Ortheil | Im Licht der Lagune | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Ortheil Im Licht der Lagune

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-10866-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-10866-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf der Entenjagd macht der Conte di Barbaro einen seltsamen Fund: Im Schilf der Lagune hat sich ein Boot verfangen, und darin liegt ein junger Mann, nackt und scheinbar tot. Nach langer Zeit der Pflege erwacht er aus seiner Bewußtlosigkeit, an seine Herkunft kann er sich aber nicht erinnern. Nachdem ihn der Conte in seinem Palazzo aufgenommen hat, zeigt er eine bestechend genaue Beobachtungsgabe, die ihn zu einem genialen Maler und Zeichner werden lässt. Auch die junge Caterina Nardi, di Barbaros Nachbarin und seine heimliche Liebe, wird auf den schönen Fremden aufmerksam. Sie macht ihn nach ihrer Heirat mit di Barbaros jüngerem Bruder, der als venezianischer Gesandter in London tätig ist, zu ihrem ständigen Begleiter. So beginnt ein faszinierendes Kammerspiel, in dem Erotik und Malerei sich immer inniger durchdringen und zu einem berauschenden Fest der Sinne steigern.

In Hanns-Josef Ortheils Roman wird das Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit seinen Palazzi und alten Dynastien, mit seinen labyrinthischen Gassen, den heimlichen Gondelfahrten und lauten Komödienbesuchen wieder zum Leben erweckt. Noch einmal erstrahlt diese Welt in ihrem verführerischen Glanz, eine Welt, in deren Zerfall sich die Ankunft ihres genialsten Malers, William Turners, ankündigt.
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2


Der Conte wartete im Kreuzgang des Klosters San Giorgio, bis der Abt alles Nötige veranlaßt hatte. Er behandelte die Sache mit erstaunlicher Sachlichkeit, so, als sei er an solche Fälle gewöhnt. Di Barbaro aber spürte noch immer die innere Unruhe; seine Finger waren erkaltet, und er bemerkte ein leichtes Zittern der Hände, das ihn verärgerte. Im Grunde ging ihn dieser Tote nichts an, und doch hatte sein Anblick eine wunde Stelle seines Inneren berührt. Er ging langsam auf und ab, unwillig mit dem Kopf schüttelnd, als könnte er alles mit einigen Gesten abtun. Dann sah er den Abt, der schnellen Schrittes auf ihn zukam. Sie umarmten sich. Obwohl sie gut miteinander befreundet waren, hatten sie einander seit Monaten nicht mehr gesehen.

»Was denkst Du darüber?« fragte der Conte.

»Daß er aussieht wie einer unserer gemalten Heiligen, wie die Figur eines Altarbilds ...«, antwortete der Abt.

»Daran dachte ich auch«, sagte der Conte. »Und was machen wir nun mit soviel erkalteter Schönheit?«

»Wir begraben sie feierlich und schweigen.«

»Glaubst Du, daß er eines natürlichen Todes gestorben ist? Ich glaube es nicht. Und müssen wir nicht wenigstens herausbekommen, wer er ist?«

»O nein, lieber Paolo. Diesen Fragen werden wir nicht weiter nachgehen. Wir werden ihn bestatten und für seine Seele beten.«

»Vielleicht wollte man ihn sogar loswerden. Ich vermute, er trieb tagelang so auf dem Wasser.«

»Mag sein, was geht es uns an? Er ist tot.«

»Hast Du seine Haare gesehen? Ich habe noch selten so gepflegte Haare gesehen, beinahe wie die einer Frau ...«

»Ja, die Haare ... Aber wir sollten uns nicht in solche Betrachtungen vertiefen. Wir sollten ihn beerdigen und vergessen, mehr können wir nicht für ihn tun. Sobald wir Fragen stellen, werden sich die Behörden einschalten und das Fragen übernehmen. Sie werden sich hier einnisten und wochenlang schwadronieren. Sie werden Karten spielen und die unsinnigsten Theorien aufstellen, und wir werden sie verpflegen müssen. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie hier einfallen und sich mittags und abends über unsere Polenta hermachen.«

»So oft fütterst Du Deine Lieben mit diesem Zeug?« fragte der Conte.

»Damit sie nicht in Versuchung kommen. Polenta und Risotto, das reicht. Abwechslungen im Essen machen nur lüstern und auf die Dauer doch unzufrieden. Das zufriedene Leben ist ein einfaches Leben, das jede Veränderung scheut.«

»Was Du nicht sagst! Dann müßte ich ja ein glücklicher Mensch sein«, lachte der Conte. »Ich hause in meinem Palazzo wie einer Deiner Mönchsbrüder in seiner Zelle. Ich gebe mich keinen Ausschweifungen hin, ich besuche wöchentlich einmal die Messe, ich arbeite dann und wann für unsere Republik, und ich ernähre mich wie eine Maus, die manchmal an einem Stück Käse knabbert.«

»Aber Du bist nicht glücklich, Paolo. Das bist Du nicht.«

»Ah, Du mußt es wissen! Und warum bin ich nicht glücklich?«

»Weil Du nicht verheiratet bist, Paolo! In Deinem monströsen Palazzo fehlt die Frau und fehlen vor allem die Kinder. Was Ihr Euch einbildet, Ihr vornehmen Herren! Eine Familie nach der andern stirbt aus, weil Ihr es nicht fertigbringt, wenigstens einen der Söhne zur Heirat zu zwingen! Deine Mutter hat mich beschworen, Dir ins Gewissen zu reden. Jetzt ist sie schon über zwei Jahre tot, und zehn Jahre sind seit dem Tod Deines Vaters vergangen! Ein sechsundvierzigjähriger Mann wie Du sollte geheiratet haben! Oder wird Dein Bruder Dich darin übertreffen?«

»Antonio ist noch immer in England, als Sekretär unserer Gesandtschaft. In einem Jahr wird er den Gesandten ablösen.«

»Er fehlt Dir. Ich sehe Dir an, daß er Dir fehlt«, sagte der Abt und legte den rechten Arm um di Barbaros Schultern. Der Conte blieb stehen. Jetzt wußte er, warum ihn die Entdeckung des Toten so unangenehm berührt hatte. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er keinen Leichnam mehr gesehen; Beerdigungen war er ferngeblieben, er hatte den Tod von sich fernzuhalten versucht, so gut es ging.

»Du solltest mich häufiger besuchen«, sagte der Abt. »Du solltest nicht nur an Deine Kunstsammlungen denken, nicht nur an tote Bilder ...«

»Die Bilder sind nicht tot«, unterbrach ihn di Barbaro, »sag so was nicht. Was verstehst Du von Bildern?!«

»Du hast recht«, sagte der Abt. »Ich wollte Dich nicht verletzen. Aber ich stelle mir vor, wie Du allein mit all Deinen Dienern in Deinem Palazzo sitzt und Bilder betrachtest. Kaum ein Sonnenstrahl stiehlt sich hinein ...«

»Wenn ich die Bilder betrachte, werden die Räume verdunkelt« , sagte di Barbaro knapp. Der Abt nahm den Arm von seinen Schultern. »Bleibst Du zum Abendessen?« fragte er.

»Polenta oder Risotto?« fragte der Conte.

»Risotto mit Fisch«, antwortete der Abt.

»Einverstanden«, sagte di Barbaro. »Aber vorher möchte ich unseren Heiligen noch ein letztes Mal sehen. Wo habt ihr ihn hingeschafft?«

»Er liegt in einer der Krankenstuben. Bruder Ennio wäscht ihn, am Ende wäscht man uns alle wie Kinder, komm mit!«

Sie durchquerten den Kreuzgang, gingen eine schmale Treppe hinauf, liefen einen langen Flur entlang und betraten durch eine enge, niedrige Tür die Krankenstube. Der Raum wurde nur durch eine einzige, dicke, dicht neben dem Totenlager brennende Kerze erleuchtet. Die Wände waren mit dunkelrotem Stoff drapiert, auf einem kleinen, runden Holztisch standen eine Karaffe mit Wasser und ein kleines Glas, sonst war der Raum kahl, ähnlich jenen Räumen, in denen man nichts anderes tat als warten. ›Darauf verstehen sie sich‹, dachte di Barbaro, ›für jedes Ereignis haben sie ihr Dekorum ...‹

Bruder Ennio hielt kurz inne, als er die beiden Männer bemerkte. Der Abt gab ihm jedoch ein Zeichen, und sofort setzte er die Waschung fort. Der Conte beobachtete, wie der Leichnam sorgfältig mit einem Schwamm gereinigt wurde. Die Augen waren von den Salzspuren befreit, die Haut war überall aufgesprungen, als hätten die Sonnenstrahlen wie feine Nadeln lauter Einstiche verursacht. Di Barbaro wagte nicht, näher heranzutreten. Der Bruder tat seine Arbeit so selbstverständlich und doch vorsichtig, als säuberte er einen wertvollen Kunstgegenstand von einer leichten, mit geübten Handgriffen zu entfernenden Patina. ›Warum wollte ich ihn noch einmal sehen?‹ dachte di Barbaro. ›Weil ich versuche, mich an diesen Anblick zu gewöhnen ...‹

Der Abt faltete die Hände, als wollte er zu beten anheben, der Conte spürte, wie er bei dem Gedanken an ein Totengebet starr wurde, und Bruder Ennio hob den rechten Arm des Toten, als hätte er ein einzelnes, schweres Teil zu stemmen. In diesem Augenblick hörte jeder der Drei ein deutliches, tiefes, mehrmals einsetzendes Stöhnen. Es klang wie ein Röcheln, als versuchte jemand, nach langem Schlaf die richtige Stimmlage zu finden. Bruder Ennio hatte den aufgerichteten Arm sofort fallen gelassen und war an die Wand zurückgewichen. Der Abt hatte versucht, nach di Barbaro zu greifen, doch der hatte sich als einziger nicht entfernt, sondern war näher zu dem sich schwach regenden Körper hingetreten.

»Er lebt«, sagte der Conte leise. Er hatte jetzt einen trockenen, beinahe erstickten Mund. Er wunderte sich, daß er die Worte so sicher hatte herausbringen können, denn seine Aufregung war so groß, daß er ein starkes Herzklopfen spürte. Gleichzeitig bemerkte er, wie die innere Freude diese Aufregung langsam verdrängte, ja, es war, als stiege eine Freudenwelle in ihm auf, so heftig, daß er sich für einen Moment nach vorn beugte, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Es kam ihm beinahe so vor, als habe er, der Conte Paolo di Barbaro, Teil an dem unerwarteten Wunder.

Die Drei sahen, wie der Erwachte seine Augen zu öffnen versuchte, diese Anstrengung aber sofort einen derartigen Schmerz hervorzurufen schien, daß er den Kopf zur Seite fallen ließ.

»Holen Sie den Arzt, Bruder Ennio!« flüsterte der Abt.

Di Barbaro war instinktiv zu dem Tisch mit der Wasserkaraffe hinübergegangen. Er schenkte das kleine Glas voll und setzte es dem jetzt wieder unbeweglich daliegenden Mann an den Mund. Da sah er, wie die aufgeplatzten, schründigen Lippen, die wie zwei schwere Wulste aufeinanderlagen, langsam, kaum merklich zuckten. Es war nur eine sehr kurze, immer wieder ansetzende Bewegung, eine Art Flackern, wie ein Insektenrucken, doch es ließ in di Barbaro noch einmal jenes Glücksgefühl aufleben, das er seit langem nicht mehr empfunden hatte. Das Wasser lief in kleinen Perlen, aufgefädelt wie an einer Schnur, durch eine kaum wahrzunehmende Öffnung zwischen den Lippen. Di Barbaro goß etwas stärker nach, doch das Wasser schoß nun wie ein kleiner Schwall zu beiden Seiten des Halses hinunter zum Kinn. Die Brust des Erwachten hob sich für einen Moment, dann hörte man noch einmal das Röcheln, darauf aber gleichmäßige Atemzüge, als habe er endlich den ersehnten Schlaf gefunden.

Bruder Ennio kam mit dem Arzt zurück, der sich gleich daran machte, den Mann zu untersuchen. Der Abt nahm di Barbaro am Arm, und sie gingen zusammen hinaus.

»Was meinst Du?« flüsterte der Conte.

»Er ist von den Toten auferstanden ...«, sagte der Abt.

»Es würde mich nicht wundern, wenn er auch noch in den Himmel auffährt«, erwiderte di Barbaro, »Du wirst die Glocken läuten lassen, und Venedig hat endlich einen neuen Heiligen, der den alten San Marco bald in den Schatten stellen wird.«

»Jetzt wird uns die Sache beschäftigen«, sagte der Abt. »Ich ahne, daß uns das Ganze nicht loslassen wird.«

»Dir wäre wohl lieber gewesen, er hätte sich schnell ins Grab legen lassen?«

»Das habe ich nicht gesagt«, lächelte der Abt. »Ich weiß nur, daß solche Auferstandenen...


Ortheil, Hanns-Josef
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.



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