E-Book, Deutsch, Band 02, 224 Seiten
Ortheil Die Moselreise
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-641-05029-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman eines Kindes
E-Book, Deutsch, Band 02, 224 Seiten
Reihe: Autobiografische Romane Hanns-Josef Ortheil
ISBN: 978-3-641-05029-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
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(S. 116-117)
1
Die Moselreise im Sommer 1963 war die erste längere Reise, die ich allein mit meinem Vater unternahm. Sie hinterließ in der Geschichte unserer Familie so auffällige und merkwürdige Spuren, dass es sich lohnt, diese Spuren noch ein wenig weiterzuverfolgen. Die erste, sichtbarste Spur war natürlich die hier erstmals gedruckt vorliegende Reise-Erzählung, die ich nach unserer Rückkehr nach Köln aus all den vielen während der Reise gemachten Notizen komponierte. Ich schenkte sie schließlich meinen Eltern, und ich erlebte schon bald, dass dieses Geschenk auf sie einen außerordentlich starken Eindruck machte. Immer wieder lasen beide Eltern darin, und immer wieder kreisten die Gespräche um Themen und Motive dieser Erzählung.
Zwar erfuhr ich als Kind nicht genau, was meine Eltern an meinem Text so beeindruckte, doch konnte ich späteren Kommentaren entnehmen, dass mein Vater die Moselreise vor allem deshalb als einen Erfolg betrachtete, weil ein Reisen in genau dieser Form mir offensichtlich viel von der immer virulenten Angst vor der Fremde und allem Unvertrauten nahm. Als kleines Kind hatte ich mich nämlich viele Jahre tagsüber mit der Mutter in einem nur sehr begrenzten Terrain im Norden Kölns aufgehalten. An den Vormittagen waren wir spazieren gegangen oder hatten kleinere Einkäufe gemacht, die übrige Zeit aber waren wir meist in der Wohnung geblieben.
Meine Mutter hatte sehr viel gelesen, von Beruf war sie Bibliothekarin, und ich hatte in den vielen Bilderbüchern und all den Kinderzeitschriften und Zeitungen geblättert, die der Vater an den Abenden oft mit nach Hause brachte. Seit dem vierten Lebensjahr hatte ich darüber hinaus Klavier gespielt und viele Stunden des Tages mit Klavierüben verbracht. Diese Tätigkeit hatte mich noch enger an die Wohnung und das vertraute Haus gebunden, so dass ich schon bei geringer Entfernung von diesem Zuhause oft unruhig geworden war und zu fremdeln begonnen hatte. Immer wieder hatte ich mich in solchen Momenten nach zu Hause zurückgesehnt, so dass mein Widerwille, mich in fremden Terrains zu bewegen, zu einer starken Belastung für die ganze Familie geworden war.
Mit dem Vater zu reisen und mit ihm zusammen die Fremde zu erleben - dieses Vorhaben entwickelte sich während der Moselreise dann aber zu einem überraschend geeigneten Mittel, um mir das Unbehagen an jeder Form von Fremde zu nehmen. Dazu gehörte zum einen ein nicht zu rasches Reisetempo, das eine genaue, geduldige und daher beruhigende Beobachtung der Umgebung ermöglichte, zum anderen aber vor allem das Schreiben und Notieren, das mir während eines Tages immer wieder erlaubte, mich in meine eigene Gedankenwelt zurückzuziehen.