E-Book, Deutsch, 448 Seiten
O'Neill Träume aus Papierschnee
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8412-2595-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2595-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Dieses Buch steckt voller Kostbarkeiten.' Miranda July.
Kanda in den Dreißigern: Als sie sich kennenlernen sind Rose und Pierrot Waisenkinder, die unter dem Regiment strenger Nonnen leiden. Rose flüchtet sich ins Tanzen, Pierrot ins Klavierspiel. Die Kraft der Phantasie verbindet, beflügelt sie. Und eines Nachts stehlen sich die beiden davon. Eine Odyssee von Montreal bis nach New York nimmt ihren Lauf, die die jungen Liebenden voneinander trennt. Erst Jahre später begegnen sie sich wieder, gezeichnet von den Enttäuschungen des Lebens, angetrieben von denselben Träumen und Sehnsüchten ...
Heather O'Neill ist Schriftstellerin, Dichterin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihr Debütroman ('Lullabies for Little Criminals', 2006) wurde international gefeiert und für den Orange Prize for Fiction nominiert. Heather O'Neill ist in Montreal geboren und aufgewachsen und lebt dort heute mit ihrer Tochter.
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Kapitel 3
Eine Geschichte der Unschuld
Das Waisenhaus lag am nördlichen Stadtrand. Die letzten Häuser im Rücken, musste man noch zweitausend Schritte gehen, und schon stand man davor. Heute gibt es diese Einrichtung nicht mehr. Es war ein riesiges Gebäude. Nicht die Sorte, von der man eine Tuschezeichnung hätte anfertigen mögen, denn all die identischen rechteckigen Fenster wären rasch langweilig geworden. Es wäre keine künstlerische Herausforderung dabei gewesen; man hätte seine Zeit und seine Ambitionen besser, sagen wir, auf ein galoppierendes Pferd verwendet.
Vor der Erbauung des großen Waisenhauses hatten die Kinder im Nonnenstift gelebt, das mitten in der Stadt lag. Doch das hatte sie zu sehr in Versuchung geführt. Die Waisen hatten nicht hinreichend begriffen, dass sie nicht dazugehörten. Sie hatten geglaubt, sie hätten wie alle anderen einen Platz im Leben. Dabei sollten sie Unterwürfigkeit erlernen. Hier draußen, im Abseits, ging das besser.
Im Haus wimmelte es von verwaisten und verstoßenen Kindern. Etliche hatten durchaus Eltern, doch sie wurden angewiesen, sich in allen praktischen Belangen ebenfalls als Waisen zu betrachten. Es gab getrennte Schlafsäle für Jungen und für Mädchen an den entgegengesetzten Enden des Gebäudes. In den Schlafsälen standen unzählige gleiche Betten. Die Kinder lagen darin wie auf dem Tablett angerichtete Piroggen. Am Fuß eines jeden Bettes stand eine hölzerne Kiste, in der die Waisen ihren persönlichen Besitz unterbringen konnten. Meist befanden sich darin ein Schlafanzug oder ein Nachthemd, eine Zahnbürste und ein Kamm. Manchmal war auch ein besonderer Kieselstein in der Kiste verborgen. In einer lag eine Pillendose, die einen zerbrochenen Schmetterling enthielt.
Hinter dem Gebäude erstreckte sich der Gemüsegarten, den die Kinder pflegten. Dort stand auch ein Hühnerhaus, in dem wie von Zauberhand jeden Morgen kleine ovale Eier auftauchten. Zerbrechliche Miniaturmonde, die sie zum Überleben brauchten. Die Kinder langten ganz behutsam in die Nester, um die Kostbarkeiten nicht zu zerdrücken. Dazu stülpten sie sich die Ärmel über die Hände, und ihre Arme sahen aus wie Elefantenrüssel, die nach Erdnüssen griffen.
Außerdem gab es zwei Kühe, die täglich gemolken sein wollten. Dazu taten sich die Waisen immer paarweise zusammen: Während ein Kind molk, musste das andere der Kuh gut zureden.
Die Kinder waren alle ganz blass. Sie bekamen nicht ausreichend zu essen. Manchmal ertappten sie sich dabei, wie sie sich eine große Mahlzeit nur möglichst lebhaft vorstellten. Im Unterricht schauten sie an sich herunter und befahlen ihren Mägen, stillzuschweigen – als säße ein bettelnder Hund unter ihrem Pult.
Auch hatten sie nicht genügend warme Kleidung und froren im Winter monatelang. Wenn sie den Fußweg zum Hühnerhaus vom Schnee befreiten, wurden ihnen die Fingerspitzen taub. Dann hauchten sie sich in die Hände, um eine kleine Prise Wärme zu erzeugen. Sie übten Stepptanz, wenn ihnen die Zehen schmerzten. Auch im Schlafsaal froren sie unter ihren dünnen Decken. Sie zogen sich die Decken über die Köpfe, schlangen die Arme um die Knie und versuchten, sich selbst zu wärmen.
Sie wussten nie, wann ihnen Schläge drohten, denn die Nonnen bestraften sie für alle erdenklichen Vergehen. Wie bei jeder Gewaltherrschaft gehörte es zum System, dass ein Kind nie abschätzen konnte, ob es Prügel einstecken würde – es ließ sich weder sicher vorhersagen noch verhindern. In den Augen der Nonnen war schon die bloße Existenz dieser Kinder sündhaft. Folglich war auch alles, was sie taten, Sünde. Manchmal bestraften sie ein Kind für etwas, das sie dem anderen hatten durchgehen lassen.
Es folgt eine Auflistung einiger Vergehen, welche von Januar bis Juli 1914 Züchtigungen nach sich gezogen haben.
Aus dem Buch der minderen Regelverstöße:
Ein Junge hob die Beine in die Luft und strampelte damit, als würde er Fahrrad fahren.
Ein kleines Mädchen schnalzte mit der Zunge, um ein Streifenhörnchen auf sich aufmerksam zu machen.
Ein Junge balancierte mit seinem Essenstablett in der Hand auf einem Bein.
Ein kleiner Junge betrachtete allzu neugierig sein Spiegelbild in einem Löffel.
Ein kleines Mädchen summte die Marseillaise.
Ein Junge stampfte sich zu heftig den Schnee von den Stiefeln.
Ein Mädchen hatte ein nicht gestopftes Loch im Strumpf.
Ein Mädchen zeichnete bei einer Mathematikaufgabe ein lächelndes Gesicht in die Ziffer Null.
Sieben Kinder wischten sich die Nase am Ärmel ab.
Ein Mädchen erlag den Lockungen des Schnees, klaubte eine Handvoll davon zusammen und schob sie sich in den Mund.
Ein Junge erschien zum Frühstück, und jedes einzelne seiner Kleidungsstücke war falsch herum angezogen worden.
Ein Mädchen behauptete, es hätte mitten in der Nacht einen Mann mit Bocksfüßen um die Betten der Kinder schleichen sehen.
Drei Kinder wussten nicht, wie das Meer zwischen Kanada und Europa heißt.
Ein Mädchen malte mit dem Finger Schriftzeichen in die Luft.
Ein kleines Mädchen schaute die Sonne schief an, um sich zum Niesen zu bringen.
Ein Junge spielte, er könnte sich den Daumen von der Hand abziehen.
Ein Mädchen behandelte eine geschälte Kartoffel wie einen Säugling und versteckte sie in ihrer Kitteltasche, damit sie nicht gekocht werde.
Ohne selbst recht zu wissen, warum, legte ein Junge seine Beichte mit einer Entenstimme ab.
Es war ein Trauerspiel mit den Waisenkindern. Sie sehnten sich so sehr nach Liebe. Die Prügel drückte ihnen aufs Gemüt. Weil sie Schläge bezogen, wenn sie vor sich hinträumten, wagten es ihre Gedanken bald nicht mehr, umherzuschweifen. Ihren jungen Hirnen war es nicht vergönnt, sich zu zerstreuen oder auf jener Insel der Seligen zu verweilen, die Kindheit heißt. Doch sowohl Pierrots als auch Roses Persönlichkeit überdauerte das grausame Regime.
Die Mutter Oberin achtete besonders auf die ganz kleinen Kinder, die Zwei- bis Sechsjährigen, die im ersten Obergeschoss einquartiert waren. Das Erste, was Pierrot und Rose gemeinsam hatten, war die schwarze Katze. Die Mutter Oberin versuchte diese Katze loszuwerden, die wie ein Geist durch das Waisenhaus spukte. Das Tier hatte struppiges Fell; es sah aus, als wäre es soeben einem Teerbottich entstiegen und als wäre es mit diesem Schicksal höchst unzufrieden. Manchmal ließ es sich tagelang nicht blicken. Es war, als hätte das Gemäuer die Kreatur verschluckt. Dann aber entdeckte die Oberin sie bei Pierrot im Bett. Kind und Katze schliefen wie Liebende aneinandergeschmiegt. Die Oberin jagte das Tier zum Fenster hinaus. Sie glaubte, sie werde es nie wiedersehen.
Dann sah sie es doch wieder, diesmal mit Rose. Das kleine Mädchen hatte sich hingehockt und redete mit der Katze, als hätten sie etwas Dringliches zu besprechen. Dabei war Rose noch zu klein, um überhaupt richtig sprechen zu können. Sie gab nur brabbelnde, gurgelnde Laute von sich. Es klang wie ein kleiner übersprudelnder Wassertopf. Die Katze hörte Rose aufmerksam zu, dann eilte sie davon, wie um die Neuigkeiten unter den Aufständischen zu verbreiten.
Als Pierrot und Rose beide vier Jahre alt waren, beobachtete die Mutter Oberin, wie sie mit der Katze Vater-Mutter-Kind spielten. Immer wieder küssten sie das Tier auf den Kopf und reichten es hin und her.
»Du bist sehr unartig gewesen, Mieze. Du böses, dummes Ding. Du dreckiger Streuner. Du kommst direkt in die Hölle«, sagte Rose.
»Jawohl, und weinerlich bist du. Dafür gibt’s keine Milch. Keinen Tropfen. Kein kleines bisschen. Kein gar nichts gibt es«, verkündete Pierrot.
»Und wenn du jammerst, kriegst du einen Nasenstüber.«
»›Au, au, miau!‹ Ich kanns nicht mehr hören!«
»Du stinkst. Schrubb dir die Pfoten. Ab ins Bad, du Stinkebalg.«
»Du schlimmer Sünder. Schlimm, schlimm, schlimm. Mehr Dreck als Pfoten.«
»So eine Schande! Schau mich an, du Schandfleck.«
Freundlichere Worte hatten sie nie gelernt. Sie kannten nur Beschimpfungen und Tadel, doch die Kinder verwandelten sie in Liebesgeflüster. Die Mutter Oberin beschloss auf der Stelle, die beiden voneinander fernzuhalten. Für Jungen und...