E-Book, Deutsch, 592 Seiten
Ozeki Geschichte für einen Augenblick
23001. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96161-165-2
Verlag: Eisele eBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | "Einer der bewegendsten Romane, die ich seit langem gelesen habe." Madeline Miller, Autorin von Das Lied des Achill
E-Book, Deutsch, 592 Seiten
ISBN: 978-3-96161-165-2
Verlag: Eisele eBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ruth Ozeki ist Romanautorin, Filmemacherin und zen-buddhistische Priesterin. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet und schaffte es mit ihrem Roman Geschichte für einen Augenblick, übersetzt in 28 Sprachen, auf die Shortlist des Booker Prize. Zuletzt erhielt sie für ihren neuen Roman Die leise Last der Dinge den Women's Prize for Fiction 2022. Sie ist Mitglied der Everyday Zen Foundation und lebt in West-Massachusetts, wo sie Kreatives Schreiben am Smith College lehrt.
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Nao
1
Hallo!
Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist? Wenn du einen Moment hast, erzähl ich es dir.
Jeder, der in der Zeit lebt, ist Sein-Zeit, du, ich und jeder andere von uns, den es gibt, jemals gab oder geben wird. Ich sitze gerade in einem französischen Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town und höre ein trauriges Chanson, das irgendwann in deiner Vergangenheit spielt, die zugleich meine Gegenwart ist, schreibe dies und mache mir Gedanken über dich, irgendwann in meiner Zukunft. Und wenn du das hier liest, machst du dir jetzt vielleicht auch Gedanken über mich.
Du machst dir Gedanken über mich.
Ich mache mir Gedanken über dich.
Wer bist du, und was machst du gerade?
Hängst du an einer Schlaufe in der New Yorker U-Bahn, oder tauchst du in Sunnyvale in deinen heißen Whirlpool ein?
Liegst du auf Phuket am Strand in der Sonne, oder lässt du dir in Brighton die Fußnägel polieren?
Bist du Mann oder Frau oder irgendwas dazwischen?
Kocht deine Freundin dir ein leckeres Essen, oder isst du kalte Chinanudeln aus der Schachtel?
Liegst du eingerollt, deiner schnarchenden Frau kalt den Rücken zugewandt, oder wartest du, bis dein schöner Lover aus dem Bad kommt, um ihn dann leidenschaftlich zu lieben?
Hast du eine Katze, die auf deinem Schoß sitzt? Riecht ihre Stirn nach Zedernholz und frischer Luft?
Eigentlich ist es auch egal, denn wenn du das hier liest, wird schon alles anders sein, und du wirst dich an irgendeinem Ort befinden und dieses Buch träge durchblättern, das zufällig ein Tagebuch meiner letzten Tage auf Erden ist, und dich fragen, ob du weiterlesen sollst.
Und falls du dich entscheidest, nicht weiterzulesen, hey, kein Problem, ich habe eh nicht auf dich gewartet. Aber falls du weiterliest, dann stell dir vor! Du bist Sein-Zeit nach meinem Geschmack, und zusammen schaffen wir etwas Magisches!
2
Bäh. Das war dämlich. Ich muss mir mehr Mühe geben. Du fragst dich bestimmt, welche dumme Gans so was schreiben würde.
Na ja, ich würde.
Nao würde.
Nao bin ich, Naoko Yasutani mit vollem Namen, aber du kannst Nao zu mir sagen, wie alle anderen auch. Ich erzähle dir am besten ein bisschen mehr von mir, wenn wir uns weiter so treffen …!
Eigentlich hat sich nicht viel verändert. Ich sitze immer noch in diesem Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town, und Edith Pilaf singt ein weiteres trauriges Chanson, Babette hat mir gerade einen Kaffee gebracht, und ich habe daran genippt. Babette ist mein Dienstmädchen und auch meine neue Freundin, und mein Kaffee ist ein Blue Mountain, und ich trinke ihn schwarz, was für einen Teenager ungewöhnlich ist, aber eindeutig die Art und Weise, wie man guten Kaffee trinken sollte, wenn man nur ein bisschen Achtung vor der bitteren Bohne hat.
Ich habe einen meiner Strümpfe hochgezogen und mich hinten am Knie gekratzt.
Ich habe die Falten meines Rocks geradegerückt, sodass sie ordentlich auf meinen Oberschenkeln liegen.
Ich habe mein schulterlanges Haar hinters rechte Ohr geklemmt, das mit fünf Löchern gepierct ist, aber jetzt lasse ich es wieder züchtig vors Gesicht fallen, denn der Otaku4-Büroangestellte am Tisch nebenan starrt mich an, und das macht mir Angst, auch wenn ich es gleichzeitig amüsant finde. Ich trage meine Schuluniform aus der Junior Highschool und erkenne an der Art, wie er meinen Körper ansieht, dass er ein heftiger Schulmädchen-Fetischist ist, aber wenn das stimmt, warum hängt er dann in einem Dienstmädchencafé herum? Ich meine, was für ein Idiot!
Aber man weiß nie. Alles ändert sich, und nichts ist unmöglich, vielleicht ändere ich ja noch meine Meinung über ihn. Vielleicht wird er sich in den nächsten fünf Minuten umständlich zu mir herüberbeugen und mir etwas überraschend Schönes sagen, und mich wird eine große Zuneigung zu ihm überkommen, trotz seiner fettigen Haare und der schlechten Haut, und dann werde ich mich herablassen, ein bisschen mit ihm zu reden, und schließlich wird er mich einladen, mit ihm shoppen zu gehen, und wenn er mich überzeugen kann, dass er in mich verknallt ist, gehe ich mit ihm in ein Kaufhaus und erlaube ihm, mir einen süßen Cardigan oder ein Keitai5 oder eine Handtasche zu kaufen, obwohl er ganz offensichtlich nicht viel Geld hat. Danach gehen wir vielleicht in einen Club und trinken ein paar Cocktails, und dann verschwinden wir in ein Love Hotel mit großem Jacuzzi, und nach dem Baden, als ich gerade anfange, mich in seiner Gegenwart zu entspannen, zeigt er plötzlich seine wahre Natur, und er fesselt mich und zieht mir die Plastiktüte von meinem neuen Cardigan über den Kopf und vergewaltigt mich, und Stunden später findet die Polizei meinen leblosen nackten Körper, seltsam verrenkt auf dem Boden liegend, neben dem großen runden Bett aus Zebrafell.
Vielleicht bittet er mich auch nur, ihn ein bisschen mit meinem Slip zu strangulieren, weil ihn sein schönes Aroma so anmacht.
Oder es passiert nichts von alledem, außer in meiner Vorstellung und in deiner, denn, wie schon gesagt, zusammen schaffen wir etwas Magisches, zumindest für den Augenblick.
3
Bist du noch da? Ich habe gerade noch mal gelesen, was ich über den Otaku-Büroangestellten geschrieben habe, und möchte mich entschuldigen. Das war fies. Das war kein schöner Anfang.
Ich will nicht, dass du falsch von mir denkst. Ich bin keine dumme Gans. Ich weiß, dass Edith Pilaf nicht wirklich Pilaf heißt. Und ich bin nicht fies und auch keine Hentai6. Eigentlich mag ich Hentai überhaupt nicht, wenn du also einer bist, leg bitte sofort das Buch weg und lies nicht weiter, okay? Du wirst nur enttäuscht sein und deine Zeit vergeuden, denn das hier ist nicht das geheime Tagebuch einer Perversen, voll mit pinken Phantasien und ekelhaften Fetischen. Es ist nicht, was du denkst, denn ich schreibe es aus einem bestimmten Grund vor meinem Tod: Ich will jemandem die faszinierende Lebensgeschichte meiner einhundertundvier Jahre alten Urgroßmutter erzählen, die eine Zen-buddhistische Nonne ist.
Du findest Nonnen vielleicht nicht so prickelnd, aber meine Urgroßmutter ist es, und zwar auf überhaupt nicht perverse Weise. Ganz sicher gibt es jede Menge perverse Nonnen … oder vielleicht nicht so viele perverse Nonnen, aber perverse Priester, die ganz bestimmt, perverse Priester sind überall … aber in meinem Tagebuch geht’s nicht um die und die durchgeknallten Dinge, die sie tun.
Dieses Tagebuch erzählt die wahre Lebensgeschichte meiner Urgroßmutter Yasutani Jiko. Sie war schon Nonne und Schriftstellerin und Neue Frau7 der Taisho-Zeit8. Sie war außerdem Anarchistin und Feministin mit vielen Liebhabern, Männern und Frauen, aber sie war nie pervers oder fies. Und auch wenn ich einige ihrer Affären erwähne, ist alles, was ich schreibe, historisch korrekt und handelt von der Stärke der Frauen, nicht so ein blöder Geisha-Scheiß. Wenn du also auf perverse dreckige Dinger stehst, klapp bitte das Buch zu und gib es deiner Frau oder deinem Kollegen. So sparst du viel Zeit und Ärger.
4
Ich finde es wichtig, im Leben klar definierte Ziele zu haben, du nicht auch? Vor allem, wenn dir nicht mehr viel Leben bleibt. Denn wenn man keine klaren Ziele hat, ist auf einmal die Zeit um, und wenn es so weit ist, stehst du auf der Brüstung eines Hochhausdachs oder sitzt mit einer Tablettenschachtel in der Hand auf dem Bett und denkst, Scheiße! Ich hab’s versaut. Hätte ich mir doch klarere Ziele gesetzt!
Ich erzähle dir das, weil es mich nicht mehr lange geben wird, und das kannst du ruhig von Anfang an wissen, damit du keine falschen Vermutungen anstellst. Vermutungen sind scheiße. Sie sind wie Erwartungen. Vermutungen und Erwartungen machen jede Beziehung kaputt, also lass uns gar nicht damit anfangen, okay?
Die Wahrheit ist, dass ich die Zeit schon bald hinter mir lassen werde. Vielleicht sollte ich nicht »hinter mir lassen« sagen, denn das klingt, als hätte ich meine Ziele erreicht und es verdient, weiterzukommen. Dabei ist es so, dass ich gerade sechzehn geworden bin und noch überhaupt nichts erreicht habe. Null. Nada. Klingt das mitleiderregend? Das soll es nicht. Ich will nur genau sein. Statt »hinter mir lassen« sollte ich vielleicht sagen, dass ich aus der Zeit fallen werde. Ausfall. Auszeit. Raus aus der Existenz. Ich zähle schon die Augenblicke.
Eins …
Zwei …
Drei …
Vier …
Hey, ich hab eine Idee! Lass uns die Augenblicke gemeinsam zählen!9
4 (??) – obsessiver Fan oder Fanatiker, ein Computer-Geek, ein Nerd
5 (??) – Mobiltelefon
6 (??) – Perverser, sexuell devianter Mensch
7 Neue Frau – ein Begriff, der in Japan im frühen 20. Jahrhundert verwendet wurde, um die fortschrittlichen, gebildeten Frauen zu bezeichnen, die die Einschränkungen der traditionellen Geschlechterrollen ablehnten.
8 1912–1926. Benannt nach dem Taisho-Kaiser, auch Taisho-Demokratie genannt; eine kurzlebige Periode sozialer und politischer Liberalisierung, beendet durch die Machtübernahme des Militärs, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte.
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