Oz Panther im Keller
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25523-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-446-25523-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Amos Oz, 1939 in Jerusalem geboren, hat Philosophie und Literaturwissenschaften studiert. Er lebt als Literaturprofessor und Schriftsteller in Arad und gilt alseiner der bedeutendsten Autoren Israels. Oz, mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, erhielt 1992 in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 2014 wurde ihm die Ehrendoktorwürde des Trinity College in Dublin verliehen.
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Nach dem Frühstück machten meine Eltern sich auf den Weg zur Arbeit und eilten zur Bushaltestelle. Ich blieb zu Hause und war frei. Bis zum Abend hatte ich ein Meer von Zeit, denn wir hatten Sommerferien. Als erstes räumte ich den Tisch ab und alles, was in den Eisschrank gehörte, in den Eisschrank, was in die Schränke kam, in die Schränke, und was gespült werden mußte, in den Spülstein, denn ich genoß es, den Tag über aller Verpflichtungen entledigt zu sein. Das Geschirr wusch ich ab und stellte es verkehrt herum in den Ablauf. Dann ging ich von Zimmer zu Zimmer und schloß Läden und Fenster, um mir bis zum Abend eine Höhle zu schaffen. Sonne und Wüstenstaub konnten Vaters Büchern, die die Wände bedeckten und unter denen sich seltene Exemplare befanden, schaden. Ich las die Morgenzeitung und ließ sie sorgfältig gefaltet auf der Ecke des Küchentischs liegen, Mutters Brosche legte ich zurück in ihre Schublade. All dies verrichtete ich nicht wie ein Verräter, der für seine Niedertracht Buße tat, sondern aus Liebe zur Ordnung. Bis heute habe ich die Gewohnheit, jeden Morgen und jeden Abend eine Runde durch das Haus zu machen und jeden Gegenstand an seinen Platz zu legen. Vor fünf Minuten habe ich hier etwas über das Schließen von Läden geschrieben, worauf ich meine Arbeit unterbrach, da es mir in den Sinn kam, aufzustehen und die Badezimmertür zuzumachen, die wohl lieber offen geblieben wäre: So jedenfalls klang ihr Jammern, als ich sie schloß.
Jenen ganzen Sommer über gingen Vater und Mutter um acht Uhr früh aus dem Haus und kamen um sechs Uhr abends zurück. Im Eisschrank wartete ein Mittagessen auf mich, und die Tage waren frei bis zum Horizont. Man hätte zum Beispiel mit einer Handvoll Soldaten, fünf oder zehn, auf der Strohmatte ein Spielchen beginnen oder mit Pionieren, Landvermessern, Erbauern von Straßen, Errichtern von Schützengräben in aller Ruhe die Naturgewalten bezwingen und ein paar Feinde besiegen, sich dann zum Herrscher über die Weiten des Landes machen, Städte und Dörfer hochziehen und Straßen zwischen ihnen planieren können.
Vater arbeitete als Korrektor und ging ein wenig dem Lektor eines kleinen Verlags zur Hand. Nachts pflegte er, umgeben von den Schatten seiner Bücherregale – den Körper in der Dunkelheit versunken und nur das graue Haupt im?Lichtkegel der Schreibtischlampe, mit geneigten Schultern, als schleppe er sich müde durch die Schlucht zwischen den sich auf seinem Pult türmenden Bücherbergen –, bis zwei oder drei Uhr morgens dazusitzen und Karteikärtchen oder Merkzettel mit Notizen zu beschriften, als Vorbereitung für sein großes Werk über die Geschichte der Juden in Polen. Er war ein prinzipientreuer, konzentrierter Mensch, der sich hingebungsvoll der Idee der Gerechtigkeit verschrieben hatte.
Mutter hingegen liebte es bisweilen, ihr halbleeres Teeglas vor die Augen zu heben und hindurch in das blaue Licht im Fenster zu schauen. Manchmal brachte sie das Glas an ihre Wange, als schöpfe sie aus dieser Berührung Wärme. Sie war Lehrerin und Betreuerin in einem Heim für neueingewanderte Waisen, denen es gelungen war, sich in Klöstern oder abgeschiedenen Dörfern vor den Nazis versteckt zu halten, und die, nach Mutters Worten, »geradewegs aus dem finsteren Tal der Todesschatten« zu uns gekommen waren. Worauf sie sich umgehend verbesserte: »Die von Orten kommen, in denen der Mensch des Menschen Wolf ist. Sogar der Flüchtende des Flüchtenden, selbst das Kind des Kindes Wolf.« Ich fügte in meinen Gedanken die abgeschiedenen Dörfer mit den Horrorgestalten von Wolfsmenschen und der Finsternis des Tals der Todesschatten zusammen. Ich mochte die Worte finster und Tal; unverzüglich hatte ich ein in Dunkelheit gehülltes Tal vor Augen, voller Klöster und Kellergewölbe. Und der Begriff Todesschatten zog mich an, weil ich ihn nicht verstand. Wenn ich ihn flüsternd wiederholte: Todesschatten, konnte ich beinah einen tiefen, dumpfen Laut vernehmen, ähnlich dem Klang, der von der letzten Taste, der dunkelsten, des Klaviers ausgeht. Dem Laut, der eine Schleife dunkler Echos nach sich zieht: als sei ein Unglück geschehen, das nicht wiedergutzumachen war.
Ich ging zurück in die Küche. In der Zeitung stand, daß wir in einer schicksalhaften Zeit lebten und darum unsere letzten Kräfte mobilmachen müßten. Und noch etwas stand dort geschrieben: daß die Schandtaten der britischen Regierung schwere Schatten würfen und das hebräische Volk aufgerufen sei, sich der ihm auferlegten Prüfung zu stellen.
Ich ging aus dem Haus, sah mich nach allen Seiten um und versuchte, wie im Untergrund üblich, zu prüfen, ob mich jemand beschattete: ein Fremder mit Sonnenbrille, hinter einer Zeitung versteckt, verborgen im Schatten des Hauseingangs zu einem der umliegenden Gebäude. Die Straße schien mir jedoch in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft: Der Gemüsehändler war dabei, aus leeren Kisten eine Mauer zu errichten. Der Laufbursche vom Laden der Brüder Sinopski zog einen knarrenden Handwagen hinter sich her. Die einsame Alte Fanni Ostrowska fegte beharrlich das Fleckchen Gehweg vor ihrer Haustür, wohl schon zum dritten Mal an diesem Morgen. Frau Doktor Gripius, die ledige Ärztin, saß auf ihrem Balkon und füllte Karteikarten aus, Vater hatte sie ermutigt, Material zu sammeln und den Versuch zu unternehmen, Erinnerungen an das jüdische Leben in ihrer Heimatstadt Rosenheim festzuhalten. Der Ölhändler kam langsam mit seiner Droschke vorbei, die Zügel schläfrig auf den Knien, und bimmelte mit einer Handglocke, während er seinem Pferd eine Art jiddischen Sehnsuchtsgesang vortrug. Und ich stand da und studierte abermals, aufs gründlichste, die schwarze Aufschrift »Profus ist ein gemeiner Verräter«. Vielleicht gab es irgendein winziges Detail, das die Sache in neuem Licht erscheinen ließe. Vor Hast oder Angst war der letzte Buchstabe des Wortes boged, Verräter, beinah zu einem r geraten, so daß man in mir keinen gemeinen Verräter, boged, sondern einen gemeinen Erwachsenen, boger, sehen konnte. An jenem Morgen hätte ich alles, was ich besaß, darum gegeben, ein Erwachsener zu sein.
Folglich war es Chita Resnik wie in »Bileams Geschichte« ergangen.
Serubbabel Gichon, unser Lehrer in Bibelkunde und Judentum, hatte uns im Unterricht erklärt: »Bileams Geschichte ist die: Er hatte die Absicht, einen Fluch zu sprechen, der ihm zu einem Segen geraten ist. Wie der britische, feindlich gesinnte Minister Ernest Bevin, der im Londoner Parlament geäußert hat, die Juden seien ein verbissenes Volk. Dem ist auch Bileams Geschichte passiert.«
Herr Gichon hatte die Angewohnheit, seinen Unterricht mit Scherzen zu würzen, über die niemand lachen konnte. Oft mußte, wenn er zur allgemeinen Belustigung beitragen wollte, seine Frau herhalten. So auch, als er uns den Satz aus dem Buch der Könige erklären wollte: »›Mein Vater hat euch mit Peitschen gezüchtigt, ich will euch mit Skorpionen züchtigen.‹ Peitschen und Skorpione. Skorpione sind hundertmal schlimmer. Ich quäle euch mit Peitschen und werde von meiner Gnädigsten mit Skorpionen gezüchtigt.« Oder: »Nehmen wir den Satz, ›denn wie das Krachen der Dornen unter den Töpfen, so ist das Lachen der Toren‹. Der Prediger Salomo 7. Man stelle sich Frau Gichon vor, wenn sie ein Lied anstimmt.«
Einmal sagte ich beim Abendessen: »Es vergeht kaum ein Tag, an dem Gichon seine Frau nicht vor der Klasse betrügt.«
Vater sah Mutter an und sagte: »Dein Sohn ist zweifellos nicht ganz bei Trost.« (Vater liebte die Formulierung zweifellos und auch die Worte buchstäblich, wahrhaftig und durchaus.)
Mutter sagte: »Warum versuchst du nicht herauszubekommen, was er uns sagen will, statt ihn zu beleidigen? Nie hörst du ihm richtig zu. Auch mir nicht oder sonst jemandem. Höchstens den Nachrichten im Radio.«
»Alles«, sagte Vater langsam und bedächtig, da es seiner grundsätzlichen Art entsprach, sich nicht in einen Streit verwickeln zu lassen, »alles auf der Welt hat mindestens zwei Seiten, wie jedermann weiß, abgesehen von irgendwelchen fiebrigen Gemütern.«
Ich wußte nicht, was fiebrige Gemüter waren, aber ich verstand, daß dies wohl kaum der rechte Augenblick war, nachzufragen. Also ließ ich die beiden sich nahezu einen ganzen Moment lang anschweigen, sie brachten bisweilen ein Schweigen zuwege, das gewisse Ähnlichkeiten mit Ellenbogendrücken aufwies.
Erst dann sagte ich: »Außer einem Schatten.«
Vater, die Brille auf der Nasenspitze und von oben nach unten mit dem Kopf nickend, warf mir einen schrägen, argwöhnischen Blick zu, einen von denen, die sagen wollten, was wir bereits im Bibelunterricht durchgenommen hatten, nämlich daß er gehofft hatte, sein Weinberg brächte gute Trauben, es aber schlechte gewesen seien. Und über die Brillenränder hinweg blickten mich seine blauen Augen an, bloßgelegt, von mir und der ganzen Jugend enttäuscht und auch vom Erziehungswesen, dem er einen Schmetterling anvertraut und das ihm eine Motte zurückgegeben hatte.
»Was redest du da? Wo siehst du einen Schatten?«
Mutter sagte: »Statt ihn zum Schweigen zu bringen, solltest du lieber versuchen herauszufinden, was er sagen will. Schließlich will er uns etwas mitteilen.«
Und Vater: »Na schön. Durchaus. Nun, worüber hat der Verehrteste heute abend bitte schön die Güte, eine Meinung zu haben? Über welchen mysteriösen Schatten wünscht er sich diesmal auszulassen? Über die Schatten der Berge, die für Berge gehalten werden? Oder über den Schatten, nach dem der Knecht sich sehnt?«
Ich stand auf, um zu Bett zu gehen. Er hatte keine Erklärung aus meinem Munde verdient. Gleichwohl ließ ich Gnade vor Recht ergehen und sagte:
»Außer Schatten,...