E-Book, Deutsch, 256 Seiten
O'Farrell Ich bin, ich bin, ich bin
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99104-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Siebzehn Berührungen mit dem Tod
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-492-99104-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maggie O'Farrell, 1972 in Nordirland geboren, zählt zu den wichtigsten irisch-britischen Autorinnen ihrer Generation. Sie wurde mit dem Somerset Maugham Award und dem Costa Book Award ausgezeichnet. Ihr Roman »Judith und Hamnet« gewann den Women's Prize for Fiction 2020, den National Book Critics Circle Award 2020 sowie den British Book Award 2021 für den besten Roman. Auch »Porträt einer Ehe« stand 2023 auf der Shortlist für den Women's Prize for Fiction und war ein Sunday-Times-Bestseller.
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Hals
1990
Hinter einem Felsblock hervor tritt mir ein Mann in den Weg.
Wir stehen, er und ich, am abseitigen Ufer eines dunklen Gebirgssees, der in der Gipfelmulde verborgen liegt. Der Himmel über uns ist milchig blau; in dieser Höhe wächst nichts mehr, sodass wir allein sind mit den Felsen und dem stillen schwarzen Wasser. Breitbeinig steht er da in seinen Bergstiefeln, auf dem schmalen Weg, und er lächelt.
Mir wird mehreres klar. Dass ich ihm vorhin schon begegnet bin, weiter unten im Tal, wo wir uns gegrüßt haben, freundlich, aber kurz, wie unter Wanderern üblich. Dass mich auf diesem abgelegenen Pfad niemand hören wird. Dass er auf mich gewartet haben muss, dass er das Ganze geplant hat, sorgsam, methodisch, und ich ihm in die Falle gegangen bin.
All dies begreife ich in einem Sekundenbruchteil.
Der Tag – ein Tag, an dem ich beinahe sterbe – hat für mich früh begonnen, mit dem Weckerrasseln gleich im ersten Licht. Ich bin in meine Uniform geschlüpft, aus dem Wohnwagen geklettert und leise die Steintreppe in die verlassene Küche hinuntergestiegen, um dort die Öfen, die Kaffeemaschinen, die Toaster einzuschalten, fünf große Brotlaibe aufzuschneiden, die Wasserkessel zu füllen und vierzig Papierservietten zu großblütigen Orchideen zu falten.
Ich bin seit kurzer Zeit achtzehn, und ich habe mich abgeseilt. Von allem: Zuhause, Schule, Eltern, Prüfungen, der Warterei auf die Noten. Ich habe mir einen Job weit weg von allen gesucht, die ich kenne, in einem »ganzheitlichen alternativen Zentrum«, wie es sich nennt, am Fuß eines Berges.
Ich serviere das Frühstück, ich räume das Frühstück ab, ich wische die Tische sauber, ich erinnere die Gäste daran, ihre Schlüssel abzugeben. Ich gehe in ihre Zimmer, ich mache ihre Betten, ich ziehe neue Wäsche auf, schaffe Ordnung. Ich hebe Kleidungsstücke, Handtücher, Bücher, Schuhe, ätherische Öle und Yogamatten vom Boden auf. Und erahne aus den Geschichten, die diese in den Zimmern verstreuten Gegenstände erzählen, wie weit Schein und Sein auseinanderklaffen. Der penible, leicht oberlehrerhafte Herr, für den es immer ein ganz bestimmter Tisch sein muss, eine spezielle Seife, zu hundert Prozent fettfreie Milch, steht auf flauschig weiche Kaschmirsocken und Boxershorts aus üppig gemusterter Seide. Die Frau, die mit hochgeschlossener Bluse, niedergeschlagenen Augen und herauswachsender Dauerwelle beim Abendessen sitzt, hat eine nächtliche Doppelgängerin, die eine Sadomasokluft mit reiterischem Einschlag trägt: Zaumzeug, winzige Ledersättel, eine zierliche, aber gefährlich aussehende silberne Gerte. Im Zimmer der Eheleute aus London, die als Paar so sagenhaft, so beneidenswert perfekt wirken – sich über den Esstisch bei ihren schön manikürten Händen halten, lachend von Spaziergängen durch die Dämmerung zurückkommen, mir ihre Hochzeitsfotos zeigen –, spricht aus allem Trauer, ein verzweifeltes Hoffen. Auf den Ablagen im Bad liegen Teststreifen für den Eisprung. Auf den Nachtkästchen stapeln sich Hormonpräparate. Ich rühre nichts davon an, um zu signalisieren: Ich habe das nicht gesehen, nicht wahrgenommen, ich weiß von nichts.
Den ganzen Vormittag sichte und sortiere und richte ich die Leben anderer. Ich beseitige menschliche Rückstände, tilge jeden Hinweis darauf, dass sie gegessen, geschlafen, gevögelt, gestritten, sich gewaschen, Kleider getragen, Zeitungen gelesen haben, ich putze Haare, Hautschuppen, Bartstoppeln, Blut und Nagelschnipsel weg. Ich wische Staub, zerre den Staubsauger an seiner langen Leine hinter mir her über die Korridore. Und dann, gegen Mittag, bleiben mir mit etwas Glück bis zur Abendschicht vier Stunden, in denen ich tun kann, was ich will.
Also habe ich den Aufstieg zum See gemacht, wie so oft in meiner Mittagspause, nur bin ich heute aus irgendeinem Grund bis zum hinteren Ufer gegangen. Warum? Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht war ich früher als sonst mit der Arbeit fertig, vielleicht haben die Gäste weniger Chaos hinterlassen, sodass ich eher aufbrechen konnte. Vielleicht hat mich der helle Sonnentag von meiner gewohnten Route weggelockt.
Mein bisheriges Leben hat mir keinen Anlass gegeben, der Natur zu misstrauen. Ich habe einen Selbstverteidigungskurs gemacht, im Gemeindezentrum der kleinen schottischen Küstenstadt, in der ich meine Oberschuljahre verbracht habe. Der Lehrer, ein massiger Mann im Judoanzug, malte uns mit schaurigem Gusto die verschiedensten Gefahrensituationen aus. Später Abend, ihr kommt aus einem Pub – unter seinen abnormal buschigen Augenbrauen sah er von einer zur anderen –, und so ein bulliger Typ springt aus einer Seitengasse und packt euch. Oder: Ein enger Gang im Nachtklub, und ein Betrunkener drängt euch an die Wand. Oder: Es ist dunkel, es ist neblig, ihr wartet an der Ampel, und dieser Kerl zerrt an eurer Handtasche und stößt euch zu Boden. Die Gruselszenarien mündeten stets in derselben Frage, die er uns schon fast schadenfroh stellte: Also, was macht ihr?
Und so rammten wir fiktiven Angreifern die Ellbogen in die Gurgel, nicht ohne dabei die Augen zu verdrehen, schließlich waren wir halbwüchsige Mädchen. Wir übten, immer schön abwechselnd, unsere markerschütternden Schreie. Wir beteten pflichtgetreu und genervt die Schwachpunkte des männlichen Körpers herunter: Auge, Nase, Kehle, Weichteile, Knie. Wir hielten uns für bestens gerüstet, jederzeit imstande, es mit dem im Hinterhalt lauernden Unbekannten, dem besoffenen Grapscher, dem Handtaschenräuber aufzunehmen. Wir verließen uns darauf, dass wir es schon schaffen würden, uns aus ihrem Griff zu winden, das Knie hochzureißen, mit den Fingernägeln nach ihren Augen zu stechen; wir würden den Weg aus diesen bedrohlichen und dabei seltsam erregenden Szenarien schon finden, dachten wir. Krach schlagen, die Aufmerksamkeit auf uns ziehen, nach der Polizei schreien – die Botschaft, die wir verinnerlichten, war klar. Seitengasse, Nachtklub, Pub, Bushaltestelle, Ampel: Die Gefahr ging von der Stadt aus. Auf dem Land oder in ländlichen Städtchen wie unserem – wo es keine Nachtklubs gab, keine Seitengassen, nicht einmal eine Ampel – kamen solche Dinge nicht vor. Wir konnten uns frei bewegen.
Und doch steht hier, oben auf dem Berg, dieser Mann und versperrt mir den Weg.
Entscheidend ist jetzt, dass ich den Schein wahre, dass ich meine Angst überspiele. Also gehe ich weiter, setze einen Fuß vor den anderen. Wenn ich mich umdrehe und loslaufe, wird er mich im Nu eingeholt haben, und es ist etwas so Entlarvendes, Endgültiges am Wegrennen. Wegrennen hieße, die Dinge beim Namen zu nennen, die Situation zuzuspitzen. Die einzige Möglichkeit ist, so zu tun, als wäre nichts, als wäre das alles völlig normal.
»So klein ist die Welt«, sagt er zu mir, und sein Blick wandert über mein Gesicht, meinen Körper, meine nackten, schlammverschmierten Beine. Es ist ein Blick, der mehr abschätzend ist als lasziv, mehr berechnend als begehrlich: der Blick eines Mannes, der die Logistik für etwas ausarbeitet, Maß nimmt für die Tat.
Ich kann seinen Blick nicht erwidern, ihn nicht direkt ansehen, aber ich nehme eng stehende Augen wahr, eine beträchtliche Körpergröße, gelblich weiße Vorderzähne, zwei um die Rucksackträger geschlossene Fäuste.
Ich muss mich räuspern, um meine Antwort herauszubringen: »Stimmt.« Ich glaube, ich nicke dazu. Ich schiebe mich seitwärts um ihn herum, und sein Geruch streift mich, ein scharfes Gemisch aus frischem Schweiß, dem Leder seines Rucksacks und einem beißend chemischen Rasieröl, das mir vage vertraut vorkommt.
Ich bin an ihm vorbei, ich lasse ihn zurück, der Weg liegt offen vor mir. Er hat für seinen Hinterhalt den Scheitelpunkt der Tour gewählt, wird mir klar: Bis hier ging es konstant bergauf, auf den nächsten Metern beginne ich meinen Abstieg zum Gästehaus, zu meiner Abendschicht, zur Arbeit, zum Leben. Von jetzt an führt der Weg nur noch talwärts.
Ich versuche einen Schritt anzuschlagen, der selbstsicher ist, entschlossen, aber nicht furchtsam. Ich fürchte mich nicht, das sage ich mir immer wieder, über das brandungsartige Rauschen meines Pulses hinweg. Vielleicht, denke ich, bin ich frei, vielleicht habe ich die Situation fehlgedeutet. Vielleicht ist es ganz normal, jungen Mädchen auf einsamen Bergpfaden aufzulauern und sie dann einfach gehen zu lassen.
Ich bin achtzehn. Gerade eben. Ich weiß so gut wie nichts.
Doch. Dass er hinter mir herkommt, weiß ich. Ich kann das Knirschen seiner Sohlen hören, das Wetzen seiner Hosenbeine – irgendein atmungsaktives Allwettermaterial.
Und da ist er wieder, im Gleichschritt neben mir. Er kommt dicht heran, vertraut, sein Arm an meiner Schulter, als wäre er ein Freund, als wären wir Klassenkameraden, die von der Schule nach Hause gehen.
»Herrliches Wetter«, sagt er und schaut mich dabei an.
Ich halte den Kopf gesenkt. »Ja«, sage ich, »wirklich.«
»Richtig heiß. Ich überlege, ob ich vielleicht schwimmen gehe.«
Er hat eine komische Sprechweise, fällt mir auf, während wir im Sturmschritt den Weg hinabmarschieren. Schleppend, das r weich, das t überhart, sein Ton stumpf, fast ausdruckslos. Vielleicht hat er leicht »einen weg«, wie die Leute sagen – so wie der Mann, der früher in unserer Straße wohnte und seit dem Krieg nichts mehr weggeworfen hatte. Sein Vorgarten war so überwuchert von Efeu, dass es wie beim Dornröschenschloss aussah. Wir Kinder versuchten immer zu raten, was sich unter den Blätterbuckeln verbergen könnte: ein Auto, ein Zaun, ein Motorrad? Der Mann trug Strickmützen und dazu gemusterte Pullunder und zu kleine, vormals »gute« Anzüge mit einem dichten Filz von Katzenhaaren...