Ortheil Das Verlangen nach Liebe
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-10864-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-10864-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über achtzehn Jahre lang haben sich die Kunsthistorikerin Judith und der Konzertpianist Johannes nicht mehr gesehen, als sie sich eher zufällig in Zürich treffen. Die unerwartete Begegnung versetzt sie zurück in die Zeit ihrer großen Liebe, in der sie noch ein junges und unzertrennliches Paar gewesen waren. Von da an sehen sie sich täglich, erzählen sich von ihrem Leben und fragen sich, was früher war und wieder möglich ist. Unmerklich geraten sie immer tiefer hinein in die erneut aufbrechende Magie der Anziehung.
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ICH SAH sie am frühen Nachmittag jenes Tages, an dem ich in Zürich angekommen war. Ich hatte mein Hotel gerade verlassen und war die schmale, schattige Straße hinüber zum See gegangen, auf dessen Anblick ich mich schon eine Weile gefreut hatte. Inmitten der an seinem Ufer entlang laufenden Kastanienallee war ich stehengeblieben und hatte den Anblick genossen: Die sanften, auf und ab schwingenden, schon leicht ins Dunkle gefärbten Hügel des gegenüberliegenden Ufers, das zu den Alpenketten der Ferne ausholende Graublau der stillen Wasserfläche, den Abdruck der auf ihr herumgeisternden Sonnenstreifen, die sich wie matte, breite Pinselstriche quer über diesen diffusen Grund legten. Ich hatte ausgeatmet, spürbar und erleichtert, diese Ankunft war noch schöner, als ich es erhofft hatte, die Szenerie, das Wetter und ein ruhiger Herbst spielten mit, im Normalfall wäre ich sofort zu einem langen Spaziergang am Seeufer entlang aufgebrochen, denn so hatte ich es ja geplant: gehen, weit gehen, langsam eindringen in dieses mir von vielen früheren Besuchen vertraute Terrain, nach einer oder zwei Stunden irgendwo am Ufer ein Glas Wein, und dann, vielleicht, mit einem Schiff wieder zurück.
Mein letzter Blick aber streifte die langen, parallel zum Ufer stehenden Holz-Bänke, auf deren Sonnenplätzen die jungen Paare saßen, Liebende, dicht aneinandergelehnt oder in den ältesten, zeitlosen Posen einander umschlingend, ich hatte diese Bilder nicht länger betrachten wollen, als mein Blick bei einer einzelnen Person hängenblieb, die zwischen all diesen Paaren langgestreckt und anscheinend schlafend auf dem harten Holz lag. Ich erkannte sie sofort, sie war es, sie lag da, als hätten wir uns vor wenigen Stunden nur kurz getrennt, um uns genau hier wieder zu begegnen. Ich spürte, wie mich dieser Anblick durchfuhr, ich erstarrte und fühlte mein Herz schlagen, es konnte doch nicht sein, daß sie sich so wenig verändert hatte, ich hatte sie seit beinahe achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Ihrem Kopf hatte sie den braunen Lederrucksack untergeschoben, den sie schon früher immer dabeigehabt hatte, ein Bein hatte sie über das andere geschlagen und die Hände unter dem Gesäß gefaltet, regungslos lag sie mit geschlossenen Augen da, die langen, blonden, leicht ins Rötliche changierenden Haare rahmten ihr schmales, strenges und oft so konzentriert wirkendes Gesicht. Achtzehn Jahre, rechnete ich noch einmal nach, beinahe achtzehn Jahre hast Du sie nicht mehr gesehen, nie hast Du die geringsten Anstalten gemacht, ihr erneut zu begegnen, und doch hast Du beinahe täglich einmal an sie gedacht, momentweise, wenn Dich irgendeine Kleinigkeit an das frühere, gemeinsame Dasein erinnerte.
Das gemeinsame Dasein ..., ja, so hatte sie es immer genannt, ihre Formulierung war mit der Zeit zu einer stehenden Wendung in den acht Jahren unserer Liebe geworden, ein Darein ..., gemeinsam, so unpathetisch und schlicht und eben gerade deshalb so wahr. Denn in der Tat, es war ein gemeinsames Dasein gewesen, das wir geführt hatten, wir hatten uns, ohne jedoch zusammen zu wohnen, beinahe täglich gesehen und alle Ferienzeiten miteinander verbracht, jeder von uns hatte immer genau gewußt, was der andere gerade tat und wo er sich befand. Seit wir uns durch einen Zufall zu Beginn unserer Studienzeiten getroffen hatten, hatten wir uns nicht mehr getrennt, wir waren, wie es in Kinderbüchern heißt, »unzertrennlich« gewesen, ein junges, von der Liebe berauschtes Paar, das nie auch im Entferntesten daran dachte, voneinander zu lassen. Daß es dann doch, ganz plötzlich und unvorhersehbar, zur Trennung gekommen war, hatte mich völlig aus der Bahn geworfen, ich hatte den schweren Schock lange Zeit nicht überwinden können, wie es ihr ergangen war, hatte mich nicht mehr interessiert, denn sie hatte diese Trennung verursacht, sie allein, ich werde davon später einmal erzählen.
An jenem Nachmittag aber, als ich sie wiedersah, dachte ich daran nicht, ich war viel zu sehr mit ihrem Anblick und meiner Erregung beschäftigt, erhitzt stand ich eine Weile still auf dem Fleck und machte dann, beinahe wie in Trance, ein paar Schritte zurück und seitwärts in die Allee, als müßte ich mich ins Dickicht schlagen oder ein Versteck finden, das mir erlaubte, mit diesem Anblick fertig zu werden. Zum Glück schlief sie, zum Glück hatte sie mich nicht bemerkt, ich hatte also ein wenig Zeit, mich auf diese unerwartete Begegnung einzustellen und zu überlegen, wie ich vorgehen wollte. Und so setzte ich mich auf eine der viel bequemeren und meist leeren Bänke, die sich etwas weiter vom Ufer entfernt in der Allee befanden. Ohne ihre Lehne zu berühren, nahm ich vorn auf der Kante Platz, als wollte ich gleich weiter und als handle es sich nur um einen flüchtigen Halt, der mir erlaubte, meine Taschen zu ordnen oder etwas zu rauchen.
Und wahrhaftig zog ich auch sofort die kleine Schachtel mit den kubanischen Zigarillos, von denen ich immer eine dabeihatte, hervor und legte sie neben mich auf die Bank, um dann in den Manteltaschen nach der flachen, kleinen Digitalkamera und dem winzigen Fernglas zu kramen, die mich ebenfalls bei vielen Spaziergängen begleiten. Auch sie legte ich neben mir auf der Bank ab, dann steckte ich mir ein Zigarillo an, was wäre, dachte ich, wenn der Wind den Rauch zu ihr herübertrüge und der Duft sie weckte?, wahrhaftig rauchte ich noch immer dieselben Zigarillos wie in den fernen Tagen unserer gemeinsamen Jahre, es war dieselbe Größe und Marke, manchmal hatte auch sie sich eines der kleinen, dunklen Dinger angesteckt, unsere Gemeinsamkeit war so weit gegangen, daß wir selbst die sonst unscheinbarsten Dinge miteinander geteilt hatten. Dann griff ich nach dem Fernglas und stellte es ein und betrachtete sie jetzt ganz aus der Nähe, in allen Details: Ja, sie hatte noch immer diese am oberen Bogen leicht geröteten, stark hervortretenden Backenknochen, ja, da war noch immer diese von der vielen Bewegung im Freien leicht gebräunte und straffe Haut, und gut zu erkennen waren auch die breiten, auffälligen Lippen, die ich niemals geschminkt gesehen hatte, niemals. Sie trug einen langen, fast bis zum Boden reichenden Mantel mit schwarzen, in dichter Reihe aufeinanderfolgenden Knöpfen, und feste, flache Schuhe, auch sie war anscheinend zu einem längeren Spaziergang unterwegs.
Ach, wie oft waren wir früher gemeinsam gegangen, das stundenlange, ziellose Streifen durch Städte und Landschaften war unsere große Passion gewesen, ein nicht enden wollendes, aufmerksames Gehen zu allen Tages- und Jahreszeiten, ein Bestaunen der Welt, ein Einkehren hier und dort und ein ebenfalls nicht enden wollendes Sprechen, Erzählen und Phantasieren. Als ich daran dachte, wurde mir plötzlich ganz leicht, es war doch so einfach, jetzt aufzustehen und zu ihr hinüberzugehen und sie zu berühren wie früher und ihr einen Kuß zu geben und mit ihr dann weiter und weiter an diesem herbstlichen See entlangzugehen, auf dem jetzt, am frühen Nachmittag, die Segelboote kreuzten, die großen Segel so stolz und für das Herabdämmern des Abends bereit, wenn das Sonnengold sich in ihre weißen Flächen flüchtete und dort verfing. Aber nein, dachte ich, auf keinen Fall, Du geduldest Dich jetzt, Du wartest, bis sie erwacht, vielleicht liegt sie hier, um auf ihre eigentliche Begleitung zu warten, vielleicht kommt einer daher, mit dem sie ihr Leben jetzt teilt, und dann läßt Du sie ziehen, ohne Dich ihr zu zeigen, Du läßt sie ziehen, hörst Du!, zu erkennen geben wirst Du Dich nicht, erst mußt Du genauer Bescheid wissen, Du mußt wissen, was sie hierherführt und was im einzelnen sie in dieser Stadt vorhat.
Ich legte das Fernglas wieder zur Seite und machte mehrere Fotos, indem ich den Zoom immer wieder veränderte, dann betrachtete ich die Bilder nacheinander auf dem Display, es sah aus, als habe sie ein Fotograf genau an dieser Stelle postiert, das Sonnenlicht lag wie ein Spot auf ihrer langgestreckten Gestalt und hinterließ einige markante Schatten, so daß die Bilder ganz stimmig erschienen. Auch fremde Betrachter, da war ich mir sicher, hätten diese Bilder als stimmig empfunden, denn seit ich Judith kannte, war sie von Männern wie Frauen mehr oder minder heimlich betrachtet und oft wohl auch bewundert worden, sie war eine Person, die bereits beim ersten Anblick auffiel, nicht durch ihre Kleidung oder andere Äußerlichkeiten , sondern einzig durch ihre schlichte, ja altertümlich schlicht wirkende schöne Gestalt, die sie mit nur sehr wenigen Attributen versah und betonte. Schon bei unserer ersten Begegnung war sie mir wie die weibliche Figur eines alten Bildes erschienen, sofort hatte ich damals Bilder und Zeichnungen mit ihr in Verbindung gebracht und war daher gar nicht erstaunt gewesen, als sie mir später erzählte, daß sie Kunstgeschichte studierte, Kunstgeschichte im ersten Semester.
Ich hatte sie in einem Frankfurter Konzertsaal, wo ich zufällig neben ihr gesessen hatte, kennengelernt, dorthin war ich gegangen, weil ein Star der pianistischen Szene Schumanns Klavierkonzert spielte und ich selbst Pianist werden wollte. Ich studierte im zweiten Semester an der Musikhochschule, für mich gab es damals nur das Klavier, morgens vier Stunden, am Nachmittag noch einmal zwei, damals hatte ich davon geträumt, einer der ganz Großen zu werden, einer der Meister, zu dessen Konzerten man sich Hunderte von Kilometern weit auf den Weg macht. Zufällig also war ich mit ihr ins Gespräch geraten, wir waren beide allein und vertieften uns in das Konzertprogramm, in der Musik hatte sie keine großen Kenntnisse, dafür aber, wie ich schnell bemerkte, in der bildenden Kunst sehr fundierte. Ich hatte mir...