Orths | Max | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Orths Max

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25767-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-446-25767-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Panorama einer wahnwitzigen Zeit. Und mittendrin: Max Ernst. Er kämpft gegen die Verrücktheit einer Welt, die aus den Fugen gerät. Er flieht vor dem wilhelminischen Vater, später vor dem Nationalsozialismus. Er sucht die eine Frau, die er lieben kann. In Deutschland, im wilden Paris der Zwanzigerjahre, im Exil in den USA. Viele seiner Freunde und Frauen sind berühmte Menschen dieser Zeit: Pablo Picasso, André Breton, Leonora Carrington, Peggy Guggenheim. Im Spiegel von sechs Frauenleben entfaltet sich ein Roman über das 20. Jahrhundert und einen seiner großen Künstler. Markus Orths erzählt so lebendig und ansteckend, dass man in jeder Zeile die Leidenschaft spürt, mit der dieser Roman geschrieben wurde.

Markus Orths wurde 1969 geboren und studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg. Er lebt als Autor mit Frau und drei Kindern in Karlsruhe. Seine Romane wurden in sechzehn Sprachen übersetzt, der Roman Das Zimmermädchen wurde 2015 für das Kino verfilmt. Er ist außerdem Autor von Hörspielen und Kinderbüchern. Bei Hanser erschienen seine Romane Max (2017), Picknick im Dunkeln (2020) und Mary & Claire (2023).
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6

Nachdem Max seine Bude in Bonn bezogen hatte, neugierig auf die Welt der Universität, vernahm er bei seinem ersten Ausflug plötzlich Schreie, die aus einem Gebäude mit hohen Mauern drangen: der Universitätsnervenklinik für Geisteskranke. Max lauschte. Nur ein paar Tage später musste Max genau diese Klinik aufsuchen: Er hatte sich unter anderem für Psychologie eingeschrieben, und die angehenden Psychiater mussten hier Kurse belegen, den Patienten begegnen, sich dem stellen, was auf sie zukäme, würden sie ihr Studium beenden. Als die Studenten zum ersten Mal das Gebäude betraten, watschelten allesamt brav hinter dem Dozenten her, nur Max blieb zurück. In der Halle hatte er etwas gesehen: eine Sammlung von Plastiken und Bildern. Einige dieser Plastiken waren aus Brot geformt; die Bilder atmeten den Schwung des Wahnsinns: Kunstwerke dieser sogenannten Geisteskranken. Kunstwerke für Max, für die anderen eher: Erzeugnisse von Irren, Zeichen, die man zu deuten hätte, um der Verrücktheit auf die Schliche zu kommen, ein erster Schritt auf dem Weg zu einer möglichen Heilung. Max betrachtete die Werke mit mehr als bloßer Neugier. Er hätte die Plastiken gern in die Hand genommen. Aus Brot geformt! Der Drang dieses Menschen, etwas zu gestalten, war so groß gewesen, dass er das Erstbeste und Einzige genommen hatte, was ihm zur Verfügung stand: Brot. Aus Mangel an Material: das eigene Essen. Mit hungrigem Magen ein Werk geformt, um es mit sattem Geist betrachten zu können.

»Guten Tach auch«, hörte Max eine Stimme hinter sich.

Max fuhr herum. Der Mann, den er sah, war etwa vierzig Jahre alt, hatte eine Glatze, aber wuchernde Brauen, darunter rachenschwarze Augen, die Lippen verzogen sich zu einem angeklebt wirkenden Lächeln, und ein Speichelfaden suchte zaghaft den Weg Richtung Kinn.

»Das da«, sagte der Mann, und seine Stimme klang, als würde er beim Sprechen vor einen Kamm blasen, »das da, das da, das habe ich, ich selber, gemamama, es hat noch nie jemand so angeschaut wie du.« Der Mann deutete auf einen Laib Brot, aus dem Brocken gerissen worden waren, sodass zwei Löcher wie Augenhöhlen wirkten und das dritte wie die Öffnung eines Mundes, der unaufhörlich schrie. Die Brot-Innereien bildeten – hart zusammengeklatscht – eine windschiefe Nase, die dem Betrachter entgegenstach. Das Ganze wuchs zu einem Gesicht aus einer anderen Welt, nein: zu einem Gesicht aus der Kehrseite der Welt, die kaum einer beachtete. Der Patient legte seinen Arm um Max und zog ihn sanft zu sich. Der Mann roch stark antiseptisch, als hätte er soeben in einer Lösung aus Desinfektionsmitteln gebadet. Weil Max nicht wusste, was er sagen sollte, fragte er: »Wie heißt du?«

»Hendrik. Und du?«

»Max.«

»Aha. Du bist der König der Zungen, oder?«

Max schwieg.

»Das ist mein Vater«, sagte Hendrik und deutete auf die Brotplastik. »Alles ist mein Vater«, flüsterte Hendrik. »Ich kann nur meinen Vavavater machen, wenn ich Sachen mache, alles, was ich mache, ist mein Vater. Immer. Aber nie ist es richtig.«

Max nickte.

»Kennst du das?«, flüsterte Hendrik plötzlich. »Ich muss allen Möbeln die Beine absägen. Oder abhacken. Oder abschneiden. Mit einer Säge. Mit einer Axt, Max, Maxt, mit einem Beil, mit einem Messer, mit irgendwas Scharfem. Immer exakt an den Kanten. Die Beine vom Bett, vom Tisch, von den Stühlen, vom Sessel, von den Schränken. Alle Beine abschlagen. Erst dann kann ich die Möbelwunden zart und weich schmirgeln. Kennst du das?«

Max nickte.

»In meiner Wohnung liegt ein Haufen amputierter Möbelbeine. Große und kleine, lange und stumpenhafte Beine.« Hendrik hickste. »Ich weiß jetzt: dass mamaman an einem Tisch ohne Beine nicht essen und auf einem Stuhl ohne Beine nicht sitzen kann. Ein Schrank ohne Beine lässt sich nur mühsam öffnen, wenn die Tür direkt über den Parkettboden kratzt.«

Hendrik schwieg jetzt, außer Atem.

Max fragte: »Wie heißt dein Vater denn?«

Hendrik ließ Max sofort los, er trat einen Schritt zurück und hüpfte durch den Raum wie eine Ballerina, rief »Hach! Hach!«, seine Bewegungen bekamen etwas Schwebendes, und Hendrik tanzte durch die Tür, ohne Max weiter zu beachten. Schon war er fort. Und Max blieb allein.

Zurück in seiner Bonner Bude, bombardierte Max sofort eine Kladde mit Notizen: Hendrik. Dieser Blick, die Augen, die Schwärze, diese Werke. Die Menschen da drinnen scheinen tiefer getaucht zu sein als jeder andere von uns. Sie sind nicht mehr zurückgekehrt, sie sitzen immer noch am Grund, aber sie haben etwas gesehen, sie sehen etwas, nur was? Etwas, das auch ich sehen will. Aber ohne das Schicksal der Eingeschlossenen hier zu teilen. Etwas Elementares, etwas, das mit unserem Leben zu tun hat, mit dem, was wir wissen müssen, um die viel zu großen Worte Sinn und Wahrheit endlich zu köpfen. Ich spüre Nähe zu den Patienten, keine Ferne. Ich muss mich von ihren Werken anspringen lassen, ich darf sie nicht begutachten. Sie enthüllen mehr über mich als über den Künstler. Ja, diese Leute sind Künstler, es sind keine Irren, und ich, ich weiß genau, was ich will: Ich will die Grenzen des Wahnsinns ausloten, den Wahnsinn nicht als das sehen, als was die anderen ihn sehen, als Deformation, als Krankheit, als Übel, sondern als das, wovor alle Welt flieht und erschrickt, als das, dem man sich stellen muss, will man das Geheimnis des Menschen ergründen, als das, was in jedem Einzelnen von uns begraben liegt und darauf wartet, angeschaut zu werden: ja: sofort: jetzt: gleich: ein Buch schreiben! Ein Buch über die Menschen in dieser Anstalt, über die Kunst dieser Menschen. Ihre Kunst: Ist das nicht die wahre, die wirkliche Kunst? Ohne jedwede Künstlichkeit? Nicht geboren aus dem Antrieb, gefallen zu wollen oder verkauft werden zu wollen oder etwas zeigen zu wollen oder etwas sagen zu wollen oder sein Können zur Schau stellen zu wollen oder aus sonst einem erbärmlichen Antrieb heraus, nein, ihre Kunst dort ist geboren aus reiner Sinn- und Zweck- und Zielfreiheit, geboren aus nichts als dem Sehen, dem inneren Sehen, sie müssen tun, was sie tun, und sie scheren sich nicht die Spur um den Blick der anderen, sie scheren sich nur um sich selbst, sie scheren sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes, sie scheren ihr Inneres wie wild wuchernde Wolle, der Wille zur Wolle, hehe, ja, ein Buch über die Kunst und den Wawawahnsinn, das wäre es doch, wenn auch ohne Kalauer bitte.

Das Vorhaben scheiterte. Der Neunzehnjährige fand nicht die richtigen Worte. Vielleicht war er kein Schriftsteller. Vielleicht musste er das, was er sah, schlicht und einfach zeichnen oder malen oder modellieren? Vielleicht war er aber auch nur viel zu weit weg von dem, was Hendrik ihm offenbart hatte. Außerdem gab es gerade jetzt jede Menge Neues, das sich zeigte, Dinge, die Max aufsaugte, die ihn ablenkten und umtrieben: Er entdeckte die »Welt der Wunder, der Chimären, Phantome, der Dichter, der Ungeheuer, der Philosophen, Vögel, Frauen, Magier, Bäume, Erotika, Steine, Insekten, Berge, Gifte, Mathematik usw.« Und Max fraß. Max fraß unersättlich: pausenlos kauende, staunende Raupe. Seine Augen stopften sich alles in den Kopf, was sie kriegen konnten. Max legte den Aufschrieb über Kunst und Wahnsinn beiseite und verlor sich tagelang in der Welt der Flechten, wollte herausfinden, was Flechten zu Flechten macht: Erst in der symbiotischen Vereinigung von Pilzen mit Grünalgen oder Bakterien bilden sich die Flechten, und Flechten leben an den unwirtlichsten Orten, in vielfältigen Formen und Farben, und sie nisten sich ein auf Felsen, Rinden, Wegen und Unwegen, bilden mehrfarbige, grandiose Landschaftsmuster. Dann wieder suchte Max Orte auf, um selber der Vereinigung zu frönen: Er hatte herausgefunden, dass da etwas in ihm steckte, dem die Frauen nachgaben. Das lag wohl an der Farbe seiner Augen oder an dem, wer weiß, was hinter diesen Augen flackerte. Und das Malen? Manchmal starrte Max einfach nur in seine Kaffeetasse und fragte sich, was einen Kaffee denn zum Kaffee macht und wieso der Kaffee so nachtschwarz in der Tasse schaukelt und ob Schwarz nicht doch eine Farbe ist, eine alles verschlingende Farbe, die ein Bild bedecken kann, komplett verbergen. Die Möglichkeit eines schwarzen Quadrats streifte seine Ideenwelt, verlor sich aber wie so vieles andere im Chaos seines Kopfes. Max ahnte: Sein Vater Philipp verharrte beim Malen an der Oberfläche. Doch ein Bild eröffnet nicht das, was zu sehen ist, sondern das, was nicht zu sehen ist. Max malte jetzt immer eifriger, aber fast heimlich und mit ungeheurer Unzufriedenheit im Genick. Alles, was er malte, schien falsch. Er warf das meiste wieder fort. Wie ihm die Worte fehlten, so fehlten ihm auch die Bilder. Doch fehlten sie auf andere Weise: Die Worte schienen unerreichbar für ihn. Die Bilder aber lagen greifbar nah, nur bedeckt von Schutt und Kram und Müll alter Vorstellungen. Er musste sich erst durch diesen Berg wühlen. Max ließ nicht locker, er gab alles, und er malte und zeichnete ernsthafter als je zuvor.

Wenn Max das Wort ernsthaft hörte, lächelte er nicht. Zwar mochte er Wortspiele und Kalauer aller Art, zwar konnte er die Menschen in seiner Umgebung gut zum Lachen bringen, aber die abgehalfterten Zweideutigkeiten, die um seinen Nachnamen kreisten, hatte er bald satt. Genauso wie die Wortspiele um den Namen seines neuen Freundes: August Macke. Der alles andere als eine selbige hatte. Nein! Macke war etwa vier Jahre älter als Max. August Macke, der Künstler, der Corinths Malschule in Berlin besucht hatte, der große Bruder, der Max zeigte, wo es langging, und der eine Gruppe von rheinischen Dichtern und Künstlern um sich scharte, Macke, ein geborener Lehrer, der alles gern mit...


Orths, Markus
Markus Orths wurde 1969 geboren und studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg. Er lebt als Autor mit Frau und drei Kindern in Karlsruhe. Seine Romane wurden in sechzehn Sprachen übersetzt, der Roman Das Zimmermädchen wurde 2015 für das Kino verfilmt. Er ist außerdem Autor von Hörspielen und Kinderbüchern. Bei Hanser erschienen seine Romane Max (2017) und Picknick im Dunkeln (2020).



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