Oswald | Lichtenbergs Fall | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Piper Edition

Oswald Lichtenbergs Fall

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-98664-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Piper Edition

ISBN: 978-3-492-98664-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der gesellschaftliche und ökonomische Abstieg des Juristen Carl Lichtenberg, der alles verliert und nach einem Mord verurteilt wird - eine fulminante Charakterstudie vom preisgekrönten Autor Georg Oswald Seinen Lebensweg plant er zielstrebig und schon früh hat Lichtenberg begriffen, wie man sich materiell und gesellschaftlich Vorteile verschafft. Zunächst geht auch alles glatt: Er absolviert ein juristisches Studium, heiratet die Tochter einer reichen Witwe, ist im Beruf erfolgreich. Sein gesellschaftliches Ansehen bekommt Risse, als er beginnt, gegen Konventionen zu verstoßen. Als ihn ein geplatztes Börsentermingeschäft dann auch noch in finanzielle Not bringt, ist sein Abstieg unaufhaltsam. Was liegt in dieser Situation näher, als die reiche Schwiegermutter zu ermorden?

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet als Schriftsteller und Jurist in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.
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I.


Befragt, ob er der Mörder seiner Schwiegermutter sei, rückte sich Lichtenberg zurecht, als sei die Rede auf eine interessante Hypothese gekommen, zu der er sich bisher nicht geäußert habe, dies aber nunmehr um so lieber tue, und er sagte, nichts habe er sich sehnlicher gewünscht, als endlich diese Frage gestellt zu bekommen, und nichts stünde ihm ferner, als sie in der erwarteten Weise zu beantworten.

Als er verhaftet worden sei, sei er aus allem – seiner gesellschaftlichen Stellung, seinem Beruf, seiner Familie, seinem gesamten geregelten Leben – herausgefallen in die Gesetzlosigkeit und letztlich in diese Verhörzelle, die noch nicht einmal die Luft zum Atmen böte, hinein, weswegen er jetzt ohne jede falsche Rücksichtnahme reden könne.

Die Verhörzelle war ein fensterloser Raum von vier mal vier mal vier Metern, in dessen Mitte sich ein quadratischer Tisch und zwei Stühle befanden, auf denen Lichtenberg und der Vernehmende Platz nahmen. Aus Sicherheitsgründen waren Stuhl- und Tischbeine fest in den Betonboden eingelassen und standen somit unverrückbar.

Im Ernst, sagte Lichtenberg, es stünde ihm nicht im Geringsten der Sinn nach Versteckspielchen, er sei ruiniert, gesellschaftlich vernichtet und habe allein durch die Verhaftung lebenslangen Schaden genommen, weswegen er seiner Vernehmung mit großer Gelassenheit entgegensehe, wie er sich ausdrückte, weil ihm bereits alles genommen wäre, was ihm zu nehmen gewesen sei, seine Frau, seine Kinder, seine Stellung, sein Besitz und – er lachte – sogar seine Freundin.

Auf Nachfrage, wer seine Freundin sei und ob er ihren Namen bereits zu den Akten gegeben habe, antwortete er nein, nein, das sei nur ein Scherz gewesen, eine Anspielung auf seine angebliche Affäre mit Olga Orlow, der Schwester seiner Ehefrau Lisa, die ihm im Laufe des Verfahrens sicher noch vorgehalten werde, obwohl es eine solche Affäre, das wäre er bereit zu beeiden, niemals gegeben habe.

Der Vernehmende erläuterte, Ehebruch werde nicht strafrechtlich verfolgt. Lichtenberg lachte wieder und schüttelte den Kopf.

Er, der Vernehmende, müsse sich das vorstellen, sagte Lichtenberg, wenngleich er, der Vernehmende, sich das wohl gar nicht vorstellen könne, denn es sei aus dem engen Netz der bürgerlichen Wohlanständigkeit, in dem sich der Vernehmende wahrscheinlich ebenso befinde, wie er, Lichtenberg, sich bis zu seiner Verhaftung darin befunden habe, schlichtweg unvorstellbar, in welch grauenhafte Hölle der Verhaftete, gewissermaßen auf dem Dienstweg, da hineingezerrt werde.

Der Vernehmende erläuterte kurz die gesetzlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft und dass sie im Falle Lichtenbergs vorlägen.

»Meine Frau«, sagte Lichtenberg, und seine zu Beginn so feste und klare Stimme weichte ein wenig auf, »meine Frau glaubt doch nicht, was Sie erzählen – dass ich ihre Mutter getötet habe, oder?«

Der Vernehmende erläuterte, er dürfe über Zeugen und deren Aussagen zum Tatvorwurf keine Auskünfte erteilen.

Lichtenberg sagte, er sei in der letzten Zeit, in der sich die Dinge – vor allem geschäftlich – wirklich zusehends komplizierter gestaltet hätten, so sehr auf ein intaktes Familienleben bedacht gewesen wie zugegebenermaßen niemals zuvor.

Natürlich sei ein intaktes Familienleben eine reine Illusion, eine Erfindung, nichts, was es verdiene, ernstgenommen zu werden. Dennoch habe er für Lisa und die Kinder endlich diese immens teure Wohnung in Nymphenburg gekauft, was wirtschaftlich totaler Unsinn gewesen sei, aber er habe es wegen der Kinder getan, wegen der Familie. Er habe sicher zu wenig Zeit mit seinen Kindern Marc und Claudia verbracht, mit zwanzig sei er zum ersten Mal Vater geworden, mit zweiundzwanzig zum zweiten Mal, das sei sehr jung gewesen, besonders in der heutigen Zeit, und er habe sich deshalb umso mehr und intensiver mit seiner Karriere befassen müssen, daraus dürfe ihm heute kein Strick gedreht werden.

Er meine, es mute doch geradezu grotesk an, was ihm da buchstäblich für eine Räuberpistole, so drückte er sich aus, angehängt werde, wie solle er denn am frühen Abend in der äußerst belebten Residenzstraße, zwischen Hauptpostamt und Franziskaner, unerkannt und zunächst sogar unbemerkt seine Schwiegermutter erschossen haben.

Wie, bitte schön, sei es möglich, dort, auf dem breiten, dicht mit Fußgängern bevölkerten Boulevard, eine Pistole zu ziehen und einen mehrere Meter weit weg stehenden Menschen zu erschießen, ohne dabei entdeckt und erkannt zu werden? Habe der Täter etwa einen Schalldämpfer benutzt? Ihm, Lichtenberg, sei das alles nicht bekannt und nicht erklärlich, und dass er in der Residenzstraße nicht als Mörder seiner Schwiegermutter sofort auf frischer Tat ertappt worden sei, beweise allein schon ausreichend, dass er es nicht gewesen sein könne.

Der Vernehmende wies darauf hin, dass auch ein anderer Tatverdächtiger vor Ort nicht gefasst worden sei.

»Ausgezeichnet«, empörte sich Lichtenberg, »wenn ihr keinen anderen gefunden habt, dann bleibe ja nur noch ich übrig!«

Woher solle er denn, fragte Lichtenberg, überhaupt gewusst haben, dass sich seine Schwiegermutter zur Tatzeit in der Residenzstraße aufhalte?

Der Vernehmende erläuterte, um siebzehn Uhr vierzig sei im Hause Orlow in München-Solln angerufen worden und es sei mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, der Anrufer sei Lichtenberg gewesen, was sich aus Folgendem ergebe: Die Hausangestellte Suttner, welche mit Lichtenberg persönlich bekannt sei, habe den Telefonhörer abgenommen und mit dem vorgeblichen Leiter des Hauptpostamtes in der Residenzstraße gesprochen, der sie gebeten habe, Frau Orlow ans Telefon zu holen.

Frau Suttner sei dieser Aufforderung gefolgt und habe Frau Orlow von dem Anruf unterrichtet, mit dem allerdings gewichtigen Zusatz, sie meine in der Stimme des vorgeblichen Leiters des Hauptpostamtes diejenige von Frau Orlows Schwiegersohn Carl Lichtenberg erkannt zu haben. Frau Orlow, so Frau Suttner, habe diesen Hinweis jedoch mit einer abwehrenden Handbewegung in den Wind geschlagen, weil sie, Frau Orlow, sie, Frau Suttner, für neugierig und intrigant gehalten habe, aus Gründen, deren Erörterung im anhängigen Verfahren nicht gegenständlich sei.

Von dem vorgeblichen Leiter des Hauptpostamtes habe Frau Orlow, so Frau Suttner, die Nachricht bekommen, der von ihr in Auftrag gegebene Nachforschungsauftrag betreffend ein bestimmtes Telegramm sei bearbeitet und dessen anonymer Absender gefunden. Bestimmte Umstände machten es für sie erforderlich, ohne Aufschub in das Hauptpostamt in der Residenzstraße zu kommen.

Frau Orlow, so Frau Suttner, habe zunächst abgelehnt, das Haus noch zu verlassen, weil ihr die Sache höchst merkwürdig vorgekommen sei, doch der Postbeamte sei offenbar so sehr in sie gedrungen, dass ihr die Angelegenheit schließlich doch äußerst eilig erschienen sei, denn sie habe sich sofort nach Beendigung des Telefonats auf den Weg zum Hauptpostamt in der Residenzstraße gemacht.

»Dort«, erläuterte der Vernehmende, »ist, wie Sie wissen, Ihre Schwiegermutter von einem Schuss, der ihren linken Lungenflügel und beide Herzkammern durchschlug, getötet worden. Es ergibt sich die Annahme, Sie hätten Ihre Schwiegermutter durch den Anruf, bei dem Sie sich glaubhaft als Leiter des Hauptpostamtes ausgegeben haben, zum Tatort bestellt, um sie dort zu erwarten und zu erschießen.«

Lichtenberg warf sich auf die schmale, hölzerne Lehne seines Stuhls zurück, dass er krachte.

»Mein lieber Freund«, sagte er, »mein lieber Freund«, und schüttelte fassungslos den Kopf.

Er, Lichtenberg, so sagte er, sei gewiss nicht bekannt dafür, ein besonders ausgeglichener, ruhiger und gelassener Mann zu sein. Alles, was er in seinem Leben, das noch nicht lange dauere, gemessen an den Erfolgen, die er währenddessen bereits habe erringen können, erreicht habe, werde von Beobachtern wie auch von ihm selbst zutreffend seiner enormen Willenskraft zugeschrieben, die ihn, sei sie einmal erwacht, zu jedem Ziel führe, auf das er sie lenke. Er wolle nicht behaupten, er habe ein entspanntes oder gar gelöstes, in anderen Worten: ein einfaches, unkompliziertes Verhältnis zu seiner Schwiegermutter gehabt. Das Verhältnis zur Schwiegermutter, so Lichtenberg, sei nicht von ungefähr ein sprichwörtlich schlechtes, aus diesem Umstand könne ihm aber doch nicht im Ernst ein Mordmotiv gedrechselt werden, das allenfalls Westentaschenpsychologen zufriedenstellen würde.

Er garantiere es allen, die es wissen wollten, wenn er seine Schwiegermutter hätte umbringen wollen, hätte er es so angestellt, dass er nicht schon drei Stunden nach deren Tod in Untersuchungshaft genommen worden wäre.

Was hätte er auch für einen Grund gehabt, sie zu töten? Sei er ihr nicht immer in allen Punkten überlegen gewesen? Habe er sich nicht stets in allem, was er verfolgt habe, ihr gegenüber durchgesetzt? Warum also hätte er sie töten sollen?

Es sei wahr und bekannt, dass die Familie Orlow und also seine Schwiegermutter, die diese Familie ja stets allein repräsentiert habe, nachdem ihr Mann, lange schon bevor er, Lichtenberg, sie, die Familie Orlow, kennengelernt habe, gestorben sei, dass also die Familie Orlow eine der reichsten Familien Münchens und damit des gesamten Landes sei.

Somit wäre, so Lichtenberg, aus diesem Grund natürlich auch sofort das Geldmotiv auf dem Tapet, welches ihm sicher noch schlimm zu schaffen machen werde, nachdem er zuletzt in eine ganz unglückliche und ungeheuerliche finanzielle Schieflage geraten sei.

In unserer Gesellschaft, so Lichtenberg, sei nur derjenige etwas wert, der Geld habe. Er meine das nicht etwa im Sinne einer sozialkritischen Anmerkung, sondern wolle dies als schlicht zutreffende Feststellung verstanden...



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