E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Olsson Eine Schwester in meinem Haus
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-22698-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-22698-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Linda Olsson, geboren in Schweden, studierte Jura und arbeitete im Finanzgeschäft. Sie lebte in Kenia, Singapur, Japan und England und hat sich schließlich mit ihrem Mann in Neuseeland niedergelassen. Mit ihrem Debütroman 'Die Dorfhexe' gelang ihr sofort der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Heute pendelt die Autorin zwischen Neuseeland und Schweden.
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ERSTER TAG
»Welches Bett soll ich für Ihren Gast fertig machen?«, fragte mich das Hausmädchen. Wir standen in dem halbdunklen Esszimmer. Ihre braunen Augen waren ausdruckslos. Für sie war es natürlich nur eine ganz pragmatische Frage.
Aber ihre Worte trafen mich, als hätte ich etwas Heißes und Schweres hinuntergeschluckt. Und dort unten im Magen lagen sie nun und brannten. Mich traf die Erkenntnis mit voller Wucht, dass mit Anbruch des Abends auch meine Schwester kommen würde. Und in einem der Betten schlafen. In einem der Räume wohnen. In das eindringen, was meins war, und dadurch die gesamte Atmosphäre verändern. Nicht absichtlich.
Nein, mit mir stimmt etwas nicht. Für mich ist das, was ich als meins betrachte, so … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Zerbrechlich, vielleicht. So bloß liegend und empfindlich. In jeder Hinsicht. Ich bin nicht in der Lage, das zu teilen, was mir so viel bedeutet. Und wenn mich die Umstände dazu zwingen, will ich gehen und alles hinter mir lassen. Dann ist es für immer zerstört. Wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass es vielleicht schon immer so gewesen ist. Auch bevor es Emma gab. Vielleicht habe ich solche Angst davor, den Kampf um etwas zu verlieren, dass ich es erst gar nicht versuche? Darauf bin ich wirklich nicht stolz, aber wenigstens kann ich es heute so annehmen, ohne Scham oder Schuld zu empfinden.
Ich musste schlucken, aber es half nichts. Die Hitze in meinem Magen erzeugte Übelkeit in mir.
Das junge Mädchen wartete geduldig auf eine Antwort. Meine Gedanken flogen vom großen Schlafzimmer neben dem Esszimmer hinter mir, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss zu den beiden kleinen Schafzimmern dort. Dort wollte ich sie unterbringen. Aber würde es nicht sonderbar wirken, dass ich gar nicht selbst in dem großen Schlafzimmer schlief, es ihr aber nicht anbot? Allerdings würde es bedeuten, ihr auch den größten Teil des Hauses zu überlassen, wenn sie den großen Raum bekäme. Und das lag nicht nur an seiner Größe, sondern auch an seiner Lage. Im Herzen des Hauses. Sie würde dadurch Zutritt zu dem Großteil meines Hauses haben. Mehr, als ich wollte. Es fühlte sich an, als wäre sie schon im Haus und hätte dadurch auch mein Verhältnis zu ihm verändert. Das Unwohlsein nahm zu.
»Wir nehmen den ersten Raum unten«, wies ich das Hausmädchen an, es nickte und verschwand die Treppe hinunter.
Ich ging hoch in den ersten Stock. Die Wohnfläche dort besteht aus einem einzigen Zimmer, einem großen, offenen Raum, in dem Innen und Außen nur durch Glaswände und Schiebetüren voneinander getrennt sind. Mit geöffneten Türen fühlt es sich an, als wäre man draußen, wo kleine Vögel zu Besuch vorbeikommen. Dort hielt ich mich am häufigsten auf. Schlief auf einem der harten Sofas. Aß auf der Dachterrasse, wenn es nicht regnete. Und ich arbeitete dort. Es war ein großes Haus, doch ich benutzte eigentlich nur den oberen Stock. Aber mir gefiel die Gewissheit, die anderen Räume unter mir zu wissen. Sie hatten die Aufgabe eines Puffers gegen die restliche Welt.
Ich trat auf die Dachterrasse, die ich als meinen Garten betrachtete. Meinen ersten eigenen Garten. Genau genommen war es aber nicht viel mehr als ein mit Terrakottaplatten gefliester Bereich mit ein paar Topfpflanzen. Ein Zitronenbaum, ein Limettenbaum, Wein, der langsam an der Steinwand emporkletterte, sowie ein paar rote und rosa Pelargonien. Die große, hochgewachsene Bougainvillea gehörte eigentlich nicht dorthin, obwohl sie eine ganze Ecke mit ihrer violetten Pracht einnahm. Sie hatte ihre Wurzeln unter den Steinplatten auf der Straße, und ich hatte sie darum nie als Objekt meiner Betreuung und Pflege angesehen. Wie sie so groß und üppig hatte werden können, war mir ein Rätsel. Die üppige Blütenpracht überstrahlte die bescheidenen Bemühungen der anderen Gewächse. Von mir wurde sie nie gegossen, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie musste ihre ganz eigene Quelle irgendwo in den Tiefen gefunden haben.
Ich setzte mich und sah hoch in den Himmel, hob die Hand und überprüfte, wie viele Finger zwischen Sonne und Bergkamm passten. Noch mindestens eine Stunde Tageslicht. Es war etwa halb sechs, und der Bus würde erst um acht Uhr kommen. Ich hätte genug Zeit, um meine Gartenarbeit zu beenden, wenn ich sie jetzt in Angriff nahm. Gießen, die trockenen Blätter und Zweige einsammeln, den Boden fegen und die Liegestühle zusammenklappen. Aber ich blieb sitzen.
Ich hörte, wie das Hausmädchen rief und sich verabschiedete, dann die Haustür zufiel und kurz darauf das Gartentor und ihre schnellen federnden Schritte, die langsam verklangen.
Das Haus gehörte wieder mir allein.
Ich stand auf und ging hinunter. In der Küche war es im Gegensatz zu dem gleißenden Licht auf der Dachterrasse ziemlich dunkel. Ich schenkte mir ein Glas Weißwein ein und nahm es mit nach oben.
Nicht nur die Pflanzen benötigten meine Fürsorge, das ganze Haus war ein lebender Organismus, der mich brauchte. Oder war ich es, die das Haus brauchte? Es umarmte mich und beschützte mich. Als würde es in die Sonne wachsen wollen wie die Pflanzen. Ganz unten, wo die Bougainvillea ihre Wurzeln hatte, befand sich mein Schlafzimmer, dort war es immer kühl und halbdunkel, selbst wenn ich die Fensterläden öffnete. Auch in der Küche und im Schlafzimmer im Erdgeschoss war es kühl, sogar an heißen Sommertagen. Und das fand ich tröstlich. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie es im Winter werden würde.
Seit meiner ersten Nacht schlafe ich ohne Gardinen. Ich habe gelernt, die Augen kurz aufzuschlagen und sofort die Tageszeit zu bestimmen. Das gefällt mir gut, und mittlerweile verlasse ich mich viel eher auf mein Ablesen des Sonnenstands als auf eine Uhr. Hier oben habe ich die schönsten Sonnenaufgänge und Sternenhimmel meines Lebens gesehen. Ich werde der Aussicht auf die Meeresbucht niemals müde, deren Wasser ständig die Farben ändert. Die weißen Häuser klettern den steilen Hang hinauf und bilden eine Art Amphitheater. Hinter den Häusern erhebt sich der Bergkamm wie eine beschützende Mauer. Gegen Ende des Tages mochte ich diesen Blick am meisten.
Es sollte mein erstes Jahr im Haus werden. Mein erster Winter hier. Ich hatte meine andere Wohnung aufgegeben, obwohl ich nicht sicher damit rechnen konnte, den Mietvertrag am Ende des Jahres zu verlängern. Oder das Haus eventuell kaufen zu können. Aber ich dachte nicht weiter als bis zum Frühling. Ein Jahr. Neben dem Kamin im Esszimmer lag ein Stapel Holz, darum nahm ich an, dass es ziemlich kalt werden könnte. Aber noch konnte man im Meer baden, und die Sonnenstrahlen wärmten einen.
Ich setzte mich auf die Holzbank an dem langen Tisch und nahm einen Schluck Wein. Ich trank zu viel. Zu viel im Verhältnis zu was? Das Kondenswasser am Glas wurde zu Tropfen, die mir über die Hand liefen. Ich musste mich doch mit niemandem und nichts vergleichen. Solange ich allein in meinem Haus war, waren alle Vergleiche unbedeutend. Es gab keine Bestimmungen, keine Regeln. Ob ich zu viel trank, konnte nur daran bemessen werden, wie es mir ging. Und abgesehen von der brennenden Faust im Magen ging es mir im Großen und Ganzen gut. Ohne Vergleiche. Mir ging es gut damit, ich zu sein. Hier zu sein.
Ich stellte das Glas ab und legte meine Hände auf die Tischplatte. Es waren kräftige Hände, obwohl sie nicht schön waren. Ich hatte nicht die langen, schmalen Finger mit den schön geformten Nägeln geerbt. Auch nicht die schönen, schlanken Beine. Und auch nicht die kleinen Füße. Oder das blonde Haar. Komischerweise hatte mir das nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich es jemals hatte anders haben wollen. Natürlich hatte ich begriffen, dass Emma die Schönheit meiner Mutter geerbt hatte. Das Ätherische. Das Feminine. Eine ansprechende Zerbrechlichkeit, vielleicht sogar Hilflosigkeit. Aber ich konnte mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, dass ich sie darum jemals beneidet hatte.
Am Anfang war ich damit ja auch nicht allein. Da hatte ich Amanda. Ich konnte mich in ihr spiegeln, und mir gefiel, was ich sah.
Emma durfte ihre Schönheit gerne behalten.
Plötzlich packte mich die Angst. Angst? Nein, es war mehr als das. Entsetzen – ja geradezu Panik. Ich nahm schnell noch einen großen Schluck Wein. Vielleicht sollte ich duschen? Mir etwas Sauberes anziehen? Ich sah an mir herunter, musterte mein gestreiftes Baumwollkleid. Ich hatte schon seit Langem aufgehört, meine Kleidung zu bügeln. So wie ich mich von den meisten Routinen verabschiedet hatte, mich frei geschält. Nein, so ganz stimmte das nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der die einfachsten, praktischen Aufgaben unüberwindlich schienen. Damals habe ich das meiste aufgegeben. Losgelassen.
Ich spürte einen kleinen Stich. Undefinierbar. Trauer vielleicht? Bitterkeit? Ich hoffte, dass es nicht Letzteres war. Trauer war in Ordnung. Die unauslöschliche Trauer, die tief in mir überlebt hatte. Mit ihr konnte ich leben. Vielleicht brauchte ich sie sogar, um zu leben. Und dazu gesellte sich die neue, noch nicht verklungene Trauer. Die pflegte ich sorgfältig. Aber Bitterkeit hat mir schon immer Angst eingejagt. Ich betrachtete meine Nägel und konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal lackiert hatte. Oder mich geschminkt. Meine Haare schnitt ich mir selbst, trug sie aber meistens mit einer Klammer im Nacken. Ich öffnete sie und schüttelte meine Haare. Duschen, definitiv.
Noch war genug Zeit.
Mit geschlossenen Augen stand ich unter dem lauwarmen Wasser. Ich konnte mich genau an den Moment erinnern, als er über mich gekommen war. Dieser wahnsinnige Impuls. Ich erinnerte, wie wir zusammenstanden, Emma und ich. Noch waren vereinzelte Gäste da, aber es herrschte allgemeine...