Orsenna Cristóbal
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-406-63009-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
oder Die Reise nach Indien
E-Book, Deutsch, 318 Seiten
ISBN: 978-3-406-63009-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als alter Mann erzählt Bartolomeo vom Traum des Kolumbus, der auch der seine wurde, von der fieberhaften Neugier der Seefahrer, die in der Neuen Welt in Grausamkeit umschlug – oder vielleicht von Beginn an den Keim dazu in sich trug.
Ein phantastischer, atmosphärisch dichter und leicht melancholischer Abenteurerroman. Das Tor zur Welt öffnet sich für den sechzehnjährigen Bartolomeo durch seine winzig kleine Handschrift. Unermüdlich trägt er für einen Lissaboner Kartographen die Orte auf jenen Karten ein, durch die sich die Welt zu einem neuen Bild formt. So fasst er Fuß in der weltläufigen Stadt der Mathematiker, Geographen, Schiffsbauer und Seefahrer, einem Schmelztiegel von Portugiesen und Genuesern, Juden und Arabern. Vom großen Wissensdrang der Zeit wird schließlich auch Cristóbal ergriffen; forschend und rechnend bereitet er mit dem Bruder acht Jahre lang die große Reise nach Indien vor. Der Erfolg ist bekannt. Doch wann verlor die Neugier ihre Unschuld? Warum, so fragt sich Bartolomeo im Rückblick, warum entdecken, wenn man am Ende diejenigen tötet, die man entdeckt?
Orsennas Roman ist getrieben von diesen Fragen und ist doch eine Hymne auf das Meer, die Seefahrt und die Sehnsucht aller Entdecker.
Weitere Infos & Material
Santo Domingo,
La Isla Española,
Weihnachten 1511,
im Palast des Vizekönigs
von Westindien Dass ich erzähle, war nicht vorgesehen. Träumen ist in unserer Familie Sache des ältesten Bruders. Und dieser Traum wurde unantastbar. Ob wir wollten oder nicht, Cristóbal hat uns alle an Bord genommen. Er wies jedem von uns eine Rolle zu. Meine war es, ihm Tag und Nacht beizustehen. Und zu schweigen. Es wäre mir nie eingefallen zu protestieren. Wozu sich gegen ein Gesetz wenden, wenn das Gesetz das eigene Herz ist? Ich habe gut daran getan einzuwilligen: So hat sich der Traum erfüllt. Das Alcazar in der neu errichteten Stadt Santo Domingo soll an Sevilla erinnern. Der Palast ist aber lediglich ein großer Block aus grauem Stein am Ufer des kleinen Flusses Ozama. Kommen Sie ruhig näher, Sie haben nichts zu befürchten, und treten Sie ein. Die Wachen werden Sie kaum belästigen: Sie schlafen die meiste Zeit, und ihr Schnarchen beweist, dass sie sich der edlen Tätigkeit des Schlummerns rückhaltlos hingeben. Wenden Sie sich nach links und durchqueren Sie die beiden Kapellen, die große und die kleine. Dann stoßen Sie, abermals zu Ihrer Linken, die Tür auf. Sie werden glauben, ein Grabmal zu betreten, so leer und dunkel ist das Zimmer. Das ist die herrliche und düstere Wohnstatt, die der Vizekönig mir zugedacht hat. Der Vizekönig ist Diego, mein Neffe: Cristóbals einziger ehelicher Sohn. Oft werde ich gefragt, welche unbegreifliche Kraft mich, Bartolomeo, eigentlich zwingt, noch länger auf dieser Insel zu bleiben. Warum muss mein letzter Wohnort Hispaniola sein und nicht einer jener Orte auf der Erde, an denen es zuverlässigere Lustbarkeiten, offensichtlichere Annehmlichkeiten und ganz gewiss bessere Ärzte gibt? Warum nicht Lissabon, Euer geliebtes Lissabon, oder das französische Loiretal mit seiner unvergleichlichen Sanftheit? Je nachdem, wie die Tage sind, nehme ich einen der zahllosen Gründe, die mir diese Insel so lieb machen: die Vielfalt der Vögel, die neun Farben des Meeres, die Nähe der Berge, die Gewalt der Stürme, der umwerfende Duft der Frauen, die ebenso umwerfende Kühnheit der kleinen Mädchen und der Blumen, die sich überall hindurchschlängeln und die unzüchtigsten Posen einnehmen… Die Hauptsache verschweige ich. Entgegen unserem jugendlichen Ehrgeiz haben Cristóbal und ich mit dieser Insel nicht das wahre Paradies entdeckt, das Paradies der Heiligen Schrift. Aber wir sind ihm denkbar nahe gekommen. Ich besitze noch genug klaren Verstand, um zu erkennen, dass die Wahl von Hispaniola zum Wohnsitz mich nicht vor dem Tod bewahrt, den ich mit großen Schritten nahen sehe. Ich weiß allerdings, dass ich mich hier wie nirgendwo sonst der anderen Flüche des Alters erwehren kann: des ständigen Fröstelns trotz Hitze; der grausamen Schmerzen in den Gelenken; der quälenden Fragen der Erinnerung. Auf Hispaniola scheint jede Nacht die Erinnerung an den verflossenen Tag auszulöschen: Jede Morgenröte, die über dem noch ruhigen Meer heraufzieht, ist neu, rein, leicht. Keine Vergangenheit lastet auf ihr, ich meine, keine Verfehlung. Wie die Erde ihre Abgründe hat, in denen das Leben nicht denselben Gesetzen folgt wie an der Oberfläche, so hat die Zeit ihre Löcher. Mir fehlen die Gelehrten. Sie könnten mir dieses Phänomen erklären. Gewiss liegt es daran, dass die Stunden durch die Entfernung, unsere Lage am Rande des Abendhimmels, langsamer vergehen. Soll ich das Geständnis wagen, dass ich in dieser Art von ständiger Gegenwart so friedlich lebe wie nie zuvor? Befreit von den Strapazen des Träumens, seit Cristóbal von dieser Welt geschieden ist, aber auch frei von Reuegefühlen, die das Heer meiner Sünden nach sich ziehen müsste. An jenem Sonntag, dem ersten Advent 1511, wurden wir, die Stadt und ich, gemeinsam wachgerüttelt. Ich liebe diesen Palast für seine Mauern aus Korallenkalk, die für Geräusche durchlässig sind. Zuerst höre ich immer die Vögel, die die Rückkehr des Tages begrüßen, dann die hustenden und spuckenden Männer; die schnaubenden Pferde, das Knarren der Wagen; das erste Knirschen der Sägen. Eine Karavelle kommt an. Ich kann hören, welches Segel man einbindet, an welchem Ankerplatz im Hafen sie festmachen wird. Die Hunde bellen. Sie bellen weiter, immer lauter, solange sie nicht gefüttert werden. Ein neuer Tag setzt sich in Bewegung, schwer wie ein Schiff, das sich vom Kai entfernt. Jedem dieser neuen Tage danke ich dafür, dass er mich mit an Bord nimmt. Ohne etwas von den Angriffen zu ahnen, die kurz darauf meine Seele verwüsten und meine Heiterkeit zerrütten sollten, machte ich mich auf den Weg in die Kirche. Die Messe begann. In meiner Lage war es schwer zu beten: Ich saß in der ersten Reihe zwischen dem Vizekönig Diego und seiner Frau María de Toledo, und alle Blicke richteten sich auf mich. Möge Gott mir verzeihen. Statt mich Ihm und nur Ihm zuzuwenden, war ich ständig damit beschäftigt, Grüße zu erwidern. Plötzlich schreckte ich auf. Ein Dominikaner war auf die Kanzel gestiegen und begann seine Predigt: Ich bin die Stimme Jesu Christi, der in der Wüste dieser Insel ruft… Ich bin die Stimme Jesu Christi, der in der Wüste dieser Insel ruft (…), diese Stimme sagt, dass ihr alle im Zustand der Todsünde lebt wegen der Grausamkeit und der Tyrannei, die ihr gegen dieses unschuldige Volk walten lasst. Satz für Satz gewann die Stimme an Kraft, und die einzelnen Worte wurden deutlicher. Es war, als ob sie sich in ebenso viele Steine verwandelten, die man uns ins Gesicht schleuderte. Sagt mir, im Namen welchen Rechts und welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indianer in so grausamer und so schrecklicher Knechtschaft? Wer hat euch erlaubt, gegen diese Völker, die in ihrem Land friedlich lebten, solch verabscheuungswürdige Kriege zu führen, in denen zahllose von ihnen gestorben sind? (…) Warum haltet ihr sie in einem solchen Zustand der Unterdrückung und Auszehrung, ohne ihnen zu essen zu geben, ohne die Krankheiten zu behandeln, an denen sie leiden und sterben aufgrund der maßlosen Arbeit, die ihr ihnen abverlangt, während ihr sie für den Abbau von Gold Tag für Tag einfach umbringt?… Sind diese Indianer denn keine Menschen? Haben sie denn keinen Verstand und keine Seele? Hat man euch nicht geboten, sie zu lieben wie euch selbst? (…) Warum schlaft ihr in so tiefer Erstarrung? Seid gewiss, dass ihr in dem Zustand, in dem ihr euch befindet, eure Seelen ebenso wenig retten könnt wie die Mauren und die Türken, die den Glauben an Jesus Christus ablehnen. So lautete an jenem Tag die Predigt von Bruder Antonio de Montesinos. Vor allen Herren von Hispaniola, vor allen Encomenderos, den Spaniern also, denen man das Land der Indianer gegeben hatte und dazu noch die Indianer selbst, um es zu bebauen. Die Verblüffung der Anwesenden schlug schnell in Wut um. Blicke wanderten hin und her zwischen dem Prediger, der diese schrecklichen Worte aneinanderreihte, und dem Vizekönig, der sich bemühte, die Fassung zu bewahren. Es bedurfte der ganzen Autorität des Priesters, der die Messe las, damit diese ohne Aufstand der Gläubigen beendet werden konnte. Nach der Rückkehr in unseren Palast befahl der Vizekönig unverzüglich den Dominikaner zu sich, von dem bis dahin niemand etwas gehört hatte, und er las ihm väterlich die Leviten: Jeder von uns könne sich, wenn er schlecht informiert sei, dazu hinreißen lassen, Unwahrheiten zu verkünden. Wer wollte es ihm verübeln, dass er einem Irrtum aufgesessen sei, weil es ihm an Informationen gemangelt habe? Im vorliegenden Fall fehle es an Wissen darum, dass die Arbeit der Indianer für die Erschließung der Insel, also zu Spaniens Ruhm, unverzichtbar sei. Da er nun vollständig in Kenntnis gesetzt worden sei, müsse der Prediger, dem übrigens jedermann Bewunderung für sein Talent und Verständnis für seine Erregung entgegenbringe, am kommenden Sonntag eine Predigt von gänzlich anderer Natur halten als die vorausgegangene, geeignet, der Bevölkerung einen Frieden wiederzugeben, der Seiner Majestät dem König besonders am Herzen liege… Ohne ihm Zeit für eine Erwiderung zu geben, stellte Diego mich vor: Bartolomeo, mein Onkel, der Bruder des Admirals und erster Gouverneur dieser Insel in den Jahren 1496 bis 1500. Montesinos fuhr hoch. Er sah mir direkt in die Augen und sagte nur ein Wort: «Warum?» Schon drängte ihn der Vizekönig hinaus. «Ich zähle auf euch, Bruder Antonio. Das Gleichgewicht hierzulande ist empfindlich. Jeder muss wissen, wo er hingehört.» Als Montesinos den Mund zur Antwort öffnete, wurde er hinausbefördert. Und in der spanischen Oberschicht wartete jeder vertrauensvoll auf die nächste Sonntagsmesse, überzeugt, dass der Vorfall damit abgeschlossen sei. Die ganze Woche über verfolgte mich dieses «Warum». Jedes Mal drängte ich es zurück. Jedes Mal kam es mir wieder in den Kopf, wie eine hartnäckige Wespe, jedes Mal bereitete dasselbe innere Bild ihm den...