Ostermaier | Die Liebe geht weiter | E-Book | www2.sack.de
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E-Book, Deutsch, 188 Seiten

Ostermaier Die Liebe geht weiter

Roman mit Pasolini
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1050-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman mit Pasolini

E-Book, Deutsch, 188 Seiten

ISBN: 978-3-7518-1050-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vor fünfzig Jahren wurde Pier Paolo Pasolini im römischen Ostia brutal ermordet. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt, und man spekulierte über seinen Tod mehr als über das, was er an unvergleichbaren Filmen, Büchern, Stücken, Zeichnungen, Pamphleten und Prophezeiungen hinterließ. Für Albert Ostermaier aber stehen, seit er selbst als Dichter zu schreiben begann, Pasolini und sein Werk gleich einem Fixstern über allem. Ihnen setzt er mit seinem nun ein leidenschaftliches Denkmal, indem er an Pasolinis Beschwörung der Poesie, an die nachgelassenen 112 Sonette, Hilfeschreie eines von seinem »Lebensmensch« Ninetto Davoli Verlassenen, anknüpft. Ostermaier bezieht sich dabei auf die zweisprachige Ausgabe der Sonette, (2023 erschienen im Verlag Klaus Wagenbach), erstmals überhaupt ediert und übersetzt von Theresia Prammer. Gleich Pasolini geht Ostermaier dabei über die Grenzen – dem einen wie dem anderen ist alles Private politisch und alles Politische privat.

In seiner empathischen Anverwandlung der Sonette Pasolinis und auf den Spuren dessen rätselhafter Ermordung zieht Albert Ostermaier alle Sprachregister und erfährt so in einer schonungslosen autobiografischen Selbsterkundung über sich, was er ohne Pasolini nie erfahren hätte: Die Liebe geht weiter.

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Nimm deine Hände von mir, nimm deine Worte zurück. Fass mich nicht mehr an. Ruf mich nicht an. Schreib mir nicht mehr. Lauere mir nicht auf mit deinen Sätzen. Steh nicht vor meiner Tür. Brich nicht das Schloss vor meinem Herzen. Tritt mir nicht die Brust ein. Pack mich nicht. Zieh mich nicht an den Haaren durch dein Leben. Schrei mich nicht an. Sag mir nicht, was ich tun soll. Führ mich nicht vor, ich bin keine Trophäe. Komm mir nicht zu nah. Du bist schon zu nah. Du tust mir weh, lass das. Beiß in deine Faust. Betrink dich. Heul doch. Such dir einen Stricher. Schreib Gedichte. Schlag alles kurz und klein. Aber schlag nicht mich, nicht noch ein einziges Mal. Sonst schlag ich zurück. Und ich schlage nicht mit meinen Fäusten. Ich habe Fäuste, die für mich schlagen. Vielleicht ist auch mein Herz eine Faust. Die Faust in deinem Gesicht. Du hast mich überfahren. Jetzt überfahre ich dich.

Ostia im Regen. Natürlich muss es regnen, wenn ich komme. Nur Sonnentage zuvor, nur Sonnentage danach. Ein Winter, der sich wie ein Sommer anfühlen könnte. Vielleicht sogar mit diesem unwirklichen Blau in den Wellen, als würde der Himmel in ihnen baden und sich in ihrem Schaum überschlagen. Aber ich habe auf das Grau gehofft, die Unwirtlichkeit, die Unwirklichkeit, die die Zeit ausradiert, ein Grau für die erbarmungslose Gleichzeitigkeit der fehlenden Hoffnung in den Schatten der Mietskasernen. Das Aufblitzen der Sinnlichkeit, der Sommerwind auf der Haut, die Disteln im Rücken, die schnellen Nummern im Auto, während das Meer mit seinen Wellen stöhnt, sie gegen die Küste wirft. Der Ölfilm auf dem Wasser, die ewigen Möwen mit dem Klagen der Götter in ihrem Schreien.

Ostia im Regen ist wie ein Tarkowski-Film ohne Mystik: Brachflächen, Autowerkstätten, vergessene Parkplätze, schmutzige Strände mit wütend erschöpften Wellenkämmen. Wo er erschlagen wurde, wächst jetzt Gras drüber, ein Park. Es fühlt sich alles falsch an, als dürftest du nichts nachempfinden, keine Spuren, nicht der Gewalt, nicht des Todes, nicht des Lebens. Wucherndes Grün, ungepflegt, mit einem versteckten Trampelpfad, zu uneinsehbaren Ecken, wo sich vielleicht Männer lieben als Hommage an Pasolini, überall die falsch verstandene Liebe, der Übergriff, die Vereinnahmung.

Hier, an diesem trostlosen Ort, ist nichts spürbar, er lässt kalt. Das offene Gitter, die Masten der Segelschiffe, von denen außer ihnen nichts sichtbar ist. Ein phallisches Stakkato. Ein Nichtort als Tatort.

War es nicht ein Fußballfeld, ein Ascheplatz, zumindest eine Brache, wo sie gespielt haben, wo auch er gespielt hat. Warum hat man nicht einen Fußballplatz als Denkmal für ihn gebaut, zwei Tore mit Netzen im Wind. Mit Grasnarben. Warum nicht Bälle an die Kinder verschenkt mit seinem Gesicht. Stattdessen diese verquer verschlungene Skulptur, seine drei Ps am Boden, ein ausgedorrter Kranz, vertrocknete Rosen. Darunter das Gras. Der Schauplatz des Mordes als Naturschutzpark. Er war schon angekündigt auf Schildern mit römischen, gestürzten Säulen, wie sie auf allen Hinweisen zu Ausgrabungsstätten oder archäologischen Orten zu sehen sind. Sein Name auf diesen Schildern, irritierend, belustigend, aber auch beängstigend.

Ist er nur mehr Geschichte, römische Geschichte, ein Haufen Stein gewordene Literatur? Ich hatte mir alles schmutziger vorgestellt, verwahrlost. Ein paar Hundert Meter weiter an einem Strand finde ich die Stimmung, die ich mir erwartet hatte. Diese Mischung aus Meer und Verzweiflung, aus Armut und Sonne. Und wenn sie fehlt, bleibt nichts außer dem Grau und den Schornsteinen im Nebel, dem Blei im Himmel. Alles menschenleer, und dann plötzlich treten sie aus den Schatten, Blicke, befremdet, verwundert, aber sofort zurück im Alltag.

Wir fahren zurück im Regen. Bremslichter, Autobahnausfahrten, das alte Ostia wie ein Paradies am Wegesrand, beschattet von Prätorianer-Pinien. Schattenschön. Weiter bis in die Stadt. Das Lokal, in dem er kurz vor seinem Tod war, geschlossen, dunkel, die Gitter rostend. Die großen Buchstaben über dem Eingang. Es ist ein gefährlicher Ort geworden, hat er gesagt. Was ist gefährlicher als das Vergessen, das Vergessenwerden?

Ödipus wird seinen Vater töten, unausweichlich. Das Orakel sagt: Du wirst ihn töten. Du wirst mit deiner Mutter schlafen. Ich musste im Ehebett meiner Eltern zwischen meiner Mutter und meinem Vater schlafen. In der Mitte, der Ritze, wie mein Vater sagte. In der Falle. In dem Spalt, der sich nicht auftat wie die Erde, als ich wünschte, sie solle mich verschlucken. Aber sie tat es nicht.

Pasolini weiß: Sie werden mich töten, unausweichlich. Der Tod hat seinen Weg zu mir begonnen, ist nicht aufzuhalten. Das Gift ist im Blut. Die Blutschande. Er hat noch Fußball gespielt mit den Jungs auf der Asche, zwischen den Steinen. Seine Henkersmahlzeit eine Zigarette, ein Zug Glut. Als zöge er sein Herz ein. Als wäre es Asche danach und zerfallen.

Hier lieg ich von der Liebe erschlagen, schrieb John Donne. Und es war kein Regentropfen, der ihn erschlug.

Hat Pasolini den Tod gesucht, weil er die Liebe nicht mehr fand außer in seiner Sprache? Was war das letzte Bild vor seinen Augen? Ein Kopf voller Locken. Das Haupt der Medusa. Wo er starb und lag, steht heute ein Stein.

Ich schreibe einen Roman mit Pasolini, eine Geschichte mit seinen Geschichten. Er erzählt mir etwas über mich und ich erzähle ihm von mir, was er nicht mehr lesen kann. Unser Geheimnis, das wir teilen. Eine gefährliche Liebschaft mit einem Toten, der für mich lebendig wird. Wir sind in Gefahr – einer seiner letzten Sätze. Er hatte und hat wieder recht: Jeder kann der Nächste sein.

Flaubert nannte die wilden Träume seiner Bovary „romans“. Wenn es schwierig wird zwischen den Liebenden, alles sich verstrickt um die Schwanenhälse, nennt es auch Proust: „roman“.

Während des Schreibens hatten unsere Worte eine Affäre. Ich habe nicht gefragt, wie auch er nicht gefragt hat, habe mir genommen, was ich mir nehmen wollte. Als hätte ich nichts zu verlieren, wurde mir immer klarer, was ich verloren habe und was ich wiedergewinnen wollte. Das Kind wollte wieder Kind sein, aber nicht das Kind, das es unter den Händen der anderen war. Der Junge wollte in die Welt, die offenlag, doch ich verschlossen in meinem Zimmer. Den Schlüssel in der Faust, ich fand ihn nicht.

Ich rannte dem Ball nicht hinterher, ich stand zwischen den Pfosten und träumte davon, Tore zu schießen am anderen Ende des Platzes.

Ich musste wie er mit dem Daumen das Kreuz aus Asche auf meine Stirn malen, und verwischte es im nächsten Augenblick, eine Kriegsbemalung gegen den Feind, den ich noch nicht benennen konnte.

Seit ich ein junger Mann war, trug ich nur noch schwarz. Meine zweite Haut. Die Lederjacke. Die ich mir lieh von Brecht, von Fassbinder. Ich las Pasolinis Tod wie ein Gedicht.

Bücher sind Briefe. Ich habe sie mit dem Messer geöffnet, an den Seiten mich geschnitten. Mit diesem Buch schreibe ich ihm zurück.

Komm mir nicht zu nah, wenn ich deine Nähe suche. Wenn ich mit dir sprechen will, die Zunge in deinem Mund, verbissen in jedes Wort, das dir über die Lippen kommt. Was mir dein Körper sagt, ist Antwort genug. Nur in seiner Sprache will ich mit dir sprechen, hören, was deine Haut mir erzählt. Dein Schweiß, wenn ich mit den Fingern durch ihn streiche und sinnlose Zeilen ziehe, darauf doch nur ein Satz stehen könnte, den ich nicht aussprechen will. Wenn wir schweigen, bis auf unseren Atem, kann ich bei dir liegen und bleiben. Für den Moment. Vielleicht auch für den nächsten.

Er ist der Verlassene. Er ist von der Liebe verlassen, von allen guten Geistern, die jetzt Schatten sind, die seinen Blick verschatten. Der Bildausschnitt der Kamera zwischen seinen Fingern fingiert. Die Kamera, sein Auge. Er schießt ein Bild nach dem anderen. Er hat sie im Kasten, die Schatten. Und zwischen den Schatten liegt ein Lachen begraben. Jedes Wort schreit: Komm zurück, komm zu mir zurück. Ich war mit dir, ich war nie bei dir. Komm zurück. Du hast doch, was ich bin, was ich für dich bin, antwortet er. Er hat recht: Die Erinnerung hat mich nicht verlassen. Nur seine Hülle ist gegangen. Ja, mein Geliebter, du bist noch da. Selbst jetzt lässt du ihn nicht frei. Sperrst ihn ein in deinen Gedichten. Du verbietest ihm den Mund. Du knebelst ihn. Überschreibst ihn mit deiner Wahrheit.

Du fühlst dich allein. Soll mich das berühren, umstimmen? Ich war immer allein mit dir. Ist das wahr? Könnte ich es dir ins Gesicht sagen. Und gehen. Ich bin dankbar. Ist es nicht schlimmer, dir zu sagen, ich sei dankbar, als zu sagen, ich liebe eine Frau? Aber du musst nicht gehen, wenn du sie liebst. Du liebst sie doch nicht. Es ist die Kirche, es sind deine Eltern, der Kapitalismus, die dir sagen, du kannst nicht mit mir leben als Mann. Bleib bei mir als Frau. Nein, meine Frau ist keine Nebenfrau. Ich trete aus deinem Harem aus. Ich bin keiner mehr der Jungen. Ich bin kein Strichjunge, ich zieh dir keine Zeilen mehr. Ich bin durchgestrichen für dich. Aber bleibt nicht, dass ich dich geliebt habe? So wie ich dich lieben konnte.

Soll ich sagen als Freund? Soll ich Vater zu dir sagen? Willst du mit mir als mein Vater schlafen, weil ich mit meiner Mutter schlafen will? Nicht du bist Ödipus. Ich bin es. Und deshalb muss ich dich erschlagen. Ist es das, was du denkst?

Was macht seine Hand auf meiner? Oder habe ich sie in meine genommen. Die Hände auf der weißen Tischdecke. Auf meinem Blatt zwei Worte, die sich berühren möchten. Wollte ich das?...


Ostermaier, Albert
Albert Ostermaier, 1967 geboren, lebt als freier Schriftsteller in München. Er ist einer der meistgespielten deutschen Dramatiker der Gegenwart. Seine Stücke wurden u.a. von Karin Beier, Andrea Breth, Kai Voges und Nuran David Callis uraufgeführt. Er schrieb für Komponisten wie Peter Eötvös und arbeitet mit DJ Hell. Seine Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis, dem Bertolt-Brecht-Preis, dem Ernst-Toller-Preis und dem »Welt«-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk. Zudem leitete und rief er international reputierte Literaturfestivals ins Leben.

Albert Ostermaier, 1967 geboren, lebt als freier Schriftsteller in München. Er ist einer der meistgespielten deutschen Dramatiker der Gegenwart. Seine Stücke wurden u.a. von Karin Beier, Andrea Breth, Kai Voges und Nuran David Callis uraufgeführt. Er schrieb für Komponisten wie Peter Eötvös und arbeitet mit DJ Hell. Seine Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis, dem Bertolt-Brecht-Preis, dem Ernst-Toller-Preis und dem »Welt«-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk. Zudem leitete und rief er international reputierte Literaturfestivals ins Leben.  



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