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E-Book, Deutsch, 218 Seiten

Orths Corpus


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-89561-861-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 218 Seiten

ISBN: 978-3-89561-861-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jahrelang haben die beiden nichts mehr voneinander gehört, da steht Christof plötzlich wieder in Pauls Wohnung. Ein furchtbares Erlebnis aus der Kindheit, Ergebnis eines harmlosen Spiels, steht zwischen ihnen und verbindet sie zugleich.Zum Wendepunkt in Christofs Leben ist eine Begegnung geworden: Da ist Kai, der Taxifahrer, der die Schauspielschule abgebrochen hat und nun seine Fahrgäste mit Rezitationen provoziert, und Ina, die sich für Gender Studies interessiert, Klettern geht und bald Kais Freundin wird. Was der junge Priester bei sich selbst bislang für Demut und Gelassenheit gehalten hat, ist ihm als großes Vakuum bewusst geworden, das sich in ihm ausgebreitet hat. In Pauls Wohnung tastet sich Christof nun langsam in die Erinnerung zurück und versucht, über das zu sprechen, was geschehen ist.Markus Orths' erster Roman ist ein temporeiches, packendes Buch über die Macht des Gesagten und die Macht des Schweigens, über die Zerstörungskraft von Erwartungen und Zwängen. Und es ist ein Buch über die Angst vor Berührung, vor den eigenen Gefühlen - und der dennoch großen Sehnsucht danach.

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Bislang erschienen fu?nfzehn Bu?cher, Erza?hlungen und Romane, u. a. Lehrerzimmer, Das Zimmerma?dchen, Alpha & Omega, Max, Picknick im Dunkeln und 2023 im Carl Hanser Verlag Mary & Claire. Seine Bu?cher wurden in insgesamt achtzehn Sprachen u?bersetzt und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds.
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2 – CONFITEOR

Christofs erste Messe? Das war damals, hinterm Haus seiner Eltern, im Schuppen. Damit es eine richtige Messe wurde, brauchten wir Hostien. Und vor allem: Wein. Für mich war es ein Leichtes, den Wein zu besorgen, denn auf dem Weingut meines Vaters gab es genug davon: gärenden Wein, noch nicht abgefüllten Wein, Wein, der in Flaschen oder Fässern lagerte, und Wein, der zum Abtransport bereit stand. Am Abend, als mein Vater über Rechnungen gebeugt im Arbeitszimmer saß oder mit dem alten Jolle über den Rebschnitt redete, als im Haus Stille herrschte und es niemandem auf?el, dass ich mein Zimmer verließ, da stahl ich den Schlüssel aus dem Schrank im Flur, stieg die Holzstufen hinab in den Weinkeller und ging an den Eichenfässern vorbei: zu einem der kleineren Tanks. Etliche Male hatte ich zugesehen, wie mein Vater den Wein zur Prüfung herausholte, und so wusste ich, was zu tun war. Ich öffnete das Fassloch und ließ einen kleinen Plastikschlauch hinein, schloss die Lippen um das Ende und saugte, bis ich sehen konnte, wie der Wein langsam hinaufkletterte. Dann nahm ich den Schlauch heraus und ließ den Wein in ein altes Marmeladenglas laufen.

Christof war für die Hostien zuständig. Obwohl Weihnachten schon drei Monate zurücklag, waren bei ihm zu Hause vom Weihnachtsgebäck noch Kokosmakronen übrig geblieben, deren Zubereitung Christofs Mutter missglückt war. Jeden Sonntag stellte sie das alte Gebäck auf den Tisch, in der Hoffnung, dass man es doch noch essen würde, aber der Makronenhaufen nahm kaum ab, und am Sonntag, bevor Christof seine erste Messe im Schuppen feierte, war sein Vater laut geworden, hatte gefragt, was zum Teufel die Makronen da noch sollten, Ende März, er sei dabei, den Garten neu zu bepflanzen, und sie komme ihm hier mit steinalten Weihnachtsschnittchen. Schmeiß die Dinger doch fort, sagte er, du siehst ja, dass kein Mensch die essen will, die ollen Brocken. Christofs Mutter räumte die Makronen vom Tisch, warf sie aber nicht in den Müll, wie Christof sah, sondern kippte sie in die Kekskiste und brachte die Kiste zurück in die Abstellkammer. Und Christof, durch die Worte seines Vaters in der festen Überzeugung, dass die Makronen einen weiteren Sonntag nicht überleben würden, schlich am darauf folgenden Nachmittag zur Kekskiste, kratzte im Abstellraum hockend die Oblaten von den Makronen und legte sie in eine schwarzrote Tonschale.

Der Schuppen stand am Ende des Gartens, er war nicht sehr stabil, bemoost, verwittert und bot Unterschlupf für allerlei Geziefer. Christofs Vater hatte den Schuppen gebaut, im Innern herrschte stets Düsternis, das Fenster war zu klein und die Lampe an der Decke zu schwach. Christof stand am Holzaltar, den wir vom Fenster in die Mitte des Schuppens gerückt und mit einem weißen Tischtuch bedeckt hatten; ich ihm gegenüber, als Messdiener und Gemeinde zugleich. Wir hatten Korporale und Kelchtuch gebastelt, hatten Wein und Wasser in kleine, durchsichtige Milchkännchen gefüllt, hatten ein Gebetbuch zurechtgelegt, hatten die Tonschale mit den Oblaten und eine braune, hoch geformte Blumenvase als Kelch bereitgestellt, nur, sagte Christof plötzlich, der Weihrauch fehlt. Oder was Ähnliches, sagte ich, Körner, ein Pulver, irgendwas, das sich verbrennen lässt. Ja, sagte Christof, und ein Gefäß, ein Weihrauchfass. Wir stöberten in den Regalen und fanden festgetrocknete, knochige Arbeitshandschuhe, die man mit den Fingern nach oben aufstellen konnte, ohne dass sie umkippten. Wir fanden auch ein seltsam gebogenes Werkzeug mit abgestumpfter Klinge, von dem wir nicht wussten, wozu man es brauchte, und schließlich fanden wir Grillkohlen, Spiritus und einen alten Blumentopf, den man an drei rostigen Ketten, die oben zusammenliefen, festhalten konnte. Zuletzt zog ich eine gelbrote Packung aus dem Regal und sagte, sieht ja aus wie Mehl, als ich den kleinen Karton geöffnet und die zusammengeknisterte Packpapiertüte im Innern aufgedröselt hatte.

Molto?ll stand auf der Packung.

Besser als nichts, sagte Christof, und wir kippten ein wenig Molto?ll in den umgedrehten Deckel des Marmeladenglases, tröpfelten Spiritus auf die Kohlen im Blumentopf, zündeten sie an, bliesen, bis sie glühten, und löffelten den Gips auf die weiß werdende Asche, das roch zwar nicht annähernd wie Weihrauch, gab aber einen teuflischen Qualm.

Mit dem Wortgottesdienst hielt sich Christof nicht lange auf. Wir sprachen nur zwei Einstiegsgebete, es ist ein Wochentag, sagten wir uns, an einem Wochentag wird nicht gepredigt, und wenn nicht gepredigt wird, brauchen wir kein Evangelium, und wenn es kein Evangelium gibt, können wir auch auf die Lesung verzichten, denn eigens für die Lesung eine der Bibeln aus dem Bücherschrank seines Vaters zu klauen, schien uns zu aufwendig und zu gefährlich, denn es waren zum Teil kostbare Bücher, und wir wussten beide, wie Christofs Vater reagieren würde, wenn er erführe, dass wir eine der Bibeln mit in den verstaubten Schuppen genommen hätten.

Zur Gabenbereitung sang Christof Dir Vater Lobpreis werde, er sang es traurig und in sich gekehrt, und er sah mich nicht an, während er das Brot entgegennahm, mir die Blumenvase hinhielt und ich den Wein und ein wenig Wasser hineinschüttete, und seine Stimme tauchte den Schuppen in eine dämmrige Tristheit, die mich ergriff, sodass ich plötzlich ernst wurde und die Messe für einen Augenblick den Charakter des Spiels verlor und sich ein Gefühl einstellte, als wären wir dabei, etwas Außergewöhnliches zu tun. Als das Lied zu Ende war, schritt Christof rasch zur Tat und weihte die Oblaten, weihte den Wein, und während er das Brot und den Wein nacheinander in die Höhe reckte, betätigte ich zunächst eine alte, abmontierte Fahrradklingel, dann hob ich den Blumentopf und inzensierte die Gaben, wobei Christof sich wegdrehen musste, um nicht zu viel Rauch in die Augen zu bekommen.

Und dann näherte sich der Moment, auf den es uns ankam, der Moment, dessen Besonderheit wir durch den langen Vorlauf der Messe noch geschürt hatten, der Moment, an dem wir endlich vom Brot und vor allem vom Wein kosten konnten, und um uns selbst nicht zu lang auf die Folter zu spannen, beeilten wir uns und hechelten durch die noch ausstehenden Gebete: Geheimnis des Glaubens gesungen, Vaterunser in zerhacktem Rhythmus, Friedensgrußhandschlag, Lammgottesgemurmel, Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst, und anschließend drückte mir Christof eine Oblate nach der anderen in die Hand, die ich in mich hineinschlang. Er selbst aß den Rest. Die Oblaten waren hart und trocken, sechs, sieben, acht der runden Scheiben stopfte ich mir zwischen die Lippen, kaute auf ihnen herum, nässte sie mit allem zur Verfügung stehendem Speichel, und doch war es ein zäher Brei, der mir die Zunge verpappte, eine Pampe, die zu schlucken mühsam war, ich wollte aber die ganze Masse hinuntergewürgt haben, ehe ich zum Wein griff, wollte den Mund frei haben für den neuen, unbekannten Geschmack des Weines, für das Schmecken dessen, was ich bislang nur vom Geruch her kannte, und so stand ich stumm schmatzend vorm Altar, würgte den Oblatenmatsch hinab, holte schließlich Luft, kramte die Reste mit der Zunge aus den Zahnecken und schluckte ein letztes Mal.

Endlich reichte mir Christof die Vase. Ich setzte sie an die Lippen und dachte, wir hätten sie besser ausspülen müssen, die Vase, ich kann ja die alten Blumen noch riechen, das Gestrünk, das vertrocknet und gelb in ihr gestanden hat, wochenlang, weil meine Mutter vergessen hatte, es herauszunehmen, wir hätten vielleicht besser ein Glas nehmen sollen anstelle des Blumenbechers, aber nein, die Vase, das musste ich zugeben, sah schön aus, sie hatte ein wenig von der Erhabenheit goldbeschichteter Kelche.

Ich trank. Der Wein schmeckte, wie ich gedacht hatte, halb nach Stein und halb nach alten Blumen. Dann aber biss er mich, legte sich wie ein langer Stich auf die Zunge, brannte im Gaumen und fuhr mir die Kehle hinab, in die Röhre, fuhr wie eine Spur aus Hitze in mich hinein. Ich reichte Christof den Kelch, er trank den Rest, sein Gesicht verzog sich, er fauchte kurz und stellte den Kelch zurück auf den Tisch.

Wir blickten uns an und atmeten.

Da sah ich am Fenster einen Schatten, ich kniff die Augen zusammen, es war Lisa, Christofs Schwester. Sie war noch nicht ganz acht Jahre alt und hatte ihre Nase an die milchige, kleine Scheibe gepresst, und ich hätte nicht sagen können, wie lange sie schon so dagestanden war und was genau sie mit angesehen hatte. Immer noch kokelte das Molto?ll im Blumentopf, schwach zwar, aber doch so stark, dass sich deutlich sichtbar kleine Rauchfahnen in die Luft zwirbelten. Als Lisa merkte, dass ich sie entdeckt hatte, verschwand ihr Gesicht vom Fenster, und sie lief fort, Richtung Haus. Was ist los? fragte mich Christof, der seitlich vorm Fenster stand und Lisa nicht hatte sehen können. Lisa, sagte ich. Sie hat uns gesehen? fragte er. Ich nickte. Christof nahm die rote Decke von den Schultern, löste die Schnur von der Hüfte und zog das Bettlaken aus, das er sich umgeworfen hatte. Sie wird uns verraten? fragte ich. Darauf kannst du Gift nehmen, sagte Christof und kippte den Rest Wasser aus dem Milchkännchen in den Blumentopf, wo die Kohlen im letzten Glimmen lagen und erloschen.

Heute noch höre ich die Worte, mit denen Christofs Vater uns am nächsten Tag anschrie, und mir ist, als hätte er jedes dieser Worte unzählige Male aus sich herausgebrüllt, nur einzelne, abgehackte, zusammenhanglose Worte. Ich erinnere mich an Worte wie gefährlich und Feuer, auch an das Wort verbrennen. Und Schuppen, immer wieder Schuppen. Dieses doppelte p in Schuppen, ein Laut, in den Christofs Vater es schaffte, seine...


Orths, Markus
Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Bislang erschienen fu¨nfzehn Bu¨cher, Erza¨hlungen und Romane, u. a. Lehrerzimmer, Das Zimmerma¨dchen, Alpha & Omega, Max, Picknick im Dunkeln und 2023 im Carl Hanser Verlag Mary & Claire. Seine Bu¨cher wurden in insgesamt achtzehn Sprachen u¨bersetzt und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds.

Markus Orths, 1969 in Viersen geboren, lebt in Karlsruhe. Seine Romane, in 18 Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem open mike (2000), dem Förderpreis des Marburger Literaturpreises (2003), dem Heinrich-Heine-Stipendium (2006) und dem Sir Walter Scott-Preis (2006). Zuletzt erhielt er den Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt, den Niederrheinischen Literaturpreis (2009) sowie den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar (2011).



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