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E-Book, Deutsch, Band 6436, 160 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Onken Klassentreffen

Einladung in die unaufgeräumte Vergangenheit

E-Book, Deutsch, Band 6436, 160 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-77548-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"UND - WAS MACHST DU JETZT SO.?" JULIA ONKENS KLEINE PSYCHOLOGIE DER KLASSENTREFFEN

Ein Klassentreffen ist eine Lehrstunde. Vielleicht begreifen wir erst im Rückblick auf unsere Schulzeit, weshalb bestimmte Ereignisse tiefe Spuren in unserem Leben hinterlassen haben, die uns bis ins Alter prägen. Ein so komisches wie altersweises Buch der großen Psychologin über Schlüsselerlebnisse, unsere Vorstellungen von der Welt und uns selbst sowie darüber, was sie aus und mit uns machen.


- Ein Klassentreffen ist wie ein Spiegel des eigenen Entwicklungsprozesses
- Klassentreffen: Eine Lektion über das Fortleben der unaufgeräumten Vergangenheit
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Was ist normal?
Wenn Eltern sich küssen
Bevor ich mich in alten Erinnerungen verlieren kann, erkenne ich Loni schon von weitem, unverkennbar, die Fußspitzen genau wie früher etwas nach innen gedreht, die Arme vor dem Oberkörper leicht angewinkelt, wie wenn sie wachsam auf einer Kommandobrücke nach dem Rechten zu sehen hätte. Sie hat sich also nicht verändert. Vielleicht ist sie nicht mehr ganz so stramm und kerzengerade aufgerichtet, der Oberkörper ganz leicht nach vorne geneigt. Wir umarmen uns und schauen einander an. Was ist aus uns geworden? Ist es ein wehmütig fragender Blick? Wir haben uns seit der Schulzeit nur noch einmal in der Lebensmitte anlässlich einer Klassenzusammenkunft getroffen und seither nie mehr gesehen. Nun begegnen wir uns als alte Frauen wieder. Vielleicht aber schwingt eine eigenartige Ambivalenz mit hinein, eine Art von Bedauern, mit einem Hauch von Überlegenheitsgefühl durchzogen, ausgerechnet zu jenen zu gehören, die noch immer am Leben sind? Die Gefühlsambivalenz, ebenfalls vertraut, wenn damals nach einer wichtigen Klausur nicht mehr alle Kinder mit dabei waren. Mit Loni ging ich sechs Jahre zur Schule. Sie schaffte die Prüfung in die Sekundarschule nur knapp, flog dann nach der Probezeit aus der Klasse, was ich sehr bedauerte, dann verloren wir uns aus den Augen. Ich mochte sie sehr, mehr noch, sie gefiel mir außerordentlich gut. Sie hatte alles, was ich nicht hatte. Nicht nur ihr ebenmäßig fein gezeichnetes Gesicht faszinierte mich, denn so stellte ich mir eine Prinzessin vor – übrigens sind ihre Gesichtszüge heute noch unverkennbar –, auch ihre weißblonden seidenen Locken hatten es mir angetan. Schien die Sonne hinein, glänzten sie silbern, lieblich und flaumweich, und ich konnte nicht genug davon bekommen, immer wieder hineinzugreifen. Ich ließ jeweils einzelne Strähnen langsam und genüsslich durch meine Finger gleiten, genoss die Empfindung der samtweichen Haare, was Loni stets gerne geschehen ließ. Auch ihre Mutter verfügte über eine faszinierende Haarpracht – sie war überhaupt eine schöne Erscheinung. Die Farbe war nicht ganz so lichthell wie bei Loni, sondern sonnengelb, aber ebenfalls bezaubernd. Lonis kleinere Schwestern hingegen hatten davon nichts mitbekommen, obwohl sie ebenfalls hübsche Mädchen waren – vor allem die Jüngste war sehr niedlich. Aber sie konnten, was die silberne Lockenpracht betraf, mit ihrer älteren Schwester in keiner Weise mithalten. Im Gegenteil, ihre Haare waren keiner eindeutigen Farbe zuzuordnen, sie wirkten wie nach zahlreichen Waschmaschinendurchgängen ziemlich müde und ausgelaugt. Und auch von Locken war da keine Spur. Obwohl Loni in rührender Besorgnis ihren Schwestern zu einem attraktiveren Kopfschmuck zu verhelfen bemüht war und stets mit kreativem Flechtwerk die ausweglose Situation zu retten versuchte, stellte sich keine sichtbare Verbesserung ein. Loni war ihren jüngeren Schwestern sehr zugetan, und es war spürbar, wie sie sich um ihr Wohl bemühte. Auch mir taten die beiden leid. Meine Zöpfe, die mir meine Mutter täglich flocht, wobei sie die Enden stets mit einer frisch gebügelten roten Masche zusammenband, waren prall und satt. Immerhin. Loni besaß zwei karierte Faltenröcke, dunkelblau und tannengrün. Der Letztere gefiel mir besonders gut. Ich glaube, ich habe damals gelernt, gewissermaßen als Notprogramm, mich an dem zu erfreuen, was ich bei anderen sehen konnte, statt mich darüber zu grämen, was ich nicht besaß. Daneben wirkte mein Rock, der aus einem alten Kleid meiner Mutter in verblichenem Blumenmuster geschneidert war, wie ein Kontrastprogramm. Und wenn wir dann dicht nebeneinandersaßen, na ja, das musste meinerseits ausgehalten werden. Wir trugen Schürzen, da hingegen konnte ich punkten, denn ich bekam jene meiner um sieben Jahre älteren Schwester zum Austragen, die sie einst selbst im Handarbeitsunterricht kunstvoll bestickt und gar mit reichlich gekräuselter Smokgarnitur verziert hatte. Am Montagmorgen zeigten wir uns gegenseitig unsere auf das Format einer Streichholzschachtel gefalteten und mit hübschen Stickereien verzierten Taschentücher – und auch da konnte ich mithalten. Meine Mutter legte größten Wert darauf, dass ich stets mit einem wenn möglich handumhäkelten Taschentuch unterwegs war. Loni wohnte in einem idyllischen Einfamilienhaus mit kleinem, herausgeputztem Garten. Winzige Steinplatten wiesen kunstvoll den kurzen Weg von der Gartentür zur Haustür, Gemüse- und Blumenbeete waren sauber und ordentlich mit kleinen Gitterchen voneinander abgeteilt. Im Sommer schmückten dunkelrote Geranien die kleinen Fenster. Es war das Gegenstück zu meinem Elternhaus, eine ziemlich schlichte Bude, die Miete erschwinglich, meine Mutter, obwohl verheiratet, alleinverdienend. Ich holte Loni jeweils am Morgen ab, verließ meine Behausung und eilte freudig zu ihr, genoss den idyllischen Anblick. Überhaupt gab es da einiges zu erleben, was mich in eine mir völlig fremde Welt Einblick nehmen ließ. Ihre Mutter war eine sehr elegante Dame mit roten Fingernägeln, modisch und schön gekleidet, ihr Vater, dunkelhaarig, etwas untersetzt, aber sehr freundlich. Und einmal habe ich etwas gesehen, das meine bisherige Welt in Unordnung brachte und mich zutiefst verunsicherte. Ich beobachtete, wie der Vater bei der Verabschiedung zur Arbeit seine Frau innig umarmte, er küsste sie auf den Mund, und mir schien damals, als ob er sie aufessen wollte. Gleichzeitig strich er ihr zärtlich über die Haare. Nachdem er bereits von ihr abgelassen hatte, kehrte er eilig zurück, um sie abermals zu umarmen und heftig zu küssen, und es machte den Eindruck, als ob er sich nur schwer von ihr losreißen könne. Dieses Ereignis setzte mich für einen Augenblick beinahe in Panik: Ich hatte nicht gewusst, dass sich Eltern umarmen, ja sich sogar heftig küssen, überhaupt Freude aneinander haben! Meine Eltern waren ganz anders. Sie zeigten kein Interesse aneinander, sie redeten nicht einmal miteinander. Meine Mutter, dreißig Jahre jünger als mein Vater, war damit beschäftigt, sich ums Geldverdienen zu kümmern. Sie war Näherin in einer Fabrik. Zusätzlich machte sie noch Heimarbeit, putzte bei ihrer Stieftochter, die älter als sie war, wusch und bügelte für sie. Es gab immerhin fünf Franken am Tag. Da gab es keine Zeit zum Küssen und Kosen. Nach der neuen Erfahrung bei Lonis Eltern überlegte ich gelegentlich, ob sie es denn in anderen Verhältnissen getan hätten. Ich hegte ernsthafte Zweifel. Das Wort «Eltern» gab es für mich nur aus Bequemlichkeit, um nicht Vater und Mutter explizit aufzählen zu müssen. Denn Eltern, eigentlich ein Wort für zwei Personen, waren für mich vollständig getrennte Welten, die nichts miteinander zu tun hatten. Meine Eltern führten auch keine Gespräche, und wenn, dann höchstens in kurzen hingeworfenen und unvollständigen Sätzen. Gelegentlich, aber eher selten, wurde es gar laut zwischen ihnen, der Vater polterte herum, die Mutter weinte, schnupfte vor sich hin, um das Weinen zu unterdrücken, was dermaßen nervte, dass meine ältere Schwester meine Mutter anpfiff, sie solle sich doch gefälligst die Nase putzen. Es fühlte sich an, als ob jederzeit eine Bombe hochgehen könnte – mit unvorhersehbaren Folgen. Dass sich Eltern küssen könnten, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Erst als ich dies in Lonis Zuhause vorgeführt bekommen hatte, erweiterte sich mein Bild über die Beziehung von Vater und Mutter. Ich war aber damals sogar etwas skeptisch, wägte ab, ob eine derartig offen zur Schau getragene Freude aneinander gut gehen könne. Schließlich, so beruhigte ich mich selbst, können sich doch Eltern nicht ständig küssen und sich wie Affen aneinanderklammern. Lonis Eltern bildeten eine Einheit, sie gehörten zusammen. Das zeigte sich auch in ganz einfachen, alltäglichen Belangen. Um ins Strandbad zu gehen, mussten wir zu Hause die Erlaubnis einholen. Loni verkündete dann stolz: «Meine Eltern haben es mir erlaubt.» Während ich etwas leiser ergänzte: «Meine Mutter auch.» Unvorstellbar, meine Eltern hätten darüber beraten, ob ich gehen dürfe. Mein Vater wusste nicht, dass ich baden ging, und ich vermute, er wusste auch nicht, ob ich überhaupt schwimmen konnte. Ich ging damals davon aus, dass es Vätern grundsätzlich egal ist, was ihre Kinder treiben. Deshalb war ich auch nicht erstaunt, als mein Vater nicht einmal mitbekommen hatte, dass ich die Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule bestanden hatte. Als diese für mich freudige Botschaft endlich eher zufällig bei ihm angelangt war, meinte er nur, ob das denn nötig gewesen sei. Sein Enkel, der in meinem Alter war, flog durch die Prüfung, das sei ungerecht, meinte er, schließlich müsse er doch als Junge die Chance auf Bildung haben und nicht ich, die ich ja...


Julia Onken ist diplomierte Psychologin, Psychotherapeutin und Leiterin des Frauenseminars Bodensee.


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