E-Book, Deutsch, 333 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 217 mm
Ossipow Nach der Ewigkeit
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-99012-455-0
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 333 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 217 mm
ISBN: 978-3-99012-455-0
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Moskau - Petrosawodsk: eine Zugfahrt von ganzen vierzehneinhalb Stunden. Fast immer nerven einen die Mitreisenden: mit ihrem Bier, dem Dörrfisch, billigem Cognac Bagration oder Kutusow, anfangs mit Offenheit, dann mit Aggression. Wir fahren los, alles in Ordnung, noch bin ich alleine im Abteil."
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MOSKAU – PETROSAWODSK
Merck auff Hiob /
vnd höre mir zu /
vnd schweige das ich rede. Hiob 33, 31 Den Menschen von seinem Nächsten befreien, ist das nicht der Sinn des Fortschritts? Was kümmern mich die Freuden und Nöte anderer? Richtig, nichts. Kann man nicht wenigstens auf Reisen mal alleine sein? Es musste entschieden werden: Wer fährt nach Petrosawodsk? Eine Konferenz mit internationaler Beteiligung. Meine Herren Doctores, einer muss! Kenn ich, Konferenzen dieses Kalibers: eine Handvoll Emigranten, und fertig ist die Internationale. Kleiner Empfang, Hotel, Vortrag, großes Besäufnis und ab nach Hause. Nach dem Vortrag gibt’s noch Fragen, doch kräftige Männer deuten hinter deinem Rücken mit hochrotem Gesicht auf die Uhr: Zeitlimit. Diese Männer sind lokale Größen. In der Provinz ist jetzt jeder ein Professor. Wie im amerikanischen Süden. Jeder Weiße ist Richter oder Oberst. Also, wer fährt nach Petrosawodsk? Ich melde mich: der Ladogasee-See und so. „Nein, nicht der Ladoga-, sondern der Onega-See.“ „Na und? Kennen Sie Petrosawodsk? Na eben, ich auch nicht.“ Am Bahnhof wird mir mulmig. Um mich zu schützen, mime ich einen abgebrühten Reisenden. Schlendere betont lässig zu meinem Abteil und signalisiere: Kenn mich mit Bahnhöfen aus, Überfall zwecklos. Moskau – Petrosawodsk: eine Zugfahrt von ganzen vierzehneinhalb Stunden. Fast immer nerven einen die Mitreisenden: mit ihrem Bier, dem Dörrfisch, billigem Cognac „Bagration“ oder „Kutusow“, anfangs mit Offenheit, dann mit Aggression. Wir fahren los, alles in Ordnung, noch bin ich alleine im Abteil. „Bitte die Fahrkarten bereithalten.“ „Fräulein, können wir einen Deal machen … Wissen Sie, ich möchte … Ich würde gern alleine bleiben?“ Sie wirft einen Blick auf mich: „Das hängt davon ab, was Sie vorhaben.“ Was soll ich denn vorhaben? „Ich will ein Buch lesen.“ „Ein Buch lesen macht fünfhundert.“ Auf einmal erscheinen zwei Typen. Auf den letzten Drücker. Belegen die unteren Plätze. Sitzen da und atmen. Verflucht. Die Reise ist im Eimer. Schade. Macht es euch bequem, ich will nicht stören. Ich auf die obere Liege geklettert und ihnen den Rücken zugedreht, sie richten sich unten ein. Der Erste ist ein einfacher, primitiver Kerl. Kopf, Hände, Schuhe, alles groß und grob, offen stehender Mund, ein Debiler. Ein verschwitzter Debiler. Holt das Handy raus und spielt wie ein Wilder. Klingelingeling, wenn er gewinnt. Wenn er verliert: Plopp. Mit der freien Hand ruckelt er an seinem Reißverschluss, was ebenfalls Krach macht, und zieht auch noch die Nase hoch. Aber er scheint nüchtern zu sein. Der Zweite unter mir sagt gereizt: „Zieh die Jacke aus, du Idiot.“ Aufgebracht: „Lass das Geschniefe!“ Das kann ja heiter werden. Räderrattern. Von unten kommt: Klingelingeling. Dabei soll ich lesen können? Wird das die ganze Fahrt so gehen? Ich raus auf den Gang. Unterhaltung im Nachbarabteil: „Russland gehört zu den länglichen Ländern“, tönt eine angenehme junge Männerstimme, „im Unterschied beispielsweise zu den USA oder Deutschland, Ländern des runden Typus. Übrigens habe ich in beiden Ländern lange gelebt.“ Das Mädchen seufzt begeistert. „Russland“, fährt die Stimme fort, „ähnelt einer Kaulquappe. Man kann es nur von Osten nach Westen oder von Westen nach Osten durchqueren, mit Ausnahme des Körpers der Kaulquappe, der relativ dicht besiedelt ist und den man nur von Norden nach Süden und von Süden nach Norden durchqueren kann.“ Das kommt links von der Tür meines Abteils. Rechts trinkt man, zerlegt ein Huhn, zerquetscht Tomaten, stößt miteinander an und wiehert vor Lachen. Ich setze mich wieder auf meinen Platz. Wie langsam die Zeit vergeht! Wir sind gerade erst aus Moskau raus. Dreißig Minuten, sechzig Minuten. Bald muss Twer kommen. Der Debile bimmelt. Der Zweite ist munter geworden. „Schalt den Ton aus!“ „Tolja, das ist …“ Aha, Tolja. Groß, eins neunzig oder so, lange, weiße Finger mit runden Nägeln. Gesicht: unauffällig. Dünne Lippen. Quasi gesichtslos. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Irgendwas missfällt mir an Tolja. Er hat keinerlei Ausstrahlung. Anaesthesia dolorosa: schmerzhafte Unempfindlichkeit der Sinne. Du streichst mit der Hand über eine Fläche und hast kein Gefühl dafür, ob du etwas Glattes oder etwas Raues berührst. Ob ich voreingenommen bin? Er ist nüchtern, respektvoll, bemüht, nicht zu stören. „Lass uns einen Blick in die Zeitung werfen, neueste Ausgabe.“ Besten Dank. Die Zeitungen von euch kennen wir: Striptease einer Tennisspielerin vor Journalisten, Tragödie in der Familie einer Fernsehmoderatorin, Tochter eines Milliardärs entführt. Tipps für den perfekten Waschbrettbauch. Chronik der Verbrechen. Tote in Farbe. Pfui, Spinne. Tolja hat sich die Zeitung genommen, raschel-raschel. Nach einer Weile zu dem Debilen: „Komm, gehn wir raus.“ Ich bleibe kurz alleine. Eine feine Reise. Bevor sich alle schlafen legen, passieren noch ein paar uninteressante Dinge. Erstens: Aus dem Nachbarabteil, in dem getrunken wird, kommt ein Besoffener. Mit Kamera in der Hand. Öffnet die Tür und will ein Foto machen. Tolja zuckt zusammen, wendet sich schlagartig ab und verbirgt das Gesicht. Aha, einer vom KGB, Tschekist. Alles klar. Der Betrunkene streckt die Hand nach mir aus, ich wollte gerade Zähneputzen gehen. Ich soll ihn mit seinen Freunden knipsen. Ich knipse. War’s das? Nein. Ich muss mir seine Lebensgeschichte anhören. Er rückt mir auf die Pelle: Wodka, Schweiß, Zigarettenqualm, mir bleibt die Luft weg. Man kann doch wohl ein bisschen Distanz halten, oder? Wie in Amerika. Seine Mutter hat ihm seinerzeit hundert Rubel für eine Kamera geschenkt, sie ihm aber, als ihr das Geld ausging, wieder abgenommen. Und das, wo er seit frühster Kindheit hatte fotografieren wollen. Schrecklich, nicht wahr? Ich zeige Mitgefühl und will gehen. „Halt!“ Er deklamiert einen hippen Vers. „Entschuldige“, sag ich, „ich muss dringend aufs Klo. Bin gleich wieder da.“ Mit Mühe reiße ich mich los. „Mit der Bahn durch die Tundra, tralalala …“, grölt er, breitet die Arme aus und droht, alle zu umarmen, die es nicht schaffen, ihm vorher aus dem Weg zu gehen. Es gibt also noch Schlimmere als meine Abteilnachbarn, muss ich schließen. Einer vom KGB, na und? Sagt nichts, stinkt nicht und hält Abstand. Darauf legt er ebenso viel Wert wie ich. Zweitens: Wie sich herausstellt, ist das nächstliegende Klo unbenutzbar. Jemand hat die Kloschüssel bis zum Rand mit Zeitungen vollgestopft. Durchnässte bunte Bildchen – was das soll? Drittens: Das Wasser für den Tee ist lauwarm, ob es wenigstens abgekocht ist? „Diese Sowjetratte“, stößt Tolja hervor. Nein, der ist nicht vom KGB. Das Deckenlicht geht aus, ich sollte versuchen zu schlafen. Was die beiden verbinden mag? Etwas Gutes kaum. Nicht verwandt und keine Kollegen. Ob sie schwul sind? Wer weiß? Na, und wenn! Möglich, ja. Unter einfachen Leuten ist das weiter verbreitet, als man denkt. Dieselben Geräusche: ratter-ratter, schnief-schnief. Selbstmitleid. Ich schlafe ein. Ich bin eingeschlafen und habe unerwartet fest und lang geschlummert. Als ich aufwache, erwartet mich draußen die Morgensonne, Schnee und – dem Aussehen der Fichten nach zu schließen – starker Frost. Ohne meine Mitreisenden anzusehen, verlasse ich das Abteil. Der Zug hält. „Snytj“ oder so ähnlich, schwer zu erkennen. Achtung, beim Halt auf dem Bahnhof darf das WC nicht … Geduld. In ein paar Stunden müssen wir das heißersehnte Petrosawodsk erreichen: Hotel, Warmwasser, Mittagessen, Wein. Ich fühle mich schon viel besser. Warum muss ich auch alles immer so schwernehmen? Mein Abteil ist vollzählig. Tolja hat sich offenbar überhaupt nicht hingelegt, sitzt am Fenster und schüttelt erregt den Kopf: „Was ist los? Wieso fahren wir nicht?“ „Snytj oder so“, sage ich. „Halt in Snytj.“ „Was? Wo sind wir eigentlich, Gelber?“ „In Swirj, halbe Stunde Aufenthalt.“ Der Gelbe macht jetzt einen viel besseren Eindruck. Spielt nicht, schnieft nicht. Der Gelbe geht, der Zug fährt weiter. Ich wasche mich, trinke heißen Tee und werde fröhlicher. Meine Lebenskräfte sind zurückgekehrt, ich will frühstücken, gute Laune verbreiten, über die Moskauer Professoren herziehen, jungen Ärztinnen imponieren. Ob wir pünktlich eintreffen? Ich erkundige mich. Es sieht gut aus. Aber was ist mit meinem Abteilnachbarn los? Tolja, der allein geblieben ist, macht beim Tageslicht einen geradezu mitleiderregenden Eindruck. „Anatoli, ist Ihnen nicht gut?“ „Was?“ Er wendet sich mir zu. Um Gottes willen, er zittert ja wie Espenlaub! Kenn ich. Gegen Ende des ersten Krankenhaustages beginnt der Patient zu zittern, kämpft mit irgendwelchen Teufeln und springt womöglich aus dem Fenster. Delirium tremens! Klarer Fall. Aha, Tolja ist Alkoholiker. „Schaffnerin“, schreie ich, „Schaffnerin! Der Fahrgast hier ist im Delirium tremens, wirklich. Alkoholdelirium. Haben Sie einen Erste-Hilfe-Koffer?“ Fehlanzeige. Sowjetratte, genau! Ich soll mich an den Zugführer wenden. Und wo finde ich den? „Geben Sie ihm Alkohol, das bezahle ich, der schlägt sonst alles kurz und klein!“ „Beruhigen Sie sich“, sagt die Schaffnerin, „wo ist denn sein Kumpel hin?“ „Ausgestiegen in diesem Swirj oder wie das Kaff heißt.“ „Wieso ausgestiegen? Der hatte doch eine Fahrkarte bis Petrosawodsk.“ Sie schreit: „Wie der das...