E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Olsen / Frey / Holdack Was fehlt
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-3082-9
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unterdrückte Stimmen in der Literatur
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3082-9
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Unverzichtbar für alle, die verstehen wollen, unter welchen Umständen Kunst entsteht oder verhindert wird.« Margaret Atwood
Erstmals auf Deutsch: Anhand verblüffender Aussagen von Schreibenden beleuchtet Tillie Olsen, auf welch vielfältige Weise der schöpferische Geist seit jeher unterdrückt wurde. Neben Schriftstellern wie Melville und Kafka wendet sie sich vor allem Schriftstellerinnen wie Virginia Woolf, Janet Lewis und Ann Petry zu, deren Kräfte in Häuslichkeit und Mutterschaft aufgerieben wurden, deren sexuelle Orientierung oder Hautfarbe zu Ausgrenzung und Isolation führte. Sie öffnet den Blick für jene, die überhaupt keine Sprache finden konnten und einzig als Leerstellen in der Literatur auszumachen sind. Denn erst wenn wir anerkennen, was fehlt, können wir unsere Gesellschaft und die Literatur, die sie hervorbringt, richtig verstehen.
Die Neuentdeckung einer Vorreiterin der emanzipatorischen Literatur - ein Essayband, der eine ganze Generation veränderte
»Tillie Olsens Erzählungen haben mich stark beeinflusst - ihr bahnbrechender Essay über die unterdrückten Stimmen in der Literatur hat mir die Augen geöffnet. Ich las ihn, als ich in den frühen 1970ern in Cambridge lebte, meine kleine Tochter allein aufzog und gerade um mein eigenes Schreiben kämpfte.« Alice Walker, Autorin von »Die Farbe Lila«
»Schreiben, erinnert Olsen ihre Leserschaft, erfordert Zeit, Bildung, Energie und eine wirtschaftliche Basis. All diese Dinge sind ungleich verteilt. Sie ermutigt uns zur Auseinandersetzung mit unorthodoxen Werken, die unter widrigen Umständen geschaffen wurden, und somit zu hinterfragen, was wirklich als Literatur zählt.« The New Yorker
»Tillie Olsen, Tochter von Einwanderern und berufstätige Mutter, musste sich die Zeit zum Schreiben abringen, dennoch gelang ihr ein schmales, dafür umso wirkungsmächtigeres ?uvre, das sich aus ihren persönlichen Erfahrungen speiste.« The New York Times
Tillie Olsen, 1912 in einer russisch-jüdischen Familie im Mittleren Westen der USA geboren, musste als vierfache Mutter ihre fortschrittlichen Ansichten und ihren künstlerischen Ehrgeiz mit Brotarbeit unter einen Hut bringen. Obwohl sie die Highschool ohne Abschluss verlassen hatte, erhielt sie für ihren Erzählungsband Ich steh hier und bügle sowie die hier vorliegenden Essays diverse Auszeichnungen sowie Stipendien, Ehrentitel und Gastprofessuren der großen amerikanischen Universitäten, darunter Stanford, Harvard und Amherst. Sie starb 2007 in Oakland, Kalifornien.
Weitere Infos & Material
Was fehlt?
Zur Aktualität Tillie Olsens
Vorwort von Julia Wolf
In den Tagen und Wochen nach der Geburt meines ersten Kindes wollte ich ständig schreiben. Wann immer es ging, habe ich mir Zettel und Stift geschnappt und drauflosgeschrieben. Es war gar nicht so sehr das Bedürfnis, einen bestimmten Gedanken oder ein bestimmtes Wort festzuhalten, das mich antrieb, sondern die Sehnsucht nach dem Akt des Schreibens an sich. Und nach dem Bild: Da sitze ich und schreibe. Schau nur her, Welt! Das Baby ist da, und ich schreibe immer noch. So groß war meine Angst, dass meine Mutterschaft die Autorin in mir auslöschen könnte.
In den viereinhalb Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich mir bewiesen, dass beides geht: books and babies1. Ich habe Bücher übersetzt, einen Roman geschrieben und Kompliz:innen gefunden, die auch Mütter und Autor:innen sind. Und dennoch überkommt mich in dem Moment, in dem klar wird, dass sich der Wunsch nach einem zweiten Kind zu erfüllen scheint und ich wieder schwanger bin, eine schleichende Panik. Nachts schrecke ich aus dem Schlaf und bin mir plötzlich ganz sicher, einen Fehler zu begehen. Alles, was ich mir als Autorin aufgebaut habe, sehe ich durch dieses zweite Kind bedroht. Plötzlich komme ich mir dumm und naiv vor. War es nicht mit einem Kind schon schwer genug, die Zeit und den Raum für die kreative Arbeit zu finden? Hätte ich aus dieser Erfahrung nicht lernen und mich konsequenterweise gegen ein zweites Kind entscheiden müssen? Erst im Gespräch mit einer Freundin, die auch Mutter und Autorin ist, gelingt es mir, die Panik einzufangen. Ist es nicht verrückt, hält sie meinen Fragen entgegen, dass wir immer das Gefühl haben, etwas aufgeben zu müssen, sei es die Kunst oder die Mutterschaft?
»I lost craziness of endurance«2 – mit dieser lapidaren Feststellung erklärt Tillie Olsen in ihrem bahnbrechenden Essay Silences von 1962 ihr eigenes zeitweiliges Verstummen als Autorin. Mitte der dreißiger Jahre hatte sich die 1912 geborene Tochter russisch-jüdischer Einwanderer bereits einen Namen im amerikanischen Literaturbetrieb gemacht und den Vorschuss für einen Roman kassiert, den sie nie zu Ende schrieb.3 Neben ihrem politischen Engagement in der Kommunistischen Partei und der Arbeiterbewegung sowie den familiären Verpflichtungen (Olsen war damals bereits Mutter einer kleinen Tochter) ließ sie diese erste Chance auf literarischen Ruhm verstreichen. Sie gebar drei weitere Töchter und half unter anderem als Texterin, den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. In den frühen fünfziger Jahren hatte sich außerdem das politische Klima in den USA gewandelt, und Olsen und ihr zweiter Mann Jack mussten in der McCarthy-Ära aufgrund ihrer politischen Aktivitäten die Verfolgung durch den Staat fürchten. Anfangs schrieb Olsen noch in den freien Momenten zwischen Lohn- und Sorgearbeit4, etwa auf den Busfahrten zur Arbeit, aber irgendwann verließ sie schlichtweg die Kraft.
Ich verlor die Verrücktheit, die die Ausdauer verlangte – auch wenn meine Schreib- und Lebensbedingungen andere sind als die von Tillie Olsen in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, hat sich mir dieser Satz eingebrannt. Formuliert er doch genau das, wovor ich Angst habe: Dass ich, wenn die doppelte Belastung durch Sorge- und Lohnarbeit größer wird, womöglich nicht durchhalte als Autorin. Irgendwann keine Kraft mehr für Nachtschichten am Schreibtisch habe oder schlichtweg entscheide, dass der Preis zu hoch ist, und aufhöre zu schreiben.
Nicht nur die Last des Alltags hat Tillie Olsen vom Schreiben abgehalten, auch unter ihrem Mangel an formaler Bildung und dem hohen Anspruch an sich selbst hat sie gelitten – die Autorin, die in den siebziger und achtziger Jahren zu einer der wichtigsten Stimmen der Frauenbewegung wurde, verehrt von berühmten Kolleginnen wie Ursula K. Le Guin, Margaret Atwood und Alice Walker, hatte nie eine Universität oder ein College besucht, selbst die Highschool hatte sie ohne Abschluss abgebrochen. Eine genialische Attitüde wie etwa die von Beat-Schriftsteller Jack Kerouac, von dem es heißt, er habe On the Road in drei Wochen geschrieben, war ihr fremd.
1961 veröffentlichte Olsen dann unter dem Titel Tell Me a Riddle5 vier Geschichten. Diese verschafften ihr große Anerkennung (unter anderem den O. Henry Award), so dass sie in den folgenden Jahren verschiedene Stipendien erhielt und an das renommierte Radcliffe Institute, heute Teil der Harvard University, eingeladen wurde. Endlich hätte sie also die Zeit und den Raum gehabt, ungestört ihren Roman zu schreiben. Doch der Text wollte weiterhin keine rechte Form annehmen, und Olsen las mehr, als dass sie schrieb. Und so entstand während dieser Zeit statt eines Romans ein Vortrag mit dem Titel »Death of the Creative Process«, den Olsen frei anhand einer losen Zettelsammlung hielt. Ihre enge Freundin Anne Sexton tippte die Notizen im Laufe des folgenden Sommers ab, und 1965 veröffentlichte Harper’s Magazine den überarbeiteten Text unter dem Titel Silences. 1974 erschienen die gesammelten Essays von Tillie Olsen unter ebendiesem Titel – der Radcliffe-Vortrag stellt den ersten Teil des Bandes dar (wie auch der vorliegenden deutschen Ausgabe), von nun an überschrieben als Silences in Literature – Das Schweigen in der Literatur.
Olsen nähert sich in ihren Essays dem Leben derer, die zeitweilig oder dauerhaft vom Schreiben abgehalten werden und verstummen – »Leben, die nie zum Schreiben fanden«. Anhand von Tagebucheinträgen, Briefen und literarischen Texten unterschiedlichster Autor:innen stellt sie die Mechanismen des silencing dar, wozu sie auch staatliche Repressionen wie Zensur zählt. Ihr besonderes Interesse gilt jedoch Frauen wie ihr selbst, deren Schreiben durch Mutterschaft und Sorgearbeit verhindert wurde und wird. Sie führt eine lange Liste von Autor:innen an, die nie Kinder hatten, und stellt fest, dass jene, die Kinder bekamen und trotzdem weiterschrieben, meist ökonomisch bessergestellt waren und Haushaltshilfen und Kindermädchen hatten. Unter anderen Bedingungen, so Olsen, seien Mutterschaft und Autor:innenschaft kaum zu vereinbaren.
Vom heutigen Standpunkt aus könnte man versucht sein, Olsens Analysen als historisch abzutun, immerhin sind seit der Erstveröffentlichung sechs Jahrzehnte vergangen, die Rolle von Männern bei der familiären Care-Arbeit beginnt, wenn auch langsam, sich zu wandeln, und es gibt etliche Beispiele von Autor:innen, denen der Spagat zwischen Produktion und Reproduktion durchaus gelingt. Doch meine eingangs geschilderte Panik, die ziemlich unmittelbar nach der Freude über meine erneute Schwangerschaft einsetzte, führte mir anschaulich vor Augen, wie aktuell Olsens Essays nach wie vor sind. Oder, um es mit den Worten der Autorin Mareice Kaiser zu fassen, die vor Kurzem in einem Instagram-Post schrieb: »Beuys sagt: Jeder Mensch ist ein Künstler. Ich sage: Jeder Mensch, der Zeit hat, kann ein Künstler sein. Selbstbestimmte Zeit. Jeder Mensch, der sich Zeit für Kunst nehmen kann, kann ein Künstler sein.«
Auch in anderen Aspekten sind Olsens Analysen erschreckend zeitgemäß. So korrespondiert die Methodik ihres Essays Eine von zwölf: Frauen unter den Schreibenden, ursprünglich von 1971, stark mit der Initiative #vorschauenzählen der Literaturwissenschaftlerinnen Berit Glanz und Nicole Seifert, die anhand der Verlagsvorschauen des Frühjahres 2020 Statistiken zur Sichtbarkeit von Frauen im deutschen Literaturbetrieb erstellt haben.6 Zwar ist die Unterrepräsentation von Frauen in der deutschen Literaturlandschaft bei Weitem nicht mehr so extrem wie von Olsen in den Sechzigern für die amerikanische Literatur beschrieben, dennoch kommt Nicole Seifert in ihrem 2021 erschienenen Buch Frauenliteratur zu dem Schluss: »Je höher das literarische Prestige eines Verlages, desto mehr scheint er auf Männer im Programm zu setzen.«7 Auch in Seiferts Kritik daran, wie Literatur von Frauen oftmals besprochen wird und Themen aus weiblichen Erfahrungswelten abgewertet wurden und werden, hallt...