E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Okparanta / Wussow Unter den Udala Bäumen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-88423-592-8
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Reihe für zeitgenössische Afrikanische Literatur
ISBN: 978-3-88423-592-8
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Coming-out-Geschichte des Mädchens Ijeoma beginnt 1968, ein Jahr nach Beginn des Biafra-Kriegs in Nigeria.
In den Kriegswirren wird die 11-Jährige von ihrer Mutter zu Freunden der Familie geschickt, wo sie Amina kennenlernt, die wie sie alleine ist. Zwischen Ijeoma, einer christlichen Igbo, und Amina, einer muslimischen Hausa, beginnt eine Freundschaft, die zur Leidenschaft wird. Als ihre Beziehung entdeckt wird, lernt Ijeoma einen Teil von sich zu verleugnen.
Chinelo Okparanta wurde in Port Harcourt/ Nigeria geboren. Mit 10 Jahren emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA, wo sie auch studierte. Ihr erster Roman Under the Udala Trees erschien 2015 und war 2017 auf der Shortlist des International Dublin Literary Award. Sie unterrichtet derzeit Kreatives Schreiben an der Bucknell University, Lewisburg/USA.
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Erwachsenwerden ist niemals einfach, doch für Ijeoma gilt das im Besonderen: Es ist das Jahr 1968, ein Jahr nach Beginn des Biafra-Kriegs in Nigeria. In den Kriegswirren wird die 11-Jährige von ihrer Mutter zu Freunden der Familie geschickt, wo sie Amina kennenlernt, die ebenfalls alleine ist. Zwischen den beiden Mädchen, Ijeoma, einer christlichen Igbo, und Amina, einer muslimischen Hausa, entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Als diese entdeckt wird, muss Ijeoma zurück zu ihrer Mutter. Dort lernt sie in der geheimen homosexuellen Szene der Gemeinde erstmals Gleichgesinnte kennen, doch bekommt auch den großen Druck der Gesellschaft zu spüren.
Okparanta stellt einfühlend die Persönlichkeitskonflikte der heranwachsenden Ijeoma dar: ihre lesbische Identität, das Tabu einer Beziehung zwischen Igbo und Hausa und die allgegenwärtige Macht von Kirche und Staat, die Homosexualität als abscheuliches Laster rigoros verfolgen.
1
Zwischen der Old Oba-Nnewi Road und der New Oba-Nnewi Road, in dem Teil von Ojoto zwischen der Kirche und der Grundschule, da, wo die Mmiri John Road aufhört und auf der anderen Seite weitergeht, befand sich unser Haus. Es war zweistöckig und aus Beton, mit gelben Außenwänden, und stand an einem der staubbraunen Wege südlich des River John, in dem Papas Mama als Kind fast ertrunken wäre, damals, als die Leute ihre Wäsche noch auf den Felsen am Ufer gewaschen haben. Unser Grundstück war von einer Mauer umgeben, und rechts und links vom Eingangstor wuchsen dichte Rosen- und Hibiskusbüsche. Sie gingen in zwei grüne Hecken mit unzähligen rosafarbenen Sprenkeln über, kleine sternförmige Ixora- Blüten. Auf dem Weg vor der Hecke standen Straßenhändler und Bäume voller Früchte und Nüsse: Orangen, Guaven, Cashews und Mangos. In den Gräben neben dem Weg, in denen das Gebüsch wucherte wie ein Wald, standen weitere Bäume: riesige Irokos, raschelnde Kiefern und hier und dort ein paar Öl- oder Kokospalmen. Wenn wir ihre Wipfel sehen wollten, mussten wir den Kopf in den Nacken legen. So groß waren die Büsche, so hoch wuchsen die Bäume. In den Monaten, in denen der Harmattan blies, wirbelten Saharawinde den Staub auf, trübten die Luft, brachten die Bäume zum Flimmern und verschleierten die Sonne, die als verschwommene Scheibe am Himmel hing. In der Regenzeit zähmte der Regen den Staub, und alle Dinge waren wieder klar umrissen. Es war der immergleiche Rhythmus: auf die Regenzeit folgte die Trockenzeit, und der Harmattan zwängte sich mitten in die Trockenzeit hinein. Ziegen meckerten. Hunde bellten. Hühner scharrten am Straßenrand, ohne sich allzu weit von dem Grundstück zu entfernen, zu dem sie gehörten. Schwalbenschwänze und Monarchen, Gelblinge und Feuerfalter flatterten von Blüte zu Blüte. Wie die Schmetterlinge hatten auch wir es nicht eilig, wir bewegten uns träge, als wäre die Luft immer lau und die Sonne ein Streicheln auf unserer Haut. Als könnte man beides nur genießen, wenn man sich Zeit ließ. So war es vor dem Krieg: Das Leben nahm gemütlich seinen Lauf. 1967 brach der Krieg über uns herein und breitete sich überall aus. Ein Jahr später bebte Ojoto von den Einschüssen der Panzer und Granatwerfer, und das Grollen der Kampfflugzeuge schickte uns Schockwellen durch den Körper. Ein Jahr später hatten die Männer plötzlich Gewehre um und waren mit Äxten und Macheten bewaffnet, deren Klingen in der Sonne blitzten; an Nachmittagen und Abenden zogen sie alle paar Stunden auf der Straße vorbei, und lauter Gesang schallte aus ihren Kehlen: »Biafra wird siegen!« In diesem zweiten Kriegsjahr – 1968 – schickte Mama mich weg. Die Gespräche über die Feierlichkeiten, die stattfinden würden, wenn Biafra den Krieg gegen Nigeria gewann, waren verstummt. Stattdessen machten sich alle darüber Sorgen, was nach einem Sieg Nigerias aus uns werden würde: Würde man uns aus unseren Häusern jagen und uns unser Land wegnehmen? Würde man uns unterdrücken? Würden die Lebensmittel rationiert werden? Wie lange würden wir Not leiden müssen? Würden wir uns jemals von der Niederlage erholen? Die Leute stellten sich diese Fragen, weil 1968 schon absehbar war, dass Nigeria den Krieg gewann und nichts mehr sein würde wie vorher. Doch es kamen noch ganz andere Veränderungen auf uns zu. Ich kann Aminas und meine Geschichte nicht erzählen, ohne zu erzählen, wie Mama mich von zu Hause weggeschickt hat. Und genauso wenig kann ich erzählen, wie Mama mich von zu Hause weggeschickt hat, ohne zu erzählen, wie Papa sich geweigert hat, mit uns in den Bunker zu kommen. Wenn er sich nicht geweigert hätte, hätte Mama mich bestimmt nicht weggeschickt, und wenn Mama mich nicht weggeschickt hätte, wäre ich Amina nie begegnet. Und wenn ich Amina nicht begegnet wäre, dann gäbe es vielleicht gar keine Geschichte zu erzählen. Deshalb beginnt diese Geschichte noch vor der eigentlichen Geschichte, und zwar am 23. Juni 1968. Ubosi chi ji ehihe jie: Der Tag, an dem die Nacht schon am Nachmittag anbrach, wie es in dem Sprichwort heißt. Oder wie Mama manchmal sagt: Der Tag, an dem die Nacht den Tag besiegte. Der Tag, an dem Papa uns verließ. Es war ein Sonntag, aber wegen des Fliegeralarms waren wir nicht in die Kirche gegangen. Am Abend zuvor war im Radio davor gewarnt worden, dass feindliche Flugzeuge Angriffe fliegen würden, mindestens zwei Tage lang, wie so oft. Da war es das Vernünftigste, zu Hause zu bleiben, hatte Papa gesagt, und Mama stimmte ihm zu. Papa und ich waren im Wohnzimmer, er saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch, die Ellbogen auf den Oberschenkeln, den Kopf auf die Fäuste gestützt. Aus der Küche roch es nach Mamas frittierten Akara, der süßlich-scharfe Duft strömte ins Wohnzimmer. Papa runzelte die Stirn und zog die Nase kraus, als wäre es ein übler Gestank. Neben ihm stand sein Radio, vor ihm lag ein Stapel Zeitungen. Am Morgen hatte er Radio gehört und die Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht, als wäre er schwerhörig. Konzentriert lauschte er den aus dem Lautsprecher schallenden Stimmen von Radio Biafra. Selbst als Mama zu ihm ging und ihn bat, das Radio leiser zu stellen, weil der Lärm unerträglich sei und nicht jeder ständig daran erinnert werden wolle, dass das Land vor die Hunde ging, hatte er sie ignoriert. Jetzt aber lief das Radio so leise, dass nur ein schwaches Knistern zu hören war, es klang ein wenig so, als kratze sich jemand am Arm. Vor dem Krieg hatte Papa sein Grammophon geliebt. Er liebte es so, wie man Dinge liebt, die einem wichtig sind: Bibeln und alte Fotos, Wasser und Luft. Er hatte das Grammophon von seinem Vater geerbt, der im Jahr meiner Geburt gestorben war. Meine anderen Großeltern waren ihm bald gefolgt – im Jahr danach verstarb Papas Mutter, und in den zwei Jahren darauf verlor Mama beide Eltern. Papa und Mama waren Einzelkinder, und sie sagten immer, dass das einer der Gründe war, warum sie sich so sehr liebten: Ihre Familie bestand nur noch aus ihnen beiden, abgesehen von mir natürlich. Aber die Tage, in denen Papa seinem Grammophon zärtliche Blicke zugeworfen hatte, waren vorbei. An diesem Nachmittag saß er da und starrte finster auf das klotzige Ding. Dann wandte er sich den Zeitungen zu, die auf seinem Zeichenpapier lagen: die Ausgaben der Daily Times von einem ganzen Monat, zerknittert und mit Eselsohren. Er nahm eine und begann sie mit sorgenvoller Miene durchzublättern. Ich ging zum Schreibtisch und stellte mich so dicht neben ihn, dass ich seine Pomade aus dem gelb-rotem Glas mit der Aufschrift Morgan’s riechen konnte, das aussah wie ein Medizinfläschchen. Wäre der Krieg doch nur eine Krankheit, gegen die man Medizin schlucken könnte. Papa legte die Zeitung zurück auf den Stapel. Auf der Titelseite prangte in großen Buchstaben: HELFT UNS! Darunter war ein Foto von einem Kind mit aufgedunsenem Bauch und Beinen so dürr wie Stecken zu sehen, ein unterernährtes Mädchen, etwa so alt wie ich. Es war nur irgendein Igbo-Mädchen, aber es hätte genauso gut ich sein können. Papa trug eine seiner weit geschnittenen Kombinationen aus Buba und Sokoto, deren Grün vom vielen Waschen ganz bleich war. Er hob den Blick und schenkte mir ein schwaches Lächeln, aber es wirkte falsch, weil kein Gefühl darin lag. Aber immerhin lächelte er. »Kedu?«, fragte er. Er zog mich in seine Arme, und ich schmiegte mich an ihn, sagte aber nichts, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Wie ging es mir? Ich hätte ihm die Standardantwort geben und einfach »gut« sagen können, aber wie konnte es einem in diesen Tagen gut gehen? Nur wer blind, taub und stumm oder völlig abgestumpft war, dem konnte es angesichts des Krieges und der Bombenangriffe gut gehen. Oder wer schon tot war. Wir schwiegen und bewegten uns nicht, und mir fiel auf, dass er stocksteif dasaß, ohne dass sein Rücken die Stuhllehne berührte. Seine Füße schienen am Boden festzukleben. Er verzog die Lippen, aber nicht zu einem Lächeln, sondern wie ein Kind, das gleich weint. Er öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Am Abend vorher, es war schon spät und ich hätte längst schlafen sollen, hatte ich lange wach gelegen und mich dann hinunter ins Wohnzimmer geschlichen. Als ich mein Zimmer verließ, sah ich, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Auf Zehenspitzen schlich ich auf die leisen Geräusche zu, die aus derselben Richtung kamen. An der dünnen Wand zwischen Esszimmer und Wohnzimmer blieb ich stehen und spähte um die Ecke. Papa saß in derselben Haltung wie jetzt da, auf seinem Stuhl, den Kopf über den...