Orths | Alpha & Omega | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

Orths Alpha & Omega

Apokalypse für Anfänger
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7317-6040-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Apokalypse für Anfänger

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6040-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf einmal ist es da: ein Schwarzes Loch in Nevada. Von Physikern erschaffen. Ein Unding, das die Erde Stück für Stück verschlingt. Und jetzt? Vielleicht kann Omega Zacharias helfen. Immerhin ist sie der erste Mensch mit drei Hirndritteln und verfügt über spektakuläre telekinetische Fähigkeiten. Obwohl sie eigentlich lieber über Laufstege schwebt und Tennis spielt, stürzt sie sich in den Kampf. Mit von der Partie sind ihr Bruder Alpha und einige kuriose Helden: der reichste Mann der Welt, ein fliegender Magier und Spiele-Erfinder, ein schwuler Buddha, ein fußballbegeisterter Müllmann und seine esoterisch bewanderte Frau, eine sexbesessene Teilchenphysikerin und ein mutiger Performancekünstler.Erzählt und aufgezeichnet wird Omegas Geschichte von Elias Zimmermann, der aus dem Jahr 2525 in unsere Gegenwart reist. Er begleitet Omega und ihre Freunde auf ihrem irren Trip und blickt zugleich auf die absurden Auswüchse der heutigen Zeit.In seinem zehnten Buch zieht Markus Orths meisterhaft alle Register seines Könnens: Alpha & Omega ist eine grandiose Erlöser- und Wissenschaftsparodie, die immer schwindelerregendere Kapriolen schlägt.»Markus Orths demonstriert, wie Sprache verführen kann, wie sie vergiften kann, wie sie retten kann, und wie sie eben auch vernichten kann.« Sylvia Schwab / Hessischer Rundfunk

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Bislang erschienen fu?nfzehn Bu?cher, Erza?hlungen und Romane, u. a. Lehrerzimmer, Das Zimmerma?dchen, Alpha & Omega, Max, Picknick im Dunkeln und 2023 im Carl Hanser Verlag Mary & Claire. Seine Bu?cher wurden in insgesamt achtzehn Sprachen u?bersetzt und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds.
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7

»In die nassen Sättel!«, rief Bitch Winter, als Schülerin, 1985, sechzehn Jahre jung. Es hatte geregnet, und die anderen trauten sich nicht aufzusteigen oder wischten mit Taschentüchern ihre Sättel ab, Bitch aber, mit schwarzen feuchten Haaren, wuchtete ihren Hintern auf den klatschnassen Sattel und grinste. Mit ihrem Vater Gusto teilte sie den Hass auf den eigenen Namen. So, wie Gustav Gustav hasste, hasste Birte Birte. Sie ließ sich aber nicht nur Bitch nennen, weil sie den Namen Birte hasste, sondern auch, weil sie zu gern eine Bitch gewesen wäre. Alles, was sie tat, tat sie mit verführerischem Augenaufschlag. Aber sosehr Bitch sich auch bemühte, sie war alles andere als eine Schlampe. Zwar verschliss sie schon früh eine Reihe von Freunden. Ihre Beziehungen-kann-man-das-nicht-nennen hielten nicht sonderlich lange und endeten meist damit, dass ihre Typen, die allesamt älter waren als sie, mit Birte ins Bett wollten. Nur machte Bitch das nicht mit. Sie war einfach noch nicht so weit. Doch keiner ihrer Freunde wollte sich eine Blöße geben, alle prahlten sie damit, Bitch tatsächlich gevögelt zu haben – rutsch ich hier mehr und mehr in die Diktion der Barbaren? Ich glaub, das ist ansteckend! –, jedenfalls gelangte Bitch auf diese Weise zu einem Ruf, der ihrem Namen entsprach. In Wahrheit dagegen: Jungfrau noch bis zweiundzwanzig. Bitch liebte das Dämmerlicht, in dem ihr Leben glomm, sie, die Verruchte, die Erfahrene, die mit allen Wassern Gewaschene, das verfluchte Objekt der Wollust. Bitch zerstreute die Gerüchte nie, im Gegenteil, von Freundinnen angesprochen, goss sie mit zweideutigen Blicken Öl ins Feuer kollektiver Phantasie.

Sie war biegsam und beugsam. Passte sich allen und allem an. Einer schleifte sie zum Fußball – sie warf sich einen Schal um; einer lebte als Ökofreak – Bitch zwängte ihren Hintern in hautenge Zebrahosen und trug Palästinensertücher; einer war deutlich älter und Klassikfan – Bitch kaufte ein kurzes Seidenkleid. So ging es weiter bis zum siebten Freund, der, mit dem sie am längsten zusammenblieb, schon achtzehn, kurz vorm Abi. Dieser Siebte war ein Esoteriker namens Henry Lamarque, ein Deutsch-Franzose, sein Vater stammte aus Marseille. Henry Lamarque glaubte an alles, was nicht niet- und nagelfest war. Er schleppte Carlos Castaneda ein wie eine ansteckende Krankheit. Und Bitch schluckte begierig, was Henry ihr vorkaute. Von diesem Siebten sollte sich Bitch nie wieder erholen, zeit ihres Lebens, im Gegenteil, dieser Siebte, obwohl er nach einem halben Jahr den Abflug machte – erstmals war es aber übrigens so, dass Bitch mit ihm hatte schlafen wollen, aber er nicht mit ihr, weil Henry sowohl Bitchs Aura als paarungsunreif erachtete als auch ihr Sakralchakra kritisierte –, dieser Siebte also übte einen derart starken Einfluss auf Bitch Winter aus, dass sie seiner im weitesten Sinne als esoterisch zu bezeichnenden Gedankenwelt verfiel und nicht mehr von ihr abließ. Henry haute irgendwann einfach ab, weil er, wie er sagte, das alles nicht mehr aushielt, wobei fraglich ist, was er mit das alles genau meinte –die Gesellschaft, das westliche Denken, die eindeutigen sexuellen Avancen, die Bitch ihm machte, oder die Tatsache, dass sich im Beisein der Bitch sein dafür vorgesehenes Zeugungsorgan nicht entsprechend vergrößerte, obwohl (oder vielleicht gerade weil) er Bitch über alle Maßen liebte. Henrys Verschwinden stürzte Bitch in eine welt- und ichumspannende Krise. Sie wusste nicht weiter. Mehr als Liebeskummer: existenzieller Notstand. An so was Profanes wie Abitur war nicht zu denken. Ohne Henry Lamarque – er hatte sich, nachdem ihn wie aus dem Nichts ein Heißhunger auf buddhistische Philosophie befallen hatte, nach Nepal abgesetzt –, brach Bitch entzwei, es war, als fehle ihr eine Hälfte ihres Körpers, als humpele sie nur noch auf einem Bein, mit halbem Kopf, mit einer Hand und mit zerhacktem Herzen durch die Welt.

Ihr Vater Gusto war keine wirkliche Hilfe. Er hatte sich nie mehr als nötig für Bitch interessiert. Obwohl er als allein erziehender Vater – Bitchs Mutter starb bei der Geburt – die Verantwortung in Gänze trug, vertrat er seit jeher die Auffassung, der Mensch solle sich aus sich selbst entwickeln, man dürfe nicht zu viel vorgeben, jeder, so Gusto Winter, lebe ohnehin irgendwann so, wie er selber es für richtig halte, eine Erziehung verderbe nur den Eo-ipso-Charakter, wie er es nannte. Gusto, mein Gott! Kurz, Bitch war auf sich selbst zurückgeworfen. Durchschritt das Tal der Finsternis. Sie schmiss die Schule – wenn du es für richtig hältst, war alles, was Gusto dazu sagte –, machte sich auf nach Nepal, schlug sich dort durch auf der Suche nach Henry, reiste weiter nach Indien, suchte auch halb Indien ab, fand aber Henry nicht. Wen sie fand, war Mama Aga, eine Frau, die allerhand Dinge konnte, die von westlichen Wissenschaftlern massiv in Zweifel gezogen wurden, also beispielsweise aus nichts etwas machen, materialisieren nennt sich das, oder kranke Organe mit bloßen Händen aus dem Körper entfernen, ohne Operationsnarben zu hinterlassen, und so weiter. Diese Mama Aga nahm Bitch im Verlauf eines, ich weiß nicht, wie sie es dort nennen, sagen wir Happenings, in die Arme, Bitch ließ die Mama nicht mehr los und klammerte sich mit all ihrer Kraft an sie, minutenlang, und Bitch sollte später erzählen, dass diese Frau sie gerettet, ihr einen Lichtpilz ins Innere gesetzt und dafür gesorgt hatte, dass dieses Leben, so finster und ausgeglüht es auch gewesen war, neu erleuchtet wurde, sprich, Energie-Übertragung, also quasi Akku-Auffüllung.

Bitch kehrte zurück in den Westen und ergatterte einen Job in einem Esoterikshop, letzte Konsequenz ihres bisherigen Lebensgangs, etwas, was sie konnte und kannte. Und zwar in Freiburg: fort aus dem Henry-losen Geburtsort Karlsruhe. Zu Beginn frequentierten nur wenige Kunden den Laden, und so nutzte Bitch die Zeit, um sich weiterzubilden. Sie las, was ihr in die Finger fiel. Alle Bücher, die auf den Verkauf warteten. Mehr noch: Ein Buch führte zum nächsten, eine Literaturangabe zur zweiten, dritten, und sie bestellte die Bücher irgendwann nicht mehr, um sie an die Kunden weiterzuverkaufen, sondern um sie selber zu verschlingen. Ihre Chefin Helen war dennoch zufrieden, weil sie immer seltener im Laden stehen musste und sich voll und ganz auf Bitchs Kenntnisse verlassen konnte. Innerhalb eines Jahres eignete sich Bitch ein ordentliches esoterisches Wissen in allen möglichen Bereichen an, vom Engel-Tarot bis zu den keltischen Ritualen. Die Arbeit verlieh Bitch einen festen Stand: die intellektuelle Beschäftigung mit den einzelnen esoterischen Richtungen; der persönliche Kontakt zum Kundenstamm, der sich im Lauf der Zeit ständig vergrößerte; aber auch das Materielle, Geschäftliche, das Kassieren und Geldzurückgeben oder der monatliche Anruf beim Esoterikgroßhandel plus Verlesen der Einkaufsliste. Es erfüllte sie mit einer gewissen Erdungskraft, wenn sie es aussprechen musste: Vier Schwarze Madonnen bitte, zwei Engelpendel aus Messing, eine Wahrsagekugel mit Halter im Schmuckkarton, ein Runenset Amethyst, drei Packungen Rider-Waite-Tarot, sieben keltische Pentagramme (die standen für Willensstärke und Erfolg), zwei Athame (Zeremonienmesser der Hexen und eine Sonderbestellung der alten Schwestern Belten, die sich selbst als Hexen bezeichneten, was von den Menschen ihrer Umgebung bestätigt wurde, wenn auch in anderer Konnotation), Aquamarin, Onyx, Unakit, zwei Sets tibetische Klangschalen und so weiter. Wenn die Stimme am anderen Ende dann noch sagte, Rosenweihrauch und Räucherstäbchen seien gerade im Angebot, bestellte Bitch auch Rosenweihrauch und Räucherstäbchen, ehe sie die Liste mit den Buchtiteln durchgab.

Und jetzt stolperte eines Tages ein junger Mann in den Laden, kaum jünger als sie selbst, magerer Kerl mit wirren Haaren, nachdem er die Mütze vom Kopf gezogen hatte, ein Dreitagemilchbart, er knetete die Mütze in seinen Händen und schrie: »Hallo!«, viel zu laut, worüber er selber am meisten erschrak, sodass er – leiser diesmal – das »Hallo!« wiederholte. Bitch legte ihr Buch zur Seite (Die Kraft der vier Erzengel) und nickte dem jungen Mann zu. Der stand einfach nur da. Vor ihr. Wusste nicht, was tun. Hätte am liebsten gesagt: »Ich bin Kolja. Kolja Zacharias. Ich schleiche hier seit zwei Wochen um den Laden, ich hab mich nicht rein getraut, bin rettungslos verloren, hab noch nie eine Frau angesprochen, einundzwanzig, aus dem katholischen Elternhaus geflüchtet, weil ich es nicht mehr ausgehalten hab, so weit weg wie möglich, bin gerade auf dem Weg zu mir selbst, ich weiß nicht, wie ich diesen Weg finden soll, aber deshalb bin ich nicht hier, nicht, um mir durch esoterischen Firlefanz den Weg zu mir selbst zeigen zu lassen, nein, ich bin hier, um dich anzusprechen, ich bin hier, weil ich noch nie mit einer Frau im Bett war und genau das jetzt nachholen will, sofort, auf der Stelle, mit dir, ich weiß nicht, wie du heißt, ich weiß nicht, wer du bist, aber ich beobachte dich seit zwei Wochen, jetzt hab ich mich reingetraut, und ich bin hier, um mit dir zu schlafen, ich bin hier, weil ich mein Leben lang nie an Sex denken durfte, in meiner katholisch verpesteten Scheißjugend, aber jetzt bin ich draußen und hab der Vergangenheit den Rücken gekehrt, der Vergangenheit und der Kindheit und der Jugend und dem Schein und der Doppelmoral und der psychischen Vergewaltigung, jetzt bin ich hier!« Aber Kolja sagte das alles nicht, weil er nie viel sprechen würde, Kolja, ein Schweiger, ein bärbeißiger Schweiger sollte er werden, der zeit seines Lebens die...


Orths, Markus
Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Bislang erschienen fu¨nfzehn Bu¨cher, Erza¨hlungen und Romane, u. a. Lehrerzimmer, Das Zimmerma¨dchen, Alpha & Omega, Max, Picknick im Dunkeln und 2023 im Carl Hanser Verlag Mary & Claire. Seine Bu¨cher wurden in insgesamt achtzehn Sprachen u¨bersetzt und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds.

Markus Orths, geboren 1969 in Viersen, lebt in Karlsruhe. Seine Romane, in 20 Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem open mike (2000), dem Förderpreis des Marburger Literaturpreises (2003), dem Heinrich-Heine-Stipendium (2006), dem Sir Walter Scott-Preis (2006) und dem Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt. Zuletzt erhielt er den Niederrheinischen Literaturpreis (2009) sowie den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar (2011).



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