt ständig seinen Aktionsradius erweitern. Das Glück ist immer einen Ortswechsel oder eine Flugreise entfernt – zumindest für jene, die ständig auf der Flucht vor einem beengenden Hier und auf der Suche nach dem verheißungsvollen Dort sind. Obwohl: Vielleicht fliehen moderne Subjekte auch nur vor der inneren Enge ihrer selbst.
Analog zu modernen Unternehmen, die ihre Wertschöpfungsketten in immer spezialisiertere Subprozesse fragmentieren, um diese je nach Kostenvorteil geografisch optimal zu verschieben, werden Lebensstile zu einer Ereigniskette räumlich verteilter Austragungsorte der individuellen Steigerung. Dies betrifft längst nicht mehr nur den Urlaub, sondern auch die Bildung, die soziale Vernetzung, die Fernbeziehung, das politische Engagement, künstlerische Betätigungen, den beruflichen Alltag, das Shopping, sportliche Aktivitäten, jedwede Freizeitgestaltung bis hin zu einem innereuropäischen Party- und Club-Tourismus.
Räumlich entgrenzte Produktionsketten und Lebensstile sind kein Nebeneffekt des europäischen Eifers, sondern dessen intendierte »Harmonisierungs-« und »Integrationsleistung«. Es ist das Ziel eines maximalen Wachstums an Wertschöpfung und individuellen Selbstverwirklichungsoptionen, dem durch immer neue Verwüstungen der Weg zu bahnen ist. Ein Abbau aller Hemmnisse – etwa in Form kultureller oder institutioneller Vielfalt – sowie massive Subventionen für die nötigen Infrastrukturen forcieren nicht nur die wechselseitige, ökologisch verheerende Raumdurchdringung von Gütern und Personen. Sie erzeugen obendrein den unausweichlichen Druck, sich vorauseilend an die ungehinderte Fluidität anzupassen. Vormals Unerreichbares wird nun zwar möglich, aber nichts ist mehr sicher, denn im planierten Raum interagiert nicht nur alles miteinander, sondern auch gegeneinander. Jedes noch so kleine Unternehmen oder abgelegene Dorf sieht sich gezwungen, für den europäischen (und globalen) Wettbewerb aufzurüsten. Ganz gleich ob aus defensiven oder offensiven Erwägungen: Vorsorgliche Investitionen in zusätzliche Verkehrsanbindungen, Großprojekte und andere Mobilmachungen sind nun unabdingbar. Die hinlänglich bekannte Konsequenz ist ein materieller Rüstungswettlauf, den langfristig niemand gewinnen kann, weil jeder vorübergehende Vorsprung nur die infrastrukturelle Nachrüstung der Zurückgefallenen vorprogrammiert. Aber ein Verlierer steht auf jeden Fall fest: die Ökosphäre.
Haben jetzt – zahlen später
Das Verschuldungssyndrom liefert ein weiteres Indiz dafür, dass moderner Wohlstand nur durch einen schmalen Grat von institutionalisierter Verantwortungslosigkeit getrennt ist. Wenn sich Produzenten vorübergehend verschulden, um Inputfaktoren für die nächste Planungsperiode vorzufinanzieren, kann dies nur in der Erwartung geschehen, dem Schuldendienst systematisch nachkommen zu können. Andernfalls würde die resultierende Zahlungsunfähigkeit den Betrieb nicht fortbestehen lassen. Ein solches Regulativ scheint für Staaten nicht zu existieren. Schuldenfinanzierte Geschenke auszuschütten kennt prinzipiell keine Obergrenze, insbesondere dann nicht, wenn es gilt, die oben skizzierte Expansionsdynamik durch Subventionen vor Stillstand – einem der Todfeinde des sogenannten Fortschritts – zu bewahren.
Das Haben-jetzt-zahlen-später-Prinzip verkörpert eine Entgrenzung zeitlicher Art. Um sich nicht mit dem zufriedengeben zu müssen, was kraft eigener Leistungen gegenwärtig erreichbar ist, wird der Vorrat an zukünftigen Möglichkeiten geplündert. Es erfolgt ein Vorgriff auf Leistungen, die noch gar nicht erbracht wurden. Das gegenwärtige Verschuldungssyndrom ist nicht nur ein Gradmesser für Gier und Ungeduld, sondern für organisierte Verantwortungslosigkeit – und zwar im buchstäblichen Sinne: Jene, denen eine Antwort auf die Frage nach den Folgen eines gegenwärtigen Lebens über die Verhältnisse zu geben wäre, leben noch nicht. Werden Schulden hinreichend weit in die Zukunft verlagert, schränken sie umso eklatanter Optionen und Freiheitsgrade nachfolgender Generationen ein.
Wie schützen sich aufgeklärte Zeitgenossen vor Gewissensbissen, die ein moralisches Defizit solchen Ausmaßes heraufbeschwören könnte? Indem sie eine geradezu abenteuerliche Paradoxie instrumentalisieren: Der faktischen Zukunftsvergessenheit momentaner Exzesse wird ein quasi-religiöser Überbau aufgepfropft, nämlich ausgerechnet in Form einer rituellen Zukunftsbeschwörung. Im Zentrum des resultierenden Glaubenssystems stehen die Innovation und das Wachstum – beides im offiziellen Dienste des Wohlergehens zukünftiger Generationen versteht sich. Erstere soll die ökologischen Folgeschäden und Letzteres die spätere Schuldenlast eindämmen. So lässt sich die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen einfühlsam simulieren.
Auch wenn es gelingt, den Schuldendienst innerhalb eines vorgesehenen Planungshorizonts abzuleisten, anstatt ihn auf die Zukunft abzuwälzen, ist dies nur sinnhaft, wenn wirtschaftliches Wachstum erwartet werden kann. Wer verschuldet sich schon, nur um nach einer vereinbarungsgemäßen Rückzahlung wieder auf das Ausstattungsniveau vor Schuldenaufnahme zurückzufallen oder gar zwischenzeitlich angehäufte Vermögenswerte zu tilgen? Folglich dient Verschuldung – abgesehen von elementaren Notlagen, die aus eigener Kraft nicht zu meistern sind – dem Aufbau eines wie auch immer gearteten Kapitalbestandes, dessen spätere Verwertung einen hinreichenden Überschuss erwarten lässt, sodass über die Schuldentilgung hinaus ein höheres Niveau an materiellen Möglichkeiten erreicht wird. Das gilt nicht minder für die Entwicklung von Humankapital etwa im Falle eines durch Schulden finanzierten Studiums. Auch diese Investition dient nichts anderem als dem späteren Anspruch auf ein höheres Einkommen.
Natürlich könnte die Verschuldung...