E-Book, Deutsch, Band 2761, 143 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Geschichte und Gegenwart
E-Book, Deutsch, Band 2761, 143 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-70177-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Migration ist ein globales Zukunftsthema. Debatten über die Folgen des Wachstums der Weltbevölkerung, den Zustrom von Flüchtlingen aus aller Welt oder die Alterung der Gesellschaften im reichen "Norden" zeigen dies in aller Deutlichkeit. Nur selten wird jedoch klar gesehen, dass Migration und Integration Ergebnis historischer Prozesse und staatlich verordneter Politik sind. Jochen Oltmers souveräner Überblick zeigt die Hintergründe, Formen und Konsequenzen globaler Migration in der Neuzeit und schildert die großen Bevölkerungsbewegungen, die die Welt im 19. und 20. Jahrhundert fundamental geprägt haben. Den jüngsten Entwicklungen widmet diese überarbeitete und aktualisierte Auflage besondere Aufmerksamkeit.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Volkskunde Minderheiten, Interkulturelle & Multikulturelle Fragen
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziologie von Migranten und Minderheiten
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Historische Migrationsforschung
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;Vorwort;7
6;1. Bedingungen, Formen und Folgen weltweiter Wanderungen in der Neuzeit;9
6.1;Bewegungsmuster;10
6.2;Motive;11
6.3;Kommunikation, Netzwerke und Migrantenberufe;13
6.4;Erscheinungsformen von Migration;18
6.5;Niederlassung und Integration;25
6.6;Staat und Migration;27
6.7;Konzept des Buches;27
7;2. Die Erschließung und Verdichtung des globalen Raums durch Migration vom 16. bis zum 19. Jahrhundert;30
7.1;Afrikanische Sklaven;32
7.2;Europäische Siedler;37
7.3;Hintergründe der Massenabwanderung aus Europa;39
7.4;Anstieg der europäischen Nordamerikamigration im 19. Jahrhundert;41
8;3. Arbeits- und Siedlungswanderungen im Zeichen rapider Globalisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert;43
8.1;Wandel der europäischen Einwanderung in die USA im späten 19. Jahrhundert;45
8.2;Australien;47
8.3;Argentinien;48
8.4;Sibirien;50
8.5;Mandschurei;53
8.6;Die ‹Inwertsetzung› kolonialer Besitzungen;55
8.7;Das südliche Afrika;57
8.8;‹Coolies›;63
8.9;Migration der Kolonialherren;66
8.10;Europa als Ziel der Zuwanderung aus den Kolonialgebieten;67
8.11;Migratorische Folgen der Dekolonisation im 20. Jahrhundert;70
9;4. Flucht, Vertreibung, Deportation: Migration und weltweite Kriege im 20. Jahrhundert;77
9.1;Der Erste Weltkrieg als Motor des Gewaltmigrationsgeschehens;77
9.2;Gewaltmigrationen in der Zwischenkriegszeit;80
9.3;De-Globalisierung nach dem Ersten Weltkrieg;86
9.4;Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise;91
9.5;Flucht, Vertreibung und Deportation im Zweiten Weltkrieg;96
9.6;Kriegsfolgewanderungen;100
9.7;Migration und ‹Kalter Krieg›;102
10;5. Neue Weltordnung und globale Handlungsräume: Migrationsverhältnisse im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert;106
10.1;Anwerbeverträge;107
10.2;Arbeitswanderungen in die Golfstaaten;111
10.3;Anstieg des Umfangs der Weltbevölkerung und Migration;112
10.4;‹Rücküberweisungen›;116
10.5;Migration und Wachstum der Städte;117
10.6;Land-Stadt-Wanderungen am Beispiel Chinas;120
10.7;Umweltveränderungen und Migrationsverhältnisse;123
10.8;Die globale Flüchtlingsfrage;127
11;Literaturauswahl;135
12;Register: Länder, Regionen und Orte;138
13;Karten;142
1. Bedingungen, Formen und Folgen weltweiter Wanderungen in der Neuzeit
Migrationen sind räumliche Bewegungen von Menschen. Jedoch wird keineswegs jede dieser Bewegungen als Migration verstanden, wie etwa touristische Unternehmungen bzw. Reisen oder das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort. Gemeint sind vielmehr jene Formen regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert. Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen bedeuten. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines staatlichen Gebildes lassen sich als Migration fassen; denn auch sie können es erfordern, dass Migrantinnen und Migranten sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinandersetzen, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden. Auch sie haben für die Lebensverläufe der Wandernden erhebliche Folgen und nötigen diese dazu, Teilhabe in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu erreichen oder zu erringen. Tabelle 1 fasst zentrale Begriffe im Feld zusammen. Tabelle 1: Migration: zentrale Begriffe Bewegungsmuster
Migration kann unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasst aber nicht selten auch Zwischenziele bzw. Etappen, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienen. Fluktuation, beispielsweise zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildete immer ein zentrales Element von Migration. Die dauerhafte Ansiedlung andernorts stellt also nur eines der möglichen Ergebnisse von Wanderungsbewegungen dar: In die Bundesrepublik Deutschland kamen vom Ende der 1950er Jahre bis 1973 rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte (‹Gastarbeiter›), etwa 11 Millionen, also 80 Prozent, kehrten wieder zurück. Der Prozess der Migration bleibt grundsätzlich ergebnisoffen, denn das Wanderungsergebnis entspricht bei weitem nicht immer der Wanderungsintention: Eine geplante Rückkehr wird aufgeschoben, die Ferne schließlich zur Heimat, und die alte Heimat erscheint fern. Räumliche Bewegungen werden abgebrochen, weil bereits ein zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort unverhofft neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert. Zudem vermag der (individuell oder kollektiv wie auch immer definierte) Erfolg im Zielgebiet die Rückkehr in die Heimat möglich oder der Misserfolg sie nötig machen. Migration kann eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes bedeuten, ist aber auch häufig durch zeitlich begrenzte Aufenthalte andernorts gekennzeichnet, die nicht explizit den Lebensmittelpunkt versetzen: Saisonwanderungen, die mehr oder minder regelmäßig zu wochen- oder monatelangen Aufenthalten andernorts führen, sind beispielsweise in der Regel darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen, um die Existenz der Familie am Ort des Lebensmittelpunktes aufrechterhalten zu können. Zahlreiche Beispiele für solche mitunter über längere Zeit hinweg strukturstabilen Formen zirkulärer Migration gab und gibt es in agrarisch geprägten Herkunftsgesellschaften bzw. -regionen, aber auch im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert weltweit beschleunigten Urbanisierung: Eine lineare Wanderung vom Land in die Stadt als ‹Einbahnstraße› bietet nur eines unter vielen Mustern jener Migrationen, die das massive Wachstum der städtischen Agglomerationen in aller Welt wesentlich tragen. Ein weiteres Mobilitätsmuster ist der Kreisverkehr von temporären Land-Stadt-Land-Wanderungen, die nach Jahren in dauerhaften Niederlassungen in den Städten enden können, aber nicht notwendigerweise müssen. Motive
Migrationsentscheidungen unterliegen in der Regel multiplen Antrieben; eine Vielfalt unterschiedlicher Motive bestimmt die Entscheidung zur Abwanderung bzw. zur Zuwanderung in einem bestimmten Raum. Meist sind wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse und persönliche Motive in unterschiedlichen Konstellationen mit je verschiedenem Gewicht eng miteinander verflochten. Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich einer Verbesserung der Situation nach der Abwanderung können dabei immer auch Enttäuschungen über die individuelle Lage in der Herkunftsgesellschaft widerspiegeln. Sieht man von den Gewaltmigrationen ab (zur Einordnung s. unten), streben Migrantinnen und Migranten danach, durch den temporären oder dauerhaften Aufenthalt andernorts Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen zu verbessern bzw. sich neue Chancen zu erschließen. Die räumliche Bewegung soll ihnen zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. In diesen Kontext gehören beispielsweise auch die großen interkontinentalen Wanderungen von wahrscheinlich 55 bis 60 Millionen Europäern im ‹langen› 19. Jahrhundert. Die auffällige Stärke dieser Massenabwanderung aus Europa darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wanderungsbewegungen ansonsten meist kleinräumig waren und nur zu einem geringeren Teil Grenzen von Herrschaftsräumen oder gar von Kontinenten überschritten. Menschen, die migrieren, weil sie andernorts Chancen suchen, verfügen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenziale: sie sind motiviert, ihre Kompetenzen und Kenntnisse, ihre Arbeitskraft und ihre Kreativität dort einzusetzen, wohin sie sich bewegt haben. Dafür sind sie nicht selten auch bereit, Bedingungen in Kauf zu nehmen, die Einheimische ablehnen. Migration verbindet sich oft mit (erwerbs-)biographischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz, Eintritt in einen Beruf oder Partnerwahl und Familiengründung; der überwiegende Teil der Migranten sind folglich Jugendliche bzw. junge Erwachsene. Die migratorische Chancenwahrnehmung bedingen spezifische sozial relevante Merkmale, Attribute und Ressourcen, darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale (Stände, Schichten) und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu ‹Ethnien›, ‹Kasten›, ‹Rassen› oder ‹Nationalitäten›, die sich nicht selten mit Privilegien und (Geburts-)Rechten verbinden. Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erweisen sich damit die Grade der Autonomie von Migranten als Individuen bzw. in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete in den vergangenen Jahrhunderten häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften bzw. Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen brachten keineswegs immer eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst mit sich. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten vielmehr häufig Angehörige aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden ‹Rücküberweisungen› oder anderen Formen des Transfers von Geld die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern. Solche mehr oder minder regelmäßigen Geldüberweisungen durch Migranten an zurückbleibende Familienangehörige haben bis in die Gegenwart eine ausgesprochen hohe Bedeutung für einzelne Haushalte, für regionale Ökonomien oder selbst für ganze Volkswirtschaften. Indien empfängt gegenwärtig die weltweit höchsten Transferzahlungen durch Migranten: Über 70 Milliarden US-Dollar, die vornehmlich von indischen Arbeitswanderern in den Golfstaaten stammen, machten im Jahr 2015 mehr als 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des südasiatischen Staates aus. Eine zentrale Bedingung für das Funktionieren solcher translokaler ökonomischer Strategien bildet die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen – Netzwerke – über zum Teil lange Dauer und große Distanzen. Die Abwandernden senden häufig nicht nur Geld in die Herkunftsregion, sondern fungieren auch innerhalb ihrer Netzwerke als Mittlerin oder Mittler anderer Weltsichten, neuer technischer oder technologischer, ökonomischer oder kultureller Kenntnisse und Kompetenzen. Damit verschaffen sich Migrantinnen und Migranten, aber auch jene, die in den Herkunftsgesellschaften Leistungen durch Transfer von Geld und Wissen empfangen, ein Mehr an Handlungsmacht, d.h. mehr Einfluss und Entscheidungskompetenzen. Kommunikation, Netzwerke und Migrantenberufe
Ob und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen längerfristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wird, hängt entscheidend ab vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten. Damit Arbeits-, Ausbildungs- oder Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichen, bedarf es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Solcherlei Wissen vermitteln mündliche und schriftliche Auskünfte...