E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: zur Einführung
Ott Gilles Deleuze zur Einführung
unverändert
ISBN: 978-3-96060-056-5
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-056-5
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michaela Ott ist Professorin für ästhetische Theorien an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
»Werden« als Programm
Wie anfangen, fragt Deleuze, wo es keine Anfänge gibt? Wie dem entkommen, dass jeder Anfang bereits Wiederholung, Sprechen von je schon Geäußertem, Abbilden von zuhandenen Bildern ist? Und wie sprechen, fragen wir, über einen, der das Sprechen »über« für untauglich erklärt, sofern man denn Neues entdecken wolle, und daher vom Denker verlangt, sich in die Logik des anderen einzufädeln, dorthin, wo der optische Überblick verloren geht, dafür alles anrührt, zustößt, betrifft? Wie sprechen über einen, der die Forderung erhebt, »Sohn seiner Ereignisse und nicht seiner Werke [zu] werden« (LS, 187)? Und wie diesen Abkömmling seiner Ereignisse profilieren in einer Buchform, die, wenn nicht den Herrn seiner Werke, so doch in seinen Werken skizziert sehen will?
Dieser geschickt in einen Infinitiv sich bergende Imperativ, »Sohn seiner Ereignisse werden«, verrät zunächst Deleuzes denkerische Zuwendung zu Zufällen und Widerfahrnissen, zu all jenem, was dem Einzelnen begegnet, ihm zustößt und Gewalt antut. Diese Gewalt erfährt eine denkerische Vorzugsbehandlung gegenüber all jenem, was im eigenen Namen, als nach Willen und Plan verfertigtes Werk entsteht. Vor allem aber verrät dieser Infinitiv, dass Deleuze dem Denken des »Werdens«, der Zeit, zu huldigen wünscht, und das bis in die sprachliche Verlaufsform hinein. In gewisser Umkehrung Heideggers gemahnt er daran, das Sein seiner Werdensvergessenheit zu entreißen, ja das Werden im Ereignen vernehmbar zu machen und die Zeit aus ihrer verordneten Linearität zu befreien. Wie nun ihn, der seine Begegnungen mit anderen Denkern als Ereignisse verstanden wissen wollte, insofern sie ihn als sich selbst Unbekannten wieder finden ließen, wie nun ihn nach Maßgabe seiner Schriftbewegungen konturieren und dabei einpassen in eine Überblicksdarstellung, die entsprechend ihrer Zielsetzung Disparitäten, Paradoxien, Zeittransformationen eher unterschlägt als akzentuiert?
Im Sinne des Freidenkens von Zeit und Ereignis entwickelt Deleuze – in Nähe zu Foucault – eine archäologische Methode, die er als »Geophilosophie« praktiziert und die darauf abzielt, die Philosophiegeschichte als Sedimentierung von Gedanken zu begreifen, die es erneut aufzudecken und deren Zeitspur, ihr unvordenkliches Gewordensein nicht weniger als ihr fortgesetztes Werden, es freizulegen gilt. Zeitlichkeit soll dabei nicht als Form der Anschauung oder als lineare Chronologie verstanden werden, sondern als mit den Dingen verwachsener, vielfältiger und unendlicher (Un)Grund, von dem her alles, was sich ereignet, eine »Quasi-Ursache« erhält. Dass dieser Zeitgrund notgedrungen als entgründender, sich verschiebender und letztlich grundloser zu verstehen ist und die Ontologie des Seins in eine des Werdens und des Sinns überführt, wird im Durchgang durch Deleuzes Schriften zu explizieren sein.
Sein Denken erscheint mithin nicht nur von dem Impuls getrieben, mit Heidegger das Sein als sich zeitigendes zu entfalten, sondern der Zeitigung selbst zeitliche und logische Priorität zuzuerkennen. Vor dem Werden ist logischerweise nichts. Entgegen einer langen philosophischen Tradition lässt Deleuze das Sein nicht als das Erste und Gründende gelten und weist die Möglichkeit der Bestimmung eines Ursprungs insgesamt zurück. Angefangen wird mittendrin, zwischen als unpersönlich und präsubjektiv gedachten Spuren und Artikulationen, zwischen afigurativen Bildelementen und deren metamorphotischer Wiederkehr, die sich in komplexen Zeitsynthesen zu Subjekten, Organismen, Aussagen und Bildern konfigurieren. Denken meint seinerseits Wiederholung von vorgängigen unbewussten Synthesen der Erinnerung und Gewohnheit, von Rhythmen, Tempi und Affekten, meint, abhängig von der Modifikation der Wiederholung, aber auch Anders-Werden, Differenzierung, Neugeburt.
Insofern vollzieht sich auch das hiesige Sprechen als Wiederholung, Verschiebung und Durchdringung deleuzescher Aussagen nach Maßgabe von Affekt und Zeit. Zu vermeiden ist nicht die Wiederholung an sich, da sie Bedingung der Möglichkeit von Denken, Sprechen, Leben überhaupt ist. Zu vermeiden wäre die mechanische Wiederholung, die trotz des zeitlichen Abstands ein Identisch-Werden anstrebt und nicht das Andere im Wiederkehrenden begrüßt. Geschieht Deleuzes Bejahung der Wiederholung doch in dem Wunsch, sie zu vertiefen und als differente wiederkehren zu lassen, in ihr subjektvorgängige, unpersönliche Größen zu entdecken – deren Prototyp die Unendlichkeit, mit Bergson die »Dauer« ist –, um deren Aktualisierung als unzeitgemäße, singuläre, ereignishafte hervorzukehren. Seine unterschiedlichen Studien profilieren denn auch Singularisierungen des zeitlichen Verlaufs, Momente, in welchen er sich verdichtet, vertikalisiert, Tableaus errichtet und Intensitätsfelder erzeugt. Bedenkenswert erscheinen sie ihm, da sie sich nicht der Chronologie unterwerfen, sondern herausragende, gegenläufige, die Vielfalt des Unendlichen einfaltende Zeitkomplexionen sind. Deleuzes Relektüren von Werken der Philosophie- und Literaturgeschichte, von Malerei und Film dienen der Offenlegung ihres besonderen Wiederholungscharakters, ihrer Steigerung der »Vermögen« zur Differenz und »Essenz«. Jede der von ihm verfassten Monographien widmet sich einer außergewöhnlichen Zeit- und Denkkonfiguration, sucht diese in ihrer Dynamik und Eigengesetzlichkeit zu ergründen, in ihren eigenen Begriffen zu verlängern, aber auch zu öffnen und einzubetten in ein größeres Zeichen- und Zeitigungsfeld. Jeder Körper, so Deleuzes Diktum in Anlehnung an Spinoza, ist die Summe der Kräfte, denen er Zugriff erlaubt. Von daher sind die ihm zukommenden Kräfte ausfindig zu machen und in der Relektüre weiter zu multiplizieren, ist die jeweilige Denkkonfiguration größer, einzigartiger, schillernder erscheinen zu lassen und dabei sichtbar zu machen, was sie an unpersönlichen Faktoren enthält. Indem Deleuze die Werke einer gleichsam mikroskopischen Analyse aussetzt und einem taktilen Auge zugänglich macht, legt er ihren molekularen Bauplan und ihr inneres »Wimmeln« offen und überführt sie in eine »diagrammatische«, abstrakte Figur, die nach vielen Seiten hin verlängerbar erscheint.
Anders als Hegel, der seinem philosophischen System ebenfalls den Gedanken zeitlicher Entfaltung einlegt, versteht Deleuze diese nicht teleologisch als Selbstvervollkommnung des Geistes. Innerhalb seines Programms eines »generalisierten Anti-Hegelianismus« akzentuiert er vielmehr die vielfältige Unendlichkeit der Zeit, die alle singulären Artikulationen zu »zukunftsvergangenen« Differenzierungsprozessen und zu Erscheinungen von Unzeitgemäßem werden lässt. Die Zeit, unendlicher Verlauf und minimalste Augenblickshaftigkeit zugleich, wird als distanzschaffender Verräumlichungsfaktor und »heterogenetische« Kraft entwickelt, die unvermittelte, disparate und sogar voreinander fliehende Bruchstücke aus sich entlässt, wie Deleuze insbesondere in seiner Proust- und Kafka-Lektüre, aber auch in seinen Filmanalysen betont.
Die »Begriffsperson« Deleuze selbst zeichnet sich so nach und nach ab als Summe der Kräfte, denen sie Raum und Stimme verleiht, als Summe der Denker, die sie in ihren »Denkplan« integriert, um sich in ihnen zu entfremden und sich selbst unkenntlich zu werden. Seine Lektüren zielen weder auf Repräsentation des Eigenen im anderen noch auf dessen Aufhebung in einer geistesgeschichtlichen Rekonstruktion, sondern auf Profilierung von gedanklichen Extrempositionen aus deren eigener Logik heraus und auf deren Einfügung in ein »Immanenzfeld«, welches das Denken aus der Bewegung des anderen, ohne vorgefasste Begriffe und kategoriale Hierarchien, akzentuieren will. Den singulären Denkspitzen wird keine Abschließung zugestanden, vielmehr werden ihre Begriffe und Affekte untergründig verbunden, auf dass ein »rhizomatisches« Netz von Querverstrebungen und affektiven Wechselwirkungen entstehe. Diesen Denkspitzen wird mit Deleuzes singulären Studien je einzeln nachzugehen sein.
Seine Ausbreitung eines Denkfeldes, in dem Bruchstückhaftes und Disparates eingelagert ist und gleichzeitig unterirdische Korrespondenzen wirken, lässt sich notgedrungen nur annäherungsweise skizzieren. Zielt eine Einführung doch auf Verständlichmachung, auf Abrundung von Zumutungsspitzen, letztlich auf eine didaktische Form der Darbietung ab. Hielte man sich an Deleuzes eigene Anweisungen, so müsste man weniger erklären und intensiver wiederholen, das Befremdliche ins noch Befremdlichere rücken, die eigene Affektion beiläufig in die Wendungen des anderen kleiden, nicht vom Ereignis sprechen, dafür seine Entfaltung befördern und Deleuzes Denkbewegungen vorantreiben in neue, »nicht-gekerbte« Räume hinein, Sohn des Deleuze-Ereignisses werden in einem unscheinbaren, minoritären Stil. Deleuze treu bleiben hieße in diesem Sinn, jene von ihm geforderte masochistische Haltung zu praktizieren, in der die Aussagen durchdekliniert...




