Ortlepp / Ribbat | Mit den Dingen leben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 339 Seiten, E-Book-Text

Ortlepp / Ribbat Mit den Dingen leben

Zur Geschichte der Alltagsgegenstände
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-515-09611-9
Verlag: Franz Steiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zur Geschichte der Alltagsgegenstände

E-Book, Deutsch, 339 Seiten, E-Book-Text

ISBN: 978-3-515-09611-9
Verlag: Franz Steiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Axt, Korsett und Nähmaschine – was verraten Alltagsdinge über eine Gesellschaft? Welchen Stellenwert haben sie für ihre Geschichte?
Gerade in der amerikanischen Kulturwissenschaft haben thing studies Konjunktur: kein Ding ist zu klein, kein Objekt zu primitiv, um nicht Untersuchungsgegenstand historischer Forschung zu werden.
In methodisch wie theoretisch innovativer Weise zeigen die Beiträge, wie nationale Identität, aber auch Geschlechterrollen und Ethnizität entscheidend von Dingen des täglichen Lebens geprägt werden. Alltagsobjekte gewinnen so eine Schlüsselfunktion in der Kulturgeschichte. Vor diesem Hintergrund macht der Band der deutschsprachigen Leserschaft zentrale Texte aus der amerikanischen kulturhistorischen Debatte zugänglich: Chronologisch angelegt verfolgt er die Dinggeschichte im 19. und 20. Jahrhundert.
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Warum wir Dinge brauchen
Mihaly Csikszentmihalyi Unsere Evolution als Kulturwesen bringt bekanntermaßen unsere zunehmende Abhängigkeit von Dingen mit sich: Dingen, die dem Überleben dienen, und Dingen, die das Leben komfortabel machen. Im Gegensatz zu den von Marshall Sahlins beschriebenen Jägern und Sammlern, die bei dem Gedanken, ein Geschenk annehmen zu müssen, in Entsetzen gerieten – denn dies bedeutete, noch eine Decke oder noch einen Kessel auf die nomadische Reise mitzuschleppen –, werden wir unter Bergen von Produkten regelrecht begraben. Eine Statistik rechnete vor Kurzem vor, dass in Amerika jeder Mensch in seinem oder ihrem Leben mehr als 400 elektronische Geräte besitzen wird.[30] Diese Wucherung der Gegenstände wäre nicht weiter problematisch, wenn nicht die Dinge mit den Menschen im selben Ökosystem um die raren Ressourcen konkurrieren würden. Wälder werden zerstört für die Gewinnung von Bauholz, Brennholz und Papier; Öl und Metalle werden für die Produktion und den Antrieb von Fahrzeugen verbraucht. Wir verschwenden die in unserer Umwelt potenziell vorhandene Energie, weil wir sie in Dinge umwandeln, die nach kurzer Zeit überflüssig werden. Auf diese Weise beschleunigen wir die Prozesse der Entropie, die unseren Planeten zerstören. Das Überleben der Menschheit hängt davon ab, dass wir einen Modus Vivendi nicht nur mit der physischen Welt finden – den Viren, Bakterien, dem Tierreich und miteinander –, sondern auch mit den Gegenständen, die wir unablässig herstellen. Dass viele dieser Objekte gefährlich sind, ist offensichtlich: Raketen, Bomben, Sturmfeuergewehre und Automobile sind die häufigsten Todesursachen bei Menschen unter vierzig Jahren. Von anderen Dingen geht die Gefahr eher indirekt aus, zum Beispiel von Plastikbechern, die allmählich unsere Strände »bedecken«, oder Sprühdosen, die die Ozonschicht zerstören, und von dem Computer, an dem ich diese Zeilen schreibe und dessen Chips mit Säuren geätzt wurden, die das Grundwasser von Silicon Valley verseuchen. In gewisser Hinsicht sind Artefakte neue Arten, die sich reproduzieren, wie biologische Arten es auch tun. Wenn wir uns eine bebilderte Entwicklung von Objekten wie Musikinstrumenten, Waffen oder Fahrzeugen anschauen, können wir uns leicht vorstellen, dass es sich dabei um das Protokoll eines Evolutionsprozesses handelt, der auf eine immer stärkere Funktionskomplexität ausgerichtet ist. Wir glauben gerne, dass die Dinge, weil sie menschengemacht sind, auch unter unserer Kontrolle sind. Dies ist jedoch nicht unbedingt der Fall. Ein Gegenstand mit einer bestimmten Form und Funktion suggeriert unweigerlich die nächste Inkarnation dieses Gegenstands, die sich fast mit Sicherheit ergeben wird. Aus dem ersten simplen Steinwurfgeschoss zum Beispiel entstand der Speer, aus welchem der Pfeil und dann der Bolzen und dann die Gewehrkugel entstanden, und so weiter – bis zum Star Wars-Programm. Es sieht so aus, als ob nicht die menschliche Willenskraft mit dieser Entwicklung zu tun habe, sondern das Potenzial, das in den Objekten selbst schlummert. Jedes Artefakt ist natürlich das Ergebnis einer menschlichen Absicht, aber diese Intentionalität ist selbst durch die Existenz vorhergehender Objekte konditioniert. Wenn General Motors sich entschließt, eine neue Baureihe von Autos zu produzieren, hängt dieser Entschluss von den bereits existierenden Modellen ab. Wenn das Pentagon ein neues Unterseeboot in Auftrag gibt, ist dieser Akt nicht Ausdruck einer abstrakten menschlichen Absicht, sondern Reaktion auf die Existenz anderer Unterseebote. Wer eine neue Küchenmaschine kauft, gibt keinem wesentlichen menschlichen Bedürfnis Ausdruck, sondern handelt innerhalb eines Bewusstseins, das von Geräten geformt ist. Die Gegenstände gehen demnach mit den Menschen ein oft symbiotisches Verhältnis ein, aber häufig ist diese Beziehung auch parasitär, und das Überleben der Dinge geht auf Kosten des menschlichen Wirts.[31] Angesichts dieser Verflechtung zwischen unserem Überleben und dem der Dinge, die wir herstellen, empfiehlt es sich, die Beziehungen, die wir mit den Objekten eingehen, etwas genauer zu untersuchen. Denn wenn wir nicht zu einem besseren Verständnis der Dinge gelangen, laufen wir Gefahr, uns ihnen mit Haut und Haaren auszuliefern. Ich möchte hier betonen, dass wir nicht nur physisch, sondern, was viel wichtiger ist, auch psychisch von den Dingen abhängig sind. Ein Großteil der Dinge, die wir heutzutage herstellen, verbessert unser Leben nicht in einem materiellen Sinn, sondern dient dazu, unserem Denken Ordnung und Stabilität zu suggerieren. Dinge und die Organisation von Erfahrung
Unsere psychologische Abhängigkeit von Objekten zu verstehen, ist schwierig, solange wir an dem Glauben festhalten, dass es in der Natur des Menschen liegt, das Heft in der Hand zu halten – zu kontrollieren, was in seinem Geist passiert. Dies ist eine bequeme anthropozentrische Illusion und ein nützliches Vorurteil, wenn es darum geht, durch die Untiefen des Lebens zu navigieren. Aber der Gedanke lässt sich bei näherer Betrachtung nicht aufrecht erhalten. In Wirklichkeit ist unser Einfluss auf mentale Prozesse äußerst prekär, selbst unter den besten Bedingungen.[32] Wir glauben gerne, das Bewusstsein sei eine stabile, sich selbst regulierende Größe, aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn der Verstand in Ruhe gelassen wird und ihm organisierte Sinnesreize vorenthalten werden, fängt er an zu wandern und fällt schnell ungezügelten Halluzinationen zum Opfer. Die meisten Menschen brauchen eine äußere Ordnung, die der Willkür, die in den Geist eindringen will, Einhalt gebietet. Ohne die Hilfe eines sensorischen Rasters, das den Gedanken Grenzen setzt und ihnen eine Richtung gibt, ist es schwer, geradlinig zu denken. Wenn Menschen nichts zu tun haben, werden sie unruhig, nervös und depressiv; wenn sie nicht den Fernseher einschalten oder etwas anderes zu tun finden, auf das sie ihre Aufmerksamkeit lenken können, verschlechtert sich ihre Stimmung immer mehr. Dies ist der Grund, aus dem viele Menschen angeben, dass sie sonntagsvormittags am schlechtesten gelaunt sind, wenn sie, eines kulturellen Skripts beraubt, im Sumpf der Freiheit versinken. Das Denken ist nicht dafür geschaffen, im Leerlauf funktioniert es äußerst beschränkt.[33] Genauso wenig kann der Verstand im zeitlichen Ablauf der Ereignisse Ordnung halten, wenn ihm keine Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Es fällt schwer, die Qualität und Beschaffenheit von vergangenen Erfahrungen zu erinnern und Pläne und Hoffnungen für die Zukunft im Gedächtnis zu behalten. Ohne Stützen von außen verblasst sogar unsere persönliche Identität und wird unscharf; das Selbst ist schließlich eine fragile Konstruktion des Geistes. Zumindest für Organismen, die wie wir die Richtlinie ihrer genetischen Programmierung überschritten haben und sich ihrer selbst bewusst geworden sind, muss der Zustand psychischer Entropie der normale Bewusstseinszustand sein. Aber wir empfinden ihn als unangenehm. Deswegen versuchen wir, gegen die psychische Entropie anzuarbeiten und an ihrer Stelle eine zielbewusste Ordnung einzurichten. Hier können Objekte helfen. Wie Hannah Arendt beobachtete: die Weltdinge (haben) die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren, und ihre ›Objektivität‹ liegt darin, dass sie der reissenden Veränderung des natürlichen Lebens … eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen. Mit anderen Worten, das, was der Subjektivität des Menschen entgegensteht, und woran sie sich misst, ist die Objektivität, die Gegenständlichkeit der von ihm selbst hergestellten Welt […] Ohne eine solche Welt zwischen Menschen und Natur gäbe es ewige Bewegtheit, aber weder Gegenständlichkeit noch Objektivität.[34] Auf mindestens drei Weisen unterstützen Gegenstände die Objektivierung des Selbst. Erstens beweisen sie die Macht ihrer Besitzer und Besitzerinnen, deren vitale erotische Energie und deren Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Zweitens bringen die Gegenstände eine historische Kontinuität des Selbst zum Vorschein, denn sie sind Zeichen der Erinnerung und Souvenirs aus der Vergangenheit, Wegweiser für zukünftige Ziele, und sie bündeln die Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Drittens machen Objekte eine konkrete Aussage über den Ort, den jemand in einem sozialen Netzwerk einnimmt. Auf diese drei Weisen stabilisieren die Dinge unsere Vorstellungen davon, wer wir sind; sie verleihen unseren Ansichten über uns selbst, die sich andernfalls im Fluss des Bewusstseins schnell auflösen, eine dauerhafte Form. Objekte der Macht
Seit frühster Zeit bemühen sich die Menschen, bestimmte Dinge auszuwählen und zu besitzen, die ihre persönliche Macht veranschaulichen. Für Männer scheint diese Macht oft gleichbedeutend mit traditionellen männlichen Tugenden wie Kraft und Ausdauer zu sein. Indianische Krieger trugen Medizinbeutel mit den Klauen eines erlegten Bären oder mit anderen Gegenständen von außerordentlicher Bedeutung um den Hals, die die Macht ihres Besitzers symbolisierten, körperliche und heilige Energien beherrschen zu können. Edward Evans-Pritchard vermerkte, dass die Nuer-Hirten im Sudan in ihren Speeren eine Konzentration von Macht sahen: Der Kampfspeer eines Mannes (mut) ist ständig in seiner Hand und beinahe ein Teil seiner selbst […] unablässig schärft und poliert er ihn, denn ein...


Ribbat, Christoph
Christoph Ribbat ist Professor für Amerikanistik an der Universität Paderborn, Lehr- und Forschungstätigkeiten in Bochum, Bonn, Boston und Basel.

Forschungsschwerpunkte: Literatur, Fotografie, Kulturgeschichte.

Ortlepp, Anke
Anke Ortlepp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Washington, DC. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der amerikanischen Kultur und Geschlechtergeschichte. Derzeit schreibt sie an einer Kulturgeschichte des Flugreisens in den USA. Sie ist Autorin von Auf denn, Ihr Schwestern! Deutschamerikanische Frauenvereine in Milwaukee, Wisconsin, 1844-1914 (2004).



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