E-Book, Deutsch, 1070 Seiten
Reihe: De Gruyter Reference
E-Book, Deutsch, 1070 Seiten
Reihe: De Gruyter Reference
ISBN: 978-3-11-034539-1
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Zielgruppe
Historians specializing in social history, contemporary history, / HistorikerInnen mit den Schwerpunkten Sozialgeschichte, Neuere un
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Migrations- & Minderheitenpolitik
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Volkskunde Minderheiten, Interkulturelle & Multikulturelle Fragen
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Historische Migrationsforschung
Weitere Infos & Material
1;9783110345285_Oltmer_I-IV;1
2;Handbuch_Oltmer_Druckfassung_1-10-2015;5
2.1;1_Handbuch_Oltmer_Widmung_Vorwort_Inhaltsverzeichnis;5
2.2;2_Handbuch_Oltmer_Teil I_Einleitung_Härter_Asche_Schunka_Niggemann;13
2.3;3_Handbuch_Oltmer_Teil II und III_Fahrmeir_Hitzer_Plass_Reinecke_Thiel;231
2.4;4_Handbuch_Oltmer_Teil IV_Oltmer 5 Aufsätze;429
2.5;5_Handbuch_Oltmer_Teil V_Rass_Schmiechen_Spoerer_Leniger;547
2.6;6_Handbuch_Oltmer_Teil VI_1_Franzen_Sternberg_Wolff_Mattes;731
2.7;7_Handbuch_Oltmer_Teil VI_2_Poutrus_Panagiotidis_Berlinghoff;865
2.8;8_Handbuch_Oltmer_Teil VII_Dietz_Kolb_Autorenverzeichnis;1009
2.9;9_Handbuch_Oltmer_Verzeichnis;1063
Migratorisches Laisserfaire gab es in diesem Zusammenhang erst dort, wo die staatliche Einwilligung zur Auswanderung vorlag und es um die Frage der ReiseBedingungen ging: Seit den 1840er Jahren immer lauter werdende Forderungen nach einem Schutz von Auswanderern auf ihrem Weg nach Übersee wurden nicht oder nur sehr peripher in administrative Maßnahmen umgesetzt; deshalb kam es im 19. Jahrhundert auch nur in sehr beschränktem Maße zur Entwicklung von staatlichen Institutionen zur Verwaltung des Phänomens ›Auswanderung‹. Auch das einheitliche deutsche ›Auswanderungsgesetz‹ wurde erst 1897 in Kraft gesetzt, als die deutsche Massenauswanderung schon der Vergangenheit angehörte.59 Den Forderungen nach umfassender ›Freizügigkeit‹ auf dem Arbeitsmarkt standen aber auch Antworten auf die Frage nach dem staatlichen Umgang mit dem Phänomen der Massenarmut entgegen: Für die Legitimität staatlicher Herrschaft und die Aufrechterhaltung der Loyalität der Staatsangehörigen bildete die Abwehr von Armen anderer Staatsangehörigkeit ein wesentliches Ziel. Es hatte eine zentrale Bedeutung für die staatliche Perzeption von Migration und formte den staatlichen Umgang mit grenzüberschreitenden Wanderungen mit. Hinzu kam in diesem Zusammenhang die Beschränkung der ›Freizügigkeit‹, die sich aus der Existenz der Ortsarmenverbände ergab und Arme auf den Unterstützungswohnsitz verwies. Abwanderung (in diesem Kontext als Verlassen des Ortsarmenverbandes) war damit ebenso wie Zuwanderung (der Aufenthalt in den Grenzen eines Ortsarmenverbandes, der keine Unterstützung zu leisten hatte) auch ein weitreichendes Problem fürsorgerechtlicher Bestimmungen im Rahmen der ›Sozialen Frage‹, die weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert hatte.60 3. Autoritärer Nationalstaat und imperiales Machtstreben: innere Nationsbildung und Migration im Kaiserreich: Das deutsche Kaiserreich von 1871 ist als asymmetrischer Kompromiss zwischen den konstitutionellen Vorstellungen der bürgerlichliberalen Nationalbewegung und denen der monarchischautoritären politischen Eliten verstanden worden. Das politische System war durch das Nebeneinander von (starken) autoritären und (schwächeren) demokratischen Elementen sowie von (starken) föderalen und (schwächeren) unitarischen Elementen gekennzeichnet. Partikulare Herrschaftsgewalt verlor dabei im Laufe der Jahrzehnte an Gewicht: Das galt nicht nur, weil die Kompetenzen und Handlungsspielräume von Reichsbehörden und Reichsverwaltung wuchsen und das Rechtssystem sowie der Justizapparat reichseinheitlich geordnet wurden, sondern auch, weil sich das Amt des Kaisers von der Bundespräsidialgewalt zum Reichsmonarchen verschob und auchinnerhalb des Parteisystems ›reichische‹ Orientierungen und Organisationsformen an Bedeutung gewannen. Mit diesen politischstaatlichen gingen nationale Integrationsprozesse einher. Zur Absicherung der Legitimität staatlicher Herrschaft entwickelte sich die innere Nationsbildung zu einem zentralen Projekt der politischen Elite des Reiches. Das galt vor allem angesichts der Ablehnung der kleindeutschen Staatsgründung unter preußischer Hegemonie durch jene weiten Teile der Bevölkerung, die sich als politische, konfessionelle oder nationale Minderheiten verstanden. Die zentrale Integrationsfunktion übernahm der Nationalismus als Mobilisierungsideologie, der umso mehr Wirkung entfalten konnte, je stärker sich ein politischer Massenmarkt etablierte. Der im deutschen Kaiserreich seit den 1870er Jahren verbandlich ›organisierte Nationalismus‹ fügte dem ein neues, politisch und ideologisch schlagkräftiges Element hinzu, das die Massenwirksamkeit nationaler und nationalistischer Vorstellungen durch neue propagandistischmanipulative Methoden noch wesentlich erhöhte. Mit der Integration nach innen war eine Abgrenzung nach außen verbunden. Für die Perzeption von Migration hatte das im Deutschen Reich vor allem für die Polen als größter nationaler Minderheit weitreichende Folgen. Zwar unterlagen sie nicht rechtlichen Migrationsbarrieren in Gestalt einer Einschränkung ihrer Freizügigkeit im Innern, doch führte ihre Perzeption als ›Reichsfeinde‹ auch bei den starken Ost-West-Binnenwanderungen von Polen (›Ruhrpolen‹) zur Aufrichtung von informellen Integrationsbarrieren, die ein Ergebnis des nationalstaatlichen Homogenisierungsprojekts waren. Folgenreicher noch war die Perzeption der polnischen Minderheit im Reich als ›Reichsfeinde‹ für die ganz überwiegende Zuwanderung von Auslandspolen ins Reich, die seit den 1880er Jahren an Dynamik gewann: Ausschluss durch Massenausweisung und Entwicklung einer systematischen Integrationsblockade sollten die vermeintlich gefährliche Stärkung der polnischen Minderheit im Reich durch Zuwanderung von außen verhindern. Ähnliche Muster lassen sich auch für den staatlichen Umgang mit jüdischen Zuwanderern, besonders über die preußischen Ostgrenzen, ermitteln. Wie der polnischen Minderheit wurde den deutschen Juden mangelhafte Anpassungsbereitschaft beziehungsweise sogar Integrationsunfähigkeit unterstellt, weshalb eine weitere Zuwanderung von außen als Gefahr für die Umsetzung des nationalen Homogenisierungsprojekts angesehen wurde.61 Ein wesentliches Element nationalistischer Vorstellungen in der Auseinandersetzung um die Rolle Deutschlands als ›weltpolitischem‹ Akteur wurde in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die zunehmende Prägung durch ›großdeutsche‹, dann ›alldeutsche‹ Orientierungsmuster. Die ›deutsche Nation‹ wurde immer häufiger ethnisch, das heißt ›volksdeutsch‹ verstanden. Nationalismus wurde zu kulturalistischem Ethno-Nationalismus, der mit der ideologischen Integration aller ›Deutschstämmigen‹ außerhalb des Reichsgebiets weit über die Grenzen des Nationalstaates hinauswirken sollte und damit grundsätzlich expansiv auftrat. Die Zuwanderung von ›Volksdeutschen‹, die keine deutsche Staatsangehö-rigkeit hatten, wurde gefördert, weil sie als nationale Konsolidierung in bewusster Frontstellung gegen ›fremdvölkische‹ Einwanderung verstanden wurde. Die Verbindung von ethnonationaler Konstruktion und der Perzeption von transnationaler Migration zeigte sich im späten deutschen Kaiserreich auch in der Entwicklung des neuen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913, das ›Volksdeutsche‹ gegenüber anderen Nationalitäten privilegierte und zum Beispiel auslandspolnische und jüdische Zuwanderer zu benachteiligen suchte. Vor allem der Erste Weltkrieg, der als ein Ergebnis des übersteigerten imperialen Machtstrebens der europäischen Staaten – und insbesondere Deutschlands – seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstanden werden kann, förderte mit seinem extremen Nationalismus die Fremdenfeindlichkeit, einen ausgesprochen restriktiven Umgang mit Angehörigen anderer Staaten (insbesondere ›feindlichen Ausländern‹) sowie die Ausgrenzung und zum Teil auch die staatlich betriebene oder zumindest geförderte Austreibung von Minderheiten.62 Auf die nationale Integration zur Stabilisierung des politischen Systems zielte der Auf- und Ausbau des Interventions- und Sozialstaates, der auf die Massenpolitisierung und die weit ausgreifende Organisation politischer Interessen reagierte. Vor allem nach dem ›Gründerkrach‹ von 1873 wuchsen die Forderungen organisierter politischer Interessen gegenüber den politischen Eliten, die Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Probleme als staatliche Aufgabe zu verstehen. Der damit ansteigenden Ordnungs- und Interventionsbereitschaft des Staates stand das Anwachsen der Ordnungs- und Interventionskapazitäten gegenüber – der Ausbau und die Professionalisierung der Leistungsverwaltung sowie die Entwicklung von Instrumenten zur Umverteilung wachsender Teile des Sozialprodukts. Am Beginn sozialstaatlichen Handelns standen die Verstaatlichung der Sozialfürsorge und die Entwicklung eines Sozialversicherungswesens. Wohlfahrtsstaatliche Interventionen dienten der Sicherung und Förderung der Loyalität der Staatsbürger durch soziale Ausgleichsfunktionen, verfolgten damit also auch eine Integrationsfunktion. Sie nötigten zugleich aber zu staatlichen Entscheidungen über die Eingrenzung des Kreises der Empfangsberechtigten, die sich in aller Regel an deren Staatsangehörigkeit orientierte. Zuwanderung konnte in diesem Kontext als Gefahr für die Leistungsfähigkeit des nationalen Wohlfahrtsstaates bei der Integration seiner eigenen Staatsbürger erscheinen. Die Reichseinigung entwertete die bis dahin bestehenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Bestimmungen der Einzelstaaten weithin, ohne sie doch ganz aufzuheben. Viele Wanderungsbewegungen, die bis dahin als grenzüberschreitende Migrationen mit rechtlichen und sozialen Folgen für die Migranten verbunden gewesen waren, galten nun als Binnenwanderungen, die...