Oswald | Das Loch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Reihe: Piper Edition

Oswald Das Loch

Neun Erzählungen aus der Nachbarschaft
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-98662-5
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Neun Erzählungen aus der Nachbarschaft

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Reihe: Piper Edition

ISBN: 978-3-492-98662-5
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Neun Erzählungen um die Einsamkeit mitten unter uns - von Bestsellerautor Georg Oswald Nachkriegserlebnisse, eine Weihnachtsbescherung, ein gerade verstorbener Hausmeister, der Diebstahl einer Grabvase samt Inhalt, die schwesterliche Ernte von Stachelbeeren im ererbten elterlichen Hause, eine Taufe, eine Künstlerliebe, ein Ausländerabschiebeverfahren und schließlich »Tante Gertis letzter Satz« halten dem Leser den Spiegel vor und klingen noch lange nach.

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet als Schriftsteller und Jurist in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.
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Requiem für einen Hausmeister


In einem kleinen, alten Mietshaus am Kreuzhof, neben der Autobahn, in einem Zehnquadratmeter-Mansardenzimmer auf dem ausgebauten Dachboden, in dem man an den wenigsten Stellen gerade stehen, vom Fenster aus aber den Autos, die in gleicher Höhe direkt daran vorbei die Autobahnbrücke hinauffahren, zusehen kann, hause ich, ausgestattet mit einem Tisch, einem Bett und einer Kochplatte, seit sechs Jahren um den Preis einer wucherisch hohen Miete und habe in diesen sechs Jahren niemals einen der anderen Hausbewohner kennengelernt, ausgenommen den Hausmeister Brennberger.

Auf dem ausgebauten Dachboden befinden sich neben meinem noch fünf andere Mansardenzimmer etwa gleicher Größe, die von studentischen oder sonst unsicheren Existenzen bewohnt werden. Auf den darunterliegenden drei Stockwerken befinden sich jeweils zwei Wohnungen, insgesamt also sechs, die, mit zwei Ausnahmen, von in Rente befindlichen Ehepaaren beziehungsweise Witwen bewohnt werden.

Eine Wohnung im dritten Stock wird ausnahmsweise von einer Familie mit zwei schulpflichtigen Kindern in Anspruch genommen, die sich aber wegen ihrer ganz besonderen Verstocktheit, die schon durch das hartnäckige Unterlassen des Grüßens im Falle der Begegnung offenbar wird und die allen Familienmitgliedern gemein ist, ohne Weiteres in die sonstige Bewohnerschaft des Hauses einfügt. Die zweite Ausnahme bildet die Hausmeisterwohnung im Parterre.

Den gesamten heutigen Tag habe ich, solange er andauert, in meinem Bett liegend verbracht, denn obwohl körperlich unbeeinträchtigt, erschien mir sofort nach dem morgendlichen Erwachen der heutige Tag aus mir unbekannten Gründen absolut nichtswürdig, und ich beschränkte mich daher darauf, all meinen Unwillen und später Hass auf die auf dem Autobahnkreuz heraufdonnernden Autos sowie den durch sie hervorgerufenen, mit jeder Stunde unerträglicher werdenden Lärm zu richten.

Das nahm den Tag bis zum Mittag in Anspruch, und ich war gerade im Begriff, meine Kräfte für das Aufstehen zu sammeln, als ich ein Martinshorn sich nähern hörte, was für sich genommen nicht ungewöhnlich ist, weil sich an dem Autobahnkreuz viele Unfälle ereignen, bei denen Menschen oftmals so schwer verletzt werden, dass der Einsatz von Martinshörnern erforderlich ist und auch vielfach erfolgt. Das nun sich nähernde Martinshorn kam jedoch ganz dicht an das Haus heran, in dessen ausgebautem Dachgeschoss ich im Bett lag, und unterließ es, sich von diesem Ort wieder zu entfernen, war für mich also erst dann nicht mehr zu hören, als es, nachdem ich bereits halb taub davon war, abgeschaltet wurde, was, wie ich kurze Zeit später erfuhr, wegen der entfallenen Dringlichkeit des Martinshorneinsatzes erfolgte. Ich wurde nun reger und durch im Hausinneren aufkommende Geräusche des Aufmerksamwerdens und der Neugier – Türenknarren, Dielenknarren, Schritteschlurfen, Sprechen – angespornt, mein Bett tatsächlich zu verlassen.

Ich stand auf und zog mich an und ging ans Fenster und sah unten vor der Haustüre einen Sanitätswagen stehen, dessen Martinshorn sicherlich den vorhergegangenen einschlägigen Lärm verursacht hatte, sowie dahinter einen silbern und schwarz lackierten Wagen.

Nach Art und Beschaffenheit der Fahrzeuge zu schließen, war von einer kurzen, schweren Erkrankung mit alsbaldiger Todesfolge bei einem der Hausbewohner auszugehen, bei welchem, war nicht leicht zu vermuten, da mit Ausnahme der jüngeren Menschen im ausgebauten Dachgeschoss und der Familie im dritten Stock ausschließlich Uralte das Haus bewohnten, wobei allerdings zuzugeben war, dass gegen das Ableben eines Jüngeren lediglich eine gewisse geringere Wahrscheinlichkeit sprach. Wollte ich genau sein, bestand einzig die Gewissheit, nicht selbst für den Abtransport als Leiche infrage zu kommen, obgleich meine vormittägliche Reglosigkeit diesbezügliche Zweifel hätte aufkommen lassen können.

Ich entschloss mich, mein Zimmer zu verlassen und im Treppenhaus ausfindig zu machen, wen es getroffen hat.

»Hausmeister Brennberger ist gestorben«, dachte ich, als ich das Treppenhaus betrat und über das Geländer hinabschaute und sah, dass sich die hauptsächliche Betriebsamkeit im Parterre vor und vermutlich in seiner Wohnung abspielte.

»Heute ist Hausmeister Brennberger gestorben«, dachte ich, »sicher nicht gestern. Ich habe ihn ja gestern noch im Treppenhaus gesehen.« Zu solcher Gelegenheit sagt man gerne, einer habe nicht ausgesehen wie einer, der anderntags sterben werde. Anderntags, heute, ist er aber gestorben.

Niemand bemerkte mich im Treppenhaus, obwohl dortselbst, soweit ich sehen konnte, bis auf die sonstigen Bewohner des ausgebauten Dachgeschosses, die übrigen Bewohner des Hauses in ihrer Gesamtheit vorhanden waren.

Das ausgebaute Dachgeschoss, welches, wie angesprochen, über dem dritten Stockwerk als das oberste liegt, ist das günstigste Beobachtungsstockwerk, weil von dort jedwedes im Treppenhaus sich vollziehende Geschehen zu überblicken ist, ohne dass man der Gefahr ausgesetzt wäre, selbst beobachtet zu werden.

Ich sah zwischen den Treppengeländern hindurch, über denen die Haarschöpfe der anderen Hausbewohner hingen, wie Herr Brennberger in einem Blechsarg aus seiner Parterre-Wohnung getragen wurde. Das heißt, wirklich gesehen habe ich nur eine Ecke des Blechsargs und den halb gebückten Rücken eines offensichtlich schwer tragenden Mannes, dessen anthrazitfarbenes Jackett sich über eben diesem Rücken, den ich sah, spannte, und gehört habe ich eine gepresste männliche Stimme, die im breitesten Dialekt dem Unwillen ihres Besitzers Ausdruck verlieh: »Geh schiab ned a so!« – Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, die Bediensteten von Beerdigungsinstituten sprächen dialektfrei schon aus Gründen der Pietät; das Gegenteil ist der Fall, denn vor dem Tod haben sie nicht mehr Respekt als vor einem Arbeitskollegen, dem man täglich begegnet.

Ich hörte eine weibliche Stimme, die sagte: »Mei, schau hin, der Herr Brennberger.« Es war die Stimme von Frau Strominger aus dem zweiten Stock, die ich ohne Mühe erkannte. Ich sah, wie sie drängend zu ihrem greisen Gatten hin sprach, der dem Geschehen wegen der altersbedingten Trübung seiner Sinne nur ungenügend folgen konnte.

Als die Männer mit dem Blechsarg das Haus verlassen hatten, sahen sich die am Abtransport der blechsargumschlossenen Hausmeisterleiche als Zuseher passiv beteiligten ordentlichen Mietparteien zu keinen wie auch immer gearteten besonderen Unternehmungen in bezug auf das hausmeisterliche Ableben veranlasst, die über die bloße Kenntnisnahme desselben hinausgegangen wären, und suchten ohne Umschweife und unter Fortlassung vernehmlicher Trauerbekundungen das Innere ihrer Behausungen auf.

Ich selbst blieb im Treppenhaus stehen, in Gedanken bei dem Verschiedenen, dessen soeben beobachtete todesveranlasste Ausquartierung, jedenfalls was Stil und Form derselben betraf, in starkem inneren Zusammenhang mit seiner zuletzt gepflegten Lebensweise, so wie sie sich dem Betrachter darstellte, stand. Der Hausmeister Brennberger war wegen bestimmter persönlicher Eigenarten, die sämtlich auf seinen vehement ausgeprägten Alkoholismus zurückgeführt wurden und gewiss auch auf diesen zurückzuführen waren, zu Lebzeiten im Haus nicht sehr hoch geschätzt, was in meinem Fall den stets gehegten Wunsch hervorrief, dem Hausmeister Brennberger im Treppenhaus nicht zu begegnen, da ihm jedwedes Treffen auf andere Personen infolge seines alkoholverursachten Distanzverlusts sogleich Anlass zur möglichst vollständigen Vereinnahmung derselben war. Häufig harrte der gehegte Wunsch jedoch vergeblich seiner Erfüllung, da es eine offenkundige Gewohnheit des Hausmeisters war, zwischen Heizungskeller, Trockenraum, sogenanntem Schwarzen Brett und seiner Wohnung umherzustreifen, gleich, ob leidlich nüchtern oder vollständig betrunken.

Seine äußere Erscheinung gab allgemein Anlass zu Bekundungen des Unverständnisses, mitunter der Empörung, sie befand sich nämlich in jenem elenden Zustand, den sie vor Jahren einmal erreicht hatte und den er unverändert zu erhalten wusste. Immer trug er zerknitterte karierte Hemden, die bis über die Brust offenstanden und den Blick freigaben auf ein feingeripptes, ehemals weißes, jetzt braunbeflecktes Unterhemd, in dem sein runzliger, ausgedörrter Oberkörper steckte. Immer trug er die gleiche dunkelgraue Stoffhose, zerbeult an Gesäß und Knien, die mit Essens- und sonstigen Genussmittelresten, nicht nur aus der jüngeren Vergangenheit, versehen war. Immer hatte er darüber hinaus eine Alkoholfahne würzig-süßlichen Geruchs, die erstens von seinem offenkundigen Lieblingsgetränk herrührte, einem Kräuterschnaps namens »3 Richter«, der sich, zweitens, in seinem Rachen mit dem Qualm unzähliger Roth-Händle-Zigaretten verquickte und so jenes gasförmige Gemisch erzeugte, welches unverwechselbar stank und den Aufenthalt in seiner Nähe schlichtweg unerträglich machte.

Oftmals war es mir gelungen, im Begegnungsfalle mit einem freundlichen Gruß und vorgetäuschter Eile an dem Hausmeister Brennberger vorbeizukommen, ohne ihm Gelegenheit gegeben zu haben, mich zu stellen. Auch wusste ich, zu welchen Zeiten er außer Haus beschäftigt war und sich deshalb um Unterhaltung auf der Treppe nicht bemühen konnte. Früh morgens und mittags musste der Hausmeister Brennberger nämlich seine Nebentätigkeit als Schülerlotse ausüben. Selbst im Zustand der fortgeschrittenen Trunkenheit nahm er es mit dem Schutz der Schüler und vor allem mit der sorgfältigen Einhaltung der Straßenverkehrsregeln durch dieselben über die Maßen genau, denn duldete er an sich selbst auch die eine oder andere Nachlässigkeit, so doch keinesfalls Gesetzesübertretungen in seiner Gegenwart. Strenge, insbesondere gegen die...



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