E-Book, Deutsch, Band 2, 672 Seiten
Reihe: William-Sandberg-Serie
Olsson Das Netz
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97352-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 2, 672 Seiten
Reihe: William-Sandberg-Serie
ISBN: 978-3-492-97352-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fredrik T. Olsson, geboren 1969, wuchs an der schwedischen Westküste auf und lebt heute als Schriftsteller und Drehbuchautor in Stockholm. »Der Code«, sein erster Thriller, wird zurzeit in mehr als 25 Sprachen übersetzt, die Filmrechte sind an Warner Bros. verkauft.
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Tage, an denen sich das Leben verändert, beginnen wie alle anderen Tage auch.
Es weckt einen niemand morgens und verkündet einem, dass der heutige Tag ein wenig anstrengend werden könnte und man sich darum eine Extrastulle schmieren und den Kaffee besonders lange genießen sollte, weil es nämlich eine ganze Weile dauern könnte, bis man dazu wieder Gelegenheit hat. Niemand legt seinen Arm um deine Schultern und bereitet dich auf das Kommende vor.
Alles ist so wie immer.
So lange, bis es das nicht mehr ist.
Als die Nachmittagsdämmerung sich an diesem Montag über Stockholm senkte, an diesem 3. Dezember, da wusste niemand, dass die nationale Sicherheitsstufe in aller Verschwiegenheit von »Friedenszeit« auf »erhöhte Gefahr« geändert worden war.
Niemand wusste, dass in dem großen Backsteingebäude im Stadtteil Gärdet Frauen und Männer in Uniformen saßen und das Schlimmste erwarteten.
Und niemand wusste, dass der große Stromausfall, der um exakt sechs Minuten nach vier eintreten sollte, nur der Anfang von etwas viel Größerem war.
Die Männer in dem weißen Lieferwagen auf dem Klarabergsviadukt hatten keine Ahnung, worauf sie warteten.
Das heißt, sie hatten natürlich eine Ahnung, was geschehen sollte, aber sie wussten nicht, auf genau sie warteten. Sie wussten nicht, was er machen würde, wen er treffen würde, wie es im Detail aussehen würde. Und sie wussten nicht, sie dort warten sollten, und das machte ihnen am allermeisten Sorgen.
Die Stille in dem engen Lieferwagen war beklemmend. Von außen sah der Wagen aus wie jeder beliebige Transporter, was selbstverständlich beabsichtigt war, vor langer Zeit war er wahrscheinlich einmal angeschafft worden, weil das Modell als geräumig und großzügig gegolten hatte. Die Meinung darüber hatte sich im Laufe der Zeit diametral geändert. Jemand hatte einem Stab von Technikern viel zu freie Hand gelassen und ein viel zu hohes Budget gezahlt, und jetzt war der Wagen so vollgestopft mit Monitoren und technischen Geräten, dass er nicht wie ein Arbeitsplatz, sondern vielmehr wie das kostspielig ausstaffierte Jungenzimmer im Haus einer außerordentlich beengt lebenden Familie aussah.
Der Raum hinter der Fahrerkabine war auf ein Minimum beschnitten und mit Regalen bestückt worden, die mit Rechnern und Elektronik gefüllt waren. Reihenweise Maschinen, die bestimmt etwas Wichtiges ermittelten, aber eigentlich die meiste Zeit nur rot und grün blinkten. An einer der Seitenwände hingen zwei Reihen mit Flachbildschirmen, und an die Arbeitsfläche, die sich unter diesen Monitoren erstreckte, zwängten sich vier Männer – mindestens zwei zu viel. Die beiden, die an den Tastaturen saßen, waren nicht derselbe Jahrgang, aber unglücklicherweise dieselbe Gewichtsklasse wie die beiden, die hinter ihnen standen und das Kommando hatten: Der eine war der, den alle »Lassie« nannten, sobald er außer Hörweite war, und der andere war der IT-Experte, sehr schweigsam und hoffentlich älter, als er aussah. Sie standen mit gesenkten Köpfen in dem zu niedrigen Innenraum, Schulter an Schulter. Ihre Blicke klebten an den Monitoren.
Der Ältere sah es als Erster.
Zwei Minuten vor der vereinbarten Zeit.
»Was zum Teufel macht er da?«
Seine Stimme war nicht mehr als ein Ausatmen, aber alle hatten ihn gehört, und als sie begriffen, worauf sich seine Äußerung bezog, da konnten sie es ebenfalls sehen.
Vielleicht war es die Art, wie er sich bewegte. Vielleicht die Angestrengtheit seiner Schritte oder etwas ganz anderes. Was auch immer es war, es sorgte dafür, dass eine Welle der Aufmerksamkeit durch den aufgeheizten Raum zog: dieselbe Wachsamkeit, die einen erfasst, wenn man in der Theaterpause im Augenwinkel eine alte Liebe entdeckt, die man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, die aber so sehr aus der Menschenmenge heraussticht, dass man seine Augen nicht von ihr lassen kann.
Dort am Rand des Bildausschnitts. Graublauer Mantel über graublauer Kleidung, verschwommene Kontraste, ähnlich der Bildauflösung insgesamt, die übermittelt wurde von den Überwachungskameras. Aber es gab keinen Zweifel. .
Der Mann zögerte einen kurzen Augenblick vor den Drehtüren am Eingang des Hauptbahnhofs in der Vasagatan. Sah sich um, obwohl er sich gut auskannte, zögerte, bevor er seinen Weg über den graublauen Marmorboden fortsetzte und sich an den anderen graublauen Menschen mit ihren graublauen Reisetaschen vorbeidrängte.
Er hatte sich verändert.
Er rannte nicht, er schlenderte eher. Seine Haare standen in alle Richtungen, als wäre er gerade eben erst aufgestanden, obwohl es schon Nachmittag war. Oder als hätte er dem Wind und der Feuchtigkeit sein Styling überlassen. Er war immer gut angezogen gewesen, scharfzüngig und durchtrainiert, jemand, der bei allen Verwunderung hervorrief, wenn er erzählte, er sei fünfzig geworden – , ein Witz, der sich bei den vergangenen drei Geburtstagen etabliert hatte.
Aber in den letzten drei Monaten schien ihn sein wahres Alter eingeholt zu haben. Und nicht nur das: Es sah aus, als hätte ihn sein Alter überholt, als wäre es rechts an ihm vorbeigezogen. Er sah müde aus, gebrochen und alt, seine Jeans klebte schwer von Schnee an seinen Beinen, und als er sich in der Bahnhofshalle umsah, machte er ruckhafte, vogelartige Bewegungen, seine Konzentration wirkte angestrengt, als könnte sie jederzeit in sich zusammenfallen.
Er tauchte auf den Monitoren auf und verschwand gleich wieder, er war auf dem Weg in die gewölbte Haupthalle, lief an den Wandgemälden vorbei und hinüber zu den neuen Rolltreppen, von denen niemand wusste, warum sie besser sein sollten als die alten.
Es konnte unmöglich er sein, auf den sie warteten.
Aber warum war er dann ausgerechnet jetzt dort?
»Was machen wir?«, fragte das Jungengesicht.
»Wir warten ab«, sagte der, der nicht Lassie hieß.
Und das taten sie dann. Zwei lange Minuten lang wurde in dem weißen Lieferwagen kein einziges Wort gesprochen.
Es war nach wie vor erst sieben Minuten vor vier, als das knallgelbe Taxi an der Vasagatan hielt und William Sandberg in den Schneematsch und die Nachmittagsdunkelheit an diesem Montag entließ. Es war der 3. Dezember.
Dicke Schichten aus dunkelgrauen Wolken hingen wie ein tonnenschwerer Topfdeckel an der Stelle, wo eigentlich der Himmel hätte sein sollen. Die Luft war so feucht, dass die Geräusche von Verkehr und Bauarbeiten zu einem einzigen dumpfen Grollen verschmolzen. Überall in den Straßen kämpften die Baustrahler und Straßenlaternen sich mühsam durch die Feuchtigkeit, an alle Fassaden klammerten sich Baugerüste, als hätte jemand die Stadt mit einer gigantischen Zahnspange versehen, in der Hoffnung, dass sie nun richtig weiterwuchs.
Er war müde. Heute so müde wie gestern und wie vorgestern. Wenn er tiefer in sich hineingehört hätte, wäre ihm auch sein Hunger aufgefallen, aber wenn er sich eine Sache nicht zugestand, dann war es dieses In-sich-Hineinhören. Er hatte damit aufgehört, als er begriff, dass seine Gefühle ihn auffraßen, und zwar buchstäblich: . Sie fraßen ihn von innen auf, mit großen gierigen Bissen. Von dem ursprünglichen William Sandberg waren mindestens zehn Kilo verschwunden.
Er versuchte sich zu konzentrieren. Überquerte den Platz mit großen Schritten und mit so wenig Kontakt wie möglich zu der hauchdünnen Schneedecke, die sich unter seinen Füßen sofort in Wasser verwandelte. Er lief durch die große Haupthalle, in der aus dem Schnee ein spiegelglatter, zimtbrauner Matsch wurde und wo sich der Geruch von Dreck und feuchter Kleidung mit den Gerüchen von superteurem Latte macchiato und dem Atem von Zigtausenden Menschen mischte, die auf dem Heimweg waren.
Aber all das bemerkte William Sandberg nicht. Er nahm weder die Gerüche wahr noch die Hitze auf seinem Gesicht, als der eisige Wind von der Wärme im Inneren des Gebäudes ersetzt wurde, auch nicht die genervten Ellenbogen, die ihn erwischten, als er sich zwischen den Menschen auf seinem Weg zum nördlichen Ausgang hindurchzwängte.
Knapp zwei Wochen waren seit der ersten Mail vergangen, und in exakt sieben Minuten sollte er am Gleis vom Flughafenexpress sein.
, so hatte es in der Mail geheißen.
Das Einzige, was er empfand, war Hoffnung.
Hoffnung und die Angst, die damit einherging.
Er hatte bereits fünf Minuten am Ticketautomaten gestanden, als er begriff, dass er nach der falschen Sache gesucht hatte.
Das Gleis war voller Geschäftsreisender gewesen, die ihre Rollkoffer hinter sich herzogen, Menschen mit leeren Blicken, die tief in ihrem Inneren überwinterten und auf einen Zug warteten, der sie an einen Ort bringen würde, an dem sie auch wieder nicht sein wollten. William hatte nach denen Ausschau gehalten, die eben nicht gesehen werden wollten. Menschen in schmuddeligen Jacken, die schwere, prall gefüllte Plastiktüten herumschleppten und sich mehrere Lagen Schals um den Hals gewickelt hatten, darüber rastlose frierende Augen. Menschen, die sich unter ihrer ausgebeulten Kleidung versteckten, dicke Schutzschichten trugen gegen die Kälte und gegen den Kontakt zum Rest der Welt.
William Sandberg hatte auf diese Menschen...




